24. Februar 2018

Bewegung ist Leben …   -   Jokertrail 2018

Samstag, ca. 8:45 Uhr, im Odenwald, nahe Heidelberg

Das Startsignal löste die Verkrampfung, bescherte mir das Ende der quasi mental vorweg genommenen Froststarre im Kopf. Die Sorge, der Arktis des Tages nicht mit heiler Haut zu entkommen, zerstreute es nicht. Ebenso wenig wie die Drohung eines schmachvollen „DNF“ hinter meinem Namen. Nach nun etwas mehr als einer Stunde Wettkampfdauer liegt unter anderem der erste Steilanstieg, die so genannte „Himmelsleiter“, hinter mir. Ich lebe noch! Und wie! Statt zu bibbern, bin ich gut durchwärmt, schwitze sogar ein wenig. Nur abschnittsweise, immer mal wieder für ein paar Minuten, pfeift mir auf Bergeshöhe eisiger Wind um die Ohren. Alsbald steppe ich leichten Schrittes auf schneebedecktem Pfad talwärts und merke: Furcht - das Wort ist nicht übertrieben - vorm Scheitern mutierte zum Fragezeichen. Eines von gut erträglicher Größe und Präsenz, wie es mir von früheren Unternehmungen her geläufig ist. „Learning by Doing“: Inzwischen habe ich mich auf die (für mich) extremen Verhältnisse eingestellt …

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„Bewegung ist Leben, Stillstand ist Tod.“* - Der Spruch mag dir überzogen vorkommen und spontane gedankliche Gegenwehr provozieren. Natürlich ist er nicht auf meinem Mist gewachsen und bisher hätte ich ihm allenfalls im übertragenen Sinne gehuldigt: Je älter ein Mensch wird, umso wichtiger wird Bewegung, muskuläre Belastung allgemein, um sich die volle Eigenständigkeit bis ins hohe Alter zu bewahren. Also eher im Sinne von: „Wer rastet, der rostet!“

*) „Bewegung ist Leben, Stillstand ist Tod.“ war das Lebensmotto von Mensen Ernst (1795 - 1843), einem norwegischen Schnellläufer, der, geschichtlich verbürgt, auf allen Laufdistanzen unglaubliche Leistungen vollbrachte. Unvorstellbar, vor allem für die Verhältnisse des 19. Jahrhunderts, muten seine Ultraleistungen an. Zum Beispiel die Etappenläufe von Paris nach Moskau (in 14 Tagen) oder von Konstantinopel nach Kalkutta (8.300 km in 59 Tagen).

Vor dem „Jokertrail“, Synonym für 51 Kilo- und 1.900 Höhenmeter, von Heidelberg durch den Odenwald und wieder zurück, schien mir das Motto allerdings im wörtlichen Sinne zutreffend. Tage vorher strotzte die Internetseite des „Jokerstrails“ nur so vor Warnungen und dringlichen Ausrüstungsvorschlägen. Allesamt kreisten sie um die zu erwartenden Bedingungen an diesem Samstag. Von vereisten Pfaden und Steigen war die Rede. Von Temperaturen, die auf den Höhen des Odenwaldes im Windchill unter minus 10°C sinken sollten. Wasser in normalen Trinkflaschen würde in kürzester Zeit gefrieren, deswegen solle man entsprechend vorsorgen. Ich gebe unumwunden zu, dass mir mein ohnehin kälteempfindliches Herz so tief wie noch nie in die Hosen rutschte. Solchermaßen von Panik erfasst hätte ich unter „normalen“ Umständen auf einen Start verzichtet und die nicht eben geringe Startgebühr von 89 Euro in den Wind schießen lassen. Wäre da nicht die vom nicht mehr allzu fernen Saisonziel ausgehende Not reichlich Kilo- und Höhenmeter sammeln zu müssen.

Angesichts von nur drei Verpflegungspunkten (VP) und einer wahrscheinlichen Laufzeit von acht Stunden (plus/minus) war die Mitnahme eines Laufrucksacks obligatorisch. Panische Menschen neigen zu Panikkäufen. Eiligst besorgte ich mir eine schlanke Thermosflasche (0,5 l), um gut temperiert Trinkbares im Laufrucksack bei mir zu haben. Adäquate Bekleidung, von der Sturmhaube, übers Unterhemd mit Angorafasern, bis hin zu Skifäustlingen, um in arktischer Umwelt nicht zu erfrieren, findet sich ausreichend im Schrank. Kopfzerbrechen bereitete mir einzig die Frage, wie umfassend ich den Mummenschanz würde treiben müssen. Angora auf der Haut, darüber ein Fleecehemd und außen die bewährte Goretex-Softshelljacke? Oder reichen vielleicht doch zwei Schichten, zumal bereits kurz nach dem Start die ersten 500 Höhenmeter anstehen würden … Ich brüte bis kurz vorm Start über der bestmöglichen Variante und entscheide mich dann für eine „Light-Version“: Unter der Softshelljacke „lediglich“ Angora, Sturmhaube und Fäustlinge im Rucksack. An deren Stelle ein Schlauchtuch, mit dem ich, wenn nötig, Mund und Nase vorm Wind schützen kann und Fleecehandschuhe. Außerdem habe ich ein warmes Unterhemd zum Wechseln dabei, das Erste-Hilfe-Set und eine Rettungsdecke. Utensilien, von denen ich inständig hoffe, sie nicht zu brauchen. Reichlich Gel ist in diversen Fächern verstaut, in die Thermoskanne ein halber Liter heißes Wasser eingefüllt.

Über das für viele Teilnehmer wahrscheinlich größere Problem, die vereisten Stellen der Strecke, mache ich mir die wenigsten Gedanken. An den Füßen trage ich Icebug-Schuhe mit Spikes, die in nordischen Gefilden für solche Verhältnisse erfunden wurden …

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Warum zum „Jokertrail“? Warum ausgerechnet jetzt eine so harte Aufgabe? - Ich brauche an diesem Wochenende einen mehrstündigen Wettkampf als Fundament für die weiteren Stationen meiner Vorbereitung auf das Saisonziel. Vor allem Höhenmeter suche ich, die meinem Training seit Silvester fehlen. Vorbereitungswettkämpfe in erreichbarer Entfernung, deren Bedingungen „haargenau“ meinem Trainingskonzept entsprächen, sind jedoch Wunschdenken. Zumal im wettkampf-armen Februar. Zum „Jokertrail“ gab es folglich keine Alternative, auch wenn mich 1.900 Höhenmeter heillos überfordern werden. Nach drei Marathons in der Halle und einem weiteren flachen „outdoor“ reise ich ohne Höhenmeter-Gewöhnung nach Heidelberg. Zweierlei steht damit unabweisbar fest: Unabhängig von der Steilheit des Geländes werde ich einen großen Teil der Anstiege gehend bewältigen müssen. Und nach so vielen runterwärts laufend absolvierten Höhenmetern werde ich einen schlimmen Muskelkater mit nach Hause nehmen …

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Samstag 7:30 Uhr, „Kornmarkt“ in Heidelberg

Supergut gelaunt und frieren, das geht für die meisten der etwa 75 Teilnehmer am „Jokertrail“ zusammen. Für mich absolut nicht. Sicher keine überraschende Beichte für jene, die eine der jüngeren Laufreportagen des Winterhassers Udo gelesen haben. Dabei friere ich eigentlich eher im Gemüt als am Körper, denn länger als fünf Minuten stehe ich noch nicht auf dem Kopfsteinpflaster des Kornmarktes zu Heidelberg. Der schwache, rosa Schimmer am Himmel des erwachenden Tages könnte einen ebenso begeistern, wie die prächtigen historischen Fassaden, die das Karree des Kornmarktes bilden. Derart entzückt bewegte man sich ein paar Schritte Richtung Platzmitte, vorbei an der imposanten Madonnenstatue. Drehte sich sodann um 180 Grad, erhöbe sein Haupt und ließe sich vom Anblick der über den Dächern thronenden Heidelberger Schlossruine berauschen. Deutsche Stadt- und Schlossromantik vom Reinsten und Feinsten. Mich streift nicht mal ein Anflug davon. Alles Sehnen richte ich auf das Startkommando, um schnellstmöglich „abzuhaken“ - klingt grässlich, aber so empfinde ich nun mal in diesen Minuten -, wofür ich an den Neckar reiste.

Der Veranstalter betet einmal mehr die Litanei der Einweisung herunter, wie schon gestern Abend anlässlich des offiziellen Briefings. Ich höre zu, weil ich es nicht schaffe wegzuhören und weil zu dieser frühen, tiefgefrorenen Stunde kein Laut den Vortrag überdeckt. Am meisten beeindruckt mich die Warnung vorm Überlaufen der einzigen Ampel: Wer rot sieht und weiterläuft, ist disqualifiziert! Nicht die Drohung lasse ich an mich heran, vielmehr den Gedanken „Ob rot oder grün, wenn ich die Ampel sehe, drüben auf der anderen Neckarseite, vor der Alten Brücke, dann hab ich es überlebt und bin fast schon im Ziel!“

Endlich 7:30 Uhr. Unfeierlich, dafür mit Wünschen für gutes Gelingen, werden wir entlassen. Eine genaue Zeitnahme gibt es ebenso wenig wie Startnummern. Wer das Ziel erreicht, soll sich seine Ankunftszeit merken. Im Wettkampfbüro sodann Namen und Ergebnis (Stunden und volle Minuten) auf einem Zeitkärtchen notieren. So entstehen dem Veranstalter keine Kosten für Startnummern und Zeitmessung, clever eigentlich. Vom Kornmarkt streben wir dem Marktplatz zu, passieren die Heiliggeistkirche und biegen ostwärts in eine der zahlreichen Altstadtgassen ab. Ein paar Minuten flache Wegstrecke zum Einlaufen. Zu wenig, um auch nur ansatzweise warm zu werden. Urplötzlich wendet sich die Route bergwärts, wird überfallartig steil. Vorm Überraschungsmoment und der Wucht eines Überfalls kapitulieren unvorbereitete Zeitgenossen … Ausnahmslos alle in einer langen Reihe vor mir gehen und da soll es ausgerechnet einer der mutmaßlich Ältesten und Schwächsten im Feld laufend versuchen? - Ich käme keine 100 Meter weit, stünde dann schweratmend am Rand und spürte die unsichtbare Missbilligung der Vernünftigen.

Also gehe ich. Zum ersten aber gewiss nicht zum letzten Mal: Wandertag! Der Weg gewinnt über asphaltierte Serpentinen an Höhe. Hoch über mir reckt sich Respekt einflößend die dunkelrote Sandsteinfassade des Schlosses in den dunstigen Himmel. In fette Plünnen ver- und mit prallem Rucksack bepackt, bedrängt von Kälte und Anstrengung, fühle ich mich steif und unbeweglich. Zu dumpfem Brüten bin ich fähig, feinere Regungen bleiben mir verwehrt. Fühle mich nicht mal genervt vom Gehen, nehme es einfach hin. Wahrscheinlich gibt die Furcht zu scheitern das ihre dazu … Über ein paar Stufen kernig empor in den Schlosshof. Der bietet Gelegenheit ein paar Laufschritte zu setzen, 200 Meter weit. Nach spitzer Kehre, auf der nächsten steilen Rampe, stirbt der Laufversuch. Nicht so überraschend wie vorhin unten in der Stadt, aber genauso plötzlich. Um kein Missverständnis zu provozieren: Unter „normalen“ Umständen wäre mir dieser Spazierweg keinesfalls zu steil, um mich verhalten tippelnd vorwärts zu bewegen. Doch heute sind die Umstände subjektiv und objektiv nicht so, dass ich Normalität empfände.

Über behauene, zur Treppe kombinierte Sandsteine betrete ich die „Himmelsleiter“. Die einst vom Volksmund geprägte Bezeichnung hörte ich mehrfach vorab, zudem gibt eine Hinweistafel unmissverständlich Auskunft. Nach ein paar harmloseren Stufen wird rasch klar, dass ich dieses Hindernis unter keinen Umständen laufend überwinden könnte. Zu steil, kompromisslos die Falllinie des Hanges nutzend, schwingt sich die „Himmelsleiter“ empor. Ein paar Meter höher betrete ich erste mit Schnee und blankem Eis verkrustete Stufen. Einige Mitläufer scheren auf querendem Ziehweg aus, um ihre „Laufschuhschneeketten“, die so genannten „Yaktraks“ aufzuziehen. Auf Pressschnee und Eis fehlt mir jegliche Erfahrung. Also taste und teste ich mich vorsichtig voran und bergwärts, prüfe die Rutschhemmung meiner mit Spikes bewehrten Schuhe. Erleichtert und freudig stelle ich fest: Da rutscht überhaupt nix! Sogar auf blankem Eis gewährleisten die über die komplette Sohle verteilten Nägel bombenfesten Halt.

Kein Wind und steil aufwärts, fünf Minuten, zehn, … längst spüre ich die Kälte nicht mehr. Mehr Wärme von innen, als meine textile Rüstung ventilieren könnte. Ergo schwitze ich, aber nicht übermäßig. Als zweites Glied einer Kette von Läufern habe ich einen erträglichen, gleichmäßigen Steigrhythmus gefunden. Die „Himmelsleiter“ scheint kein Ende zu nehmen. Mit Tiefblicken hinunter zum Neckar lohnt der Aufstieg im bewaldeten Hang nur selten. Meist ist sich die Treppe selbst Attraktion genug. Steigen, steigen und … steigen … Ich wüsste nicht zu sagen, wie lange sich schon Stein über Stein erhebt. Kein Zeitgefühl und auf die Uhr blicke ich nicht. Dazu müsste ich den Anzeigemodus meiner GPS-Uhr wechseln, die auf „Track verfolgen“ eingestellt ist.

Zwanzig Minuten nach und 280 Höhenmeter über dem Einstieg zur „Himmelsleiter“ setze ich meinen Fuß auf die letzte Stufe - sagt die nachträglich befragte GPS-Aufzeichnung. Hier und jetzt, auf dem „Königstuhl“, einem der Heidelberger Hausberge, angekommen, hat anderes Priorität. Zum Beispiel der wundervolle Blick von einer Aussichtsterrasse über die entlegeneren Stadtviertel von Heidelberg und hinaus in die Rheinebene. Eine vom Sonnenaufgang in Rottönen getünchte Dunstglocke liegt über der Niederung und begrenzt die Sichtweite. Ob man an klaren Tagen von hier aus den Pfälzerwald gegenüber, am Westrand der Rheinebene, ausmachen kann?

Ich wende mich ab und mache ein paar Schritte auf den Sendeturm zu. Mit Verzögerung fällt der Groschen: Das Gipfelplateau ist nahezu flach! Also löse ich die Bremse und falle in leichten Trab. Alsbald vorbei an der mit Antennen gespickten Sendeanlage und etliche Meter über blankes Eis. Ein „Gletscher“ denke ich unwillkürlich. Okay, nur zentimeterdick, also ein „Mikrogletscher“ … Aus Eis wird knochenhart gefrorener Schnee und dann, mit der Plötzlichkeit eines Peitschenschlages, erwischt mich eine eisige, von Nordosten her wehende Bö. Wind! Den hatte ich nach wärmendem Aufstieg im Windschatten völlig vergessen. Binnen Sekunden beißt mir die arktische Luft ins Gesicht, lässt mich Mund und Nase mit dem Schlauchtuch schützen. Vor nicht allzu langer Zeit war ich noch davon überzeugt mit textil verhüllten Atemwegen nicht ausreichend Luft zu bekommen. Vielleicht ist das so!? Doch welche Alternative hätte ich?

Zunächst auf beinahe flachem, verschneitem Waldweg dahin, alsbald über Wanderpfade abwärts. Auf weiß überdecktem Geläuf bewege ich mich langsam, vorsichtig, sehr kontrolliert, um kein Stolpern oder Wegrutschen zu riskieren. Auf diese Weise hält sich mein Sauerstoffbedarf im Rahmen und die Vermummung stört nicht. In eine windgeschützte Schneise abtauchend kann ich Mund und Nase nach wenigen Minuten wieder vom Tuch befreien. Diese Taktik - Visier schließen, wenn der Wind fegt, Visier wieder runter, wenn er nachlässt - werde ich nun Stund’ um Stund’ praktizieren (und selbstverständlich die hundertfache Erwähnung unterlassen, um meine Leser nicht zu langweilen…).

Dem ersten harschen Anstieg folgt ein zweiter, beide zusammen etwa 900 Höhenmeter, bereits auf den ersten 12 Kilometern. Diesmal keine Treppe, die in den Himmel führt, also nehme ich die moderateren Anstiege laufend unter die Sohlen. Sobald es anstrengender wird, strecke ich jedoch die Waffen und gehe. ‚Du stehst es nicht durch, wenn du versuchst hier zu laufen!’ - Die diesen Gedanken begleitende Drohung des „DNF“ hat einiges an Wahrscheinlichkeit für sich. Jedenfalls für einen unzureichend konditionierten, schwerfällig trottenden, dick verpackten Packesel namens Udo. Andererseits empfindet der Esel „Gehenmüssen“ als Sündenfall, gegen den sein Wille normalerweise eine hohe Barriere errichtet. Ein Wall, der allerdings bröckelt, nachdem es unausweichlich doch geschieht: „Ist der Ruf erst ruiniert, geht es sich ganz ungeniert“.

Dunkles Gehölz mit nackten Ästen, am Boden lebloses Braun verwelkter Blätter, da und dort stumpfes Graugrün einzelner Nadelbäume, dazwischen immer wieder auch Weiß von Schneeresten. Winter bleicht die Farben. Dann übergangslos der Schritt ins Licht! Grandios der Wechsel. Eben noch im tristen Schattenreich, nun umgeben vom leuchtenden Versprechen baldigen Frühlings. Die tief stehende Morgensonne übergießt den Forst mit warmen Farben und taucht den Himmel in kräftiges Blau. „Windchill“ heißt der Effekt, der dich Luft kälter empfinden lässt, als sie ist. Und „Sonnenchill“ nenne ich von heute an diesen Anblick! Er wärmt mir das Herz und lässt es kleine Sprünge vollführen.

Aufwärts über verharschten Schnee, da und dort auch über Blankeisstellen. Der Weg wird flacher und ich jogge zwei zufälligen Begleitern davon. Der GPS-Track führt mich sicher. Dass sich ernsthaft zu verirren ausgeschlossen ist, merke ich als ich vom Weg abkomme. Die meiner Position entsprechende Pfeilspitze hat den Track verlassen, zeigt obendrein von ihm weg. Also etwa 30 Meter zurück, vom breiten, vielfach befahrenen Waldweg auf einen unscheinbaren Pfad abbiegen und erfreut die Wiedervereinigung von Pfeil und Strich registrieren.

Schneisen im Wald erlauben verschiedentlich Tiefblicke ins Neckartal. Mehrere hundert Höhenmeter muss ich nun aufgeben, um ans Ufer des unter Dunst mehr grau als blau dahin fließenden Stromes zu gelangen. Abwärts also, mal in geringem Gefälle, dabei grün bemooste Felshaufen beidseits des Weges passierend. Fiel nicht irgendwann das Wort vom „Felsenmeer“? Die paar Steine als „Meer“ zu deklarieren scheint mir dann doch heillos übertrieben. Durchaus idyllisch anmutend im seitlich einfallenden Sonnenlicht, allerdings kaum mehr als gelegentliche „Felsentümpel“. Werd’ da wohl was verwechselt haben*.

*) Ein als Felsenmeer bezeichnetes Gebiet weist die Karte einige Kilometer vorher aus. Entweder tatsächlich nicht zu sehen, oder von mir übersehen, weil ich den Weg nicht aus den Augen ließ.

Eine Weile traile ich unbeschwert abwärts. Erträglich die Temperatur, sicher mit den Spikes im Boden verankert - entgegen meiner Befürchtungen habe ich alles im Griff. Keine klar formulierte Feststellung, lediglich mein Empfinden in diesen Minuten. Und es hat Folgen. Erstaunt registriere ich eine Regung, die ich an diesem K(-r)ampftag am allerwenigsten erwartet hätte: Ungetrübter Spaß am Laufen! - Ein Gefühl, das sich allerdings nicht bewahren lässt. Zu steil und fordernd jetzt der Trail. So steil, dass meine Oberschenkel erstmals schmerzen. ‚Jetzt schon!? Das kann ja heiter werden!’ - Die Oberschenkel finden auf schmalem, abschüssigem, stark abgeschrägtem Hangweg jammernde Zustimmung. Nun schimpfen auch die Füße lauthals über den knubbeligen, bockhart gefrorenen Boden. Minuten einer Wiedergeburt: Die Sorge zu versagen ist wieder präsent!

Endlich unten, endlich flach, mein Körper bedankt sich beim Streckenplaner für den Bürgersteig zwischen Bundesstraße und Neckar. Streckenänderung! Die infolge Vereisung unsicheren Verhältnisse dort oben in der Bergflanke bescheren mir das trail-freie Flachstück, so ich bei der Einweisung richtig hingehört habe. Ist mir aber gleichgültig. Hauptsache vorankommen und dabei laufen können. Einerlei auch das nervige Vorbeizischen der Autos, der gelegentliche Abgasgestank und das Kratzen meiner Spikes auf betoniertem Boden. Wind weht keiner und die Sonne wärmt mir von hinten die Beine. Ich spüre sogar erste Schweißtropfen, die unterm Angoratextil in Brustmitte perlen.

Rinnender Schweiß erinnert mich daran bald zu trinken. 12 Kilometer und vermutlich zwei Stunden ohne einen Schluck Wasser liegen hinter mir. Jetzt stoppen? Den gerade mit Freuden begrüßten Laufrhythmus neuerlich brechen? - Zwei Mitläufer traben an mir vorbei, wenig später ein weiterer. Dicke Verpackung und Rucksack fesseln mich. Lauftempo limitiert. Wahr oder Trugschluss? - Ich weiß es nicht, spüre aber eine starke Abneigung dagegen schneller zu laufen. Folge stattdessen stoisch trabend dem Flussufer, kratze das Geläuf mit den Sohlen, ertrage das Sssst … Sssst … Sssst … der in schier endloser Folge vorbei donnernden Vehikel.

Ich stelle ein bisschen an meiner Uhr herum, will wissen, wie lange ich schon unterwegs bin. Gut zwei Stunden jetzt, also werde ich die erste Verpflegungsstelle noch unter 2:15 Stunden erreichen. Versehentlich drücke ich einen falschen Knopf und bekomme große Augen: Die Uhr blendet das komplette Streckenprofil ein, wobei der bereits absolvierte Teil dunkel unterlegt ist. Schmerzlich wird mir bewusst, wie wenig ich mein GPS-Helferlein kenne. Auch die weiteren über diese Taste erreichbaren Anzeigen sind mir unbekannt. Und ohne Erläuterung weiß ich auch nichts mit ihnen anzufangen …

Flach ist schön, Sonne ist schön, kein Wind ist schön, Wärme zu spüren ist schön, sogar Schwitzen ist schön … dennoch habe ich inzwischen die Nase voll - was den Geruch angeht, sogar im wahrsten Sinne des Wortes - vom Sausen und Brausen neben mir. Deshalb heiße ich die Wendeltreppe willkommen, die mich vom Neckarufer aufs Niveau der Brücke hievt. Ich wechsele die Uferseite und finde mich im Heidelberger Stadtteil Ziegelhausen wieder. Und wenig später, nach nun 14,5 Kilometern, vor einer Bäckerei, dem ersten Verpflegungspunkt. Ich trinke und spüre erst dabei meinen Durst. Hab heißen Tee im Becher, den ich mit kaltem Iso verdünne. Die Mischung schmeckt … ich finde kein Wort dafür … irgendwie „ungewöhnlich“. Aber egal: Hauptsache warm und nicht zu heiß, infolgedessen ohne Verzögerung schluckbar. Mehrere der Becher mit „ungewöhnlichem“ Geschmack fließen durch meine Kehle, dazu gönne ich mir ein kleines Stück Kuchen und eines meiner Gels (erst das zweite des Tages). Unterdessen gebe ich meinen Namen an, hinter dem in einer Liste ein Haken erscheint. Bald zehn Mitläufer und Mitläuferinnen bevölkern die Tränke und bei einigen gewinne ich den Eindruck, dass sie hier ausgiebig tafeln wollen. Nicht mein Ding: Dafür ist der „Genuss“ zu begrenzt und die noch zu bewältigende Aufgabe zu gewaltig …

… auch wenn der noch ausstehende Cut-Off seinen Schrecken längst eingebüßt hat. Spätestens bis 12 Uhr, mithin nach 4:30 Stunden vom Start an gerechnet, muss ich den zweiten Verpflegungspunkt bei Kilometer 24,5 erreicht haben. Weitere zehn Kilometer, für die mir 2:10 Stunden bleiben. Meistenteils bergan zwar, doch wäre die ausstehende Distanz in dieser Zeit sogar komplett gehend zu bewältigen.

Nach vier, höchstens fünf Minuten Verpflegungspause breche ich wieder auf. Gehend zunächst, um meine Vermummung zurecht zu zupfen, zuletzt die Handschuhe wieder anzuziehen. Dann im Trab, ein Stück zurück, wie der Track es vorgibt, um eine Häuserecke, abschnittsweise sanft bergan und schließlich jäh und brutal ansteigend. Neuerlich: Wandertag! Erst noch im Ort, bald schon im Wald. Mit Blick auf das zurückbleibende Dorf passiere ich ein gewaltiges, bald drei Meter hohes Holzkreuz. Christlich Sakrales wird häufig in mahnendem Gedenken errichtet. Bei entsprechend miserabler Verfassung ließe sich das Kreuz durchaus als schlechtes Omen deuten. Auch mir ist das Kreuz Anlass die Aussichten zu überdenken: Ich liege blendend in der Zeit und fühle mich stark genug für die verbleibende Strecke. Zweifel am Finish hege ich nun keine mehr …

Der Rest ist Wald. Laubwald überwiegend, bisweilen Nadelbäume, hoher Wald, junger Wald, dichter und lichter Wald, mal dunkel, dann wieder mit Sonne geflutet. Schon nach kurzer Zeit rechtfertigt moderater Anstieg kein Gehen mehr. Waldwege und Pfade wechseln sich ab, wie auch schneefreie mit Restschneepassagen. Ich achte kaum noch auf glatte Stellen, fühle mich in meinen Icebugs vollkommen sicher. Einziger Nachteil: Die Schuhe verfügen über wenig Dämpfung und ausnahmslos jeder Zentimeter Boden ist bockhart gefroren. Es wird nicht mehr lange dauern, bis das Fußfleisch zu klagen beginnt. Meine chronisch nervige Achillessehne tut das übrigens schon lange.

Höhepunkte hat die Route zwischen VP1 und VP2 keine zu bieten, von einmal Fernblick über die Höhen des Odenwaldes abgesehen. Im einweisenden Vortrag des Veranstalters war von „Feen und Elfen“ die Rede, deren Anmut uns beglücken sollte. Deren Nähe ahne ich nicht mal in dunkleren Refugien des Forstes. Wie denn auch: Frost und Windchill verbannen Fabelwesen - zumindest aus meinem Kopf. Vermutlich chillt das Heer der Elfen und Feen derzeit irgendwo in der Karibik …

VP 2 „Langer Kirschbaum“ erreiche ich gegen 11:09 Uhr, reichlich 50 Minuten vor dem Cut-Off. Erneut schlucke ich einige Becher Mixtur aus Heiß und Kalt bis mein Durst gestillt ist. Spüle damit zwei Portionen Gel runter und mache mich alsbald wieder auf den Weg. Keine Sekunde zu früh meckern die Hände als ich sie wieder in die Handschuhe stecke. Diesmal dauert es einige Minuten, bis unter heftigem Bewegen der Finger das Gefühl von Wärme zurückkehrt.

Flach dahin oder abwärts, also laufend. Zunächst überhole ich einen Geher, der mir schon vorm Verpflegungspunkt, an dem er nur Sekunden rastete, seine Leidensgeschichte erzählte. In Kurzform: Er würde gerne schneller laufen, ihn plage jedoch eine alte Fußverletzung, die, nachdem er mehrmals mit dem Schuh aneckte, neuerlich akut sei. Ich solle mich von ihm nicht aus dem Rhythmus bringen lassen und weiterjoggen. Eindringlich und wortreich, geradezu wasserfallartig redete er auf mich ein. Das und ein nicht konkret beschreibbarer Unterton ließ mich spontan an eine „Verteidigungsrede“ denken. Tief muss in ihm die „Schmach“ sitzen überholt und von einem zum nächsten, eigentlich unterlegenen Kontrahenten durchgereicht zu werden …

Ich verliere zügig an Höhe und erreiche alsbald den Waldrand. Unterhalb, in einer Mulde, von Wiesen umgeben, liegt das Dorf „Wilhelmsfeld“. So sehr ich die optische Abwechslung nach stundenlangem Waldlauf begrüße, unerbittlich eisig weht mir hier der Nordostwind ins Gesicht. Über einen „Minigletscher“ oberhalb des Dorfes gelange ich zu den ersten Häusern, vor denen mir zwei Mitläufer, Sie und Er, entgegen kommen. Etwas verwirrt studiere ich meinen Track, der mir unmissverständlich bestätigt auf dem richtigen Weg gewesen zu sein. Vielleicht waren die beiden vom Blankeis abgelenkt und haben sich stückweit verlaufen …

Wilhelmsfelds Straßen arbeite ich zunächst talwärts und unüberhörbar ab. Die Spikes schrappen zwar auf Stein und Asphalt, geben aber trotzdem Halt. Am Gegenhang der Mulde wieder hinan und dem grimmigen Wind entgegen. Zuletzt beinahe weglos und supersteil über eine Wiese empor zum Wald, den ich nach schier unerträglichem Wind-Intermezzo nun schon wieder herbeisehne. Das Läuferpaar geht, ich trabe zwischen Wald und Dorf aufwärts, biege allerdings zu früh ab und muss mich nach Wegkorrektur hinter den beiden einreihen. Eigentlich ein guter Zeitpunkt, um meiner Frau Ines einen Zwischenstand zu funken: „29 km“ tippe ich ins WhatsApp-Fenster und registriere zufrieden den Haken hinter meiner Botschaft …

Der Fluch moderner Technik, die genutzt werden will, so man darüber verfügt, manifestiert sich für mich in einem Fleecehandschuh. Und das just in dem Augenblick, da ich ihn wieder über die rechte Hand streifen will und vermisse. Beim Hantieren und Tippen verloren. Hundert mal zwei Extrameter kostet mich das, dazu den Verlust der Sichtverbindung zum Laufpaar. Im Wald aufwärts tippelnd gewinne ich die jedoch bald zurück. Als die beiden halten, um ihre Schuhsohlen fürs Gefecht gegen die nächste „Gletscherpassage“ aufzurüsten, trabe ich wieder vorbei …

Aufwärts im Wald, abwärts im Wald, ich sammele unerwartet rasch Kilometer. Zumindest empfinde ich das so. Ich treffe auf eine Straße und tippele an ihr entlang … sehe dabei allerdings den Pfeil auf der Uhr immer weiter abdriften. Er hält sich dann allerdings parallel zum Track und deshalb vermute ich meinen Fehler unschwierig hinter der nächsten Kurve korrigieren zu können. Alles auf eine Karte gesetzt und … gewonnen! Ein Weg zweigt von der Straße bergwärts ab, der sich nach wenigen Metern mit dem Track vereint. Mich umwendend erkenne ich den Pfad, den ich eigentlich hätte nehmen sollen, wenige Meter oberhalb der Straße im Waldrand verlaufend …

Ich stehe mitten im Wald, auf dem einzigen „Weg“, der mit gutem Willen als solcher zu erkennen ist. Und doch befinde ich mich nicht auf der vom Track vorgezeichneten Route. Die muss irgendwo weiter rechts zwischen den Bäumen verlaufen. Wie kann das sein? - Nirgendwo gab es einen Abzweig, nicht mal ansatzweise etwas, das nach Pfadspur aussah. Ich entscheide mich für querfeldein … oder eher: querwaldein … steige über Windbruch, verrottete Äste, massenhaft welkes Laub, breche durchs Unterholz, umkurve Bäume, bis ich Pfeil und Track wieder zur Deckung gebracht habe. Und was ist hier? - Kann schon sein, dass ein, zwei Exemplare des „Homo sapiens sapiens“ in den letzten 10.000 Jahren diesen „Pfad“ begangen haben. In der Vorzeit vielleicht auf der Flucht vorm Säbelzahntiger. Der Letzte in jüngerer Zeit war wohl der Streckenplaner …

Während ich weiter abwärts trabe und schließlich auf einen Waldweg einschwenke, beklage ich meine totale Abhängigkeit: Ohne diese Elektronik am Arm wäre eine Teilnahme am Lauf nicht möglich. Und sollte das GPS ausfallen, wäre das zumindest das Ende selbstbestimmten Laufens. Ich müsste warten bis ich überholt werde und versuchen mich an die Fersen eines Mitläufers zu heften. Und nun stelle ich die in meinen Augen wichtigste Frage: Sollen so die Trailwettkämpfe der Zukunft aussehen? Laufen im Natürlichen, das ausschließlich auf Basis komplexer Technik, also dem ganz und gar Künstlichen, möglich ist? - Und war es nicht (unter anderem) die totale Unabhängigkeit, die Möglichkeit wann und wo ich will zu laufen, keine Infrastruktur zu benötigen und lediglich ein paar Laufschuhe für die Füße, die meine Begeisterung für diesen Sport einst weckte? Mein Widerwille schmeckt bitter und ich schlucke ihn runter. Doch nach besten Kräften werde ich mich solchem Unfug künftig verweigern.

35 Kilometer und fünf Stunden liegen hinter mir. Oberhalb eines kleinen Weihers stoppe ich an einer Ruhebank, um mich zu verpflegen. Gel und Wasser. Durst spüre ich zwar keinen, doch Vernunft verpflichtet zum Trinken. Auch wenn ich dafür meinen „doof“ konstruierten Laufrucksack ausziehen muss und Zeit verliere. Ich schraube die Thermoskanne auf, gieße mir Wasser ein und stelle erfreut fest, dass es nach gut sieben Stunden immer noch warm durch die Kehle rinnt. Während ich wieder „Laufbereitschaft“ herstelle, überholt mich eine mehrköpfige Gruppe, zu der nun auch das Laufpaar gehört. Überholt zu werden fühlt sich nicht unbedingt gut an, wirklichen Ehrgeiz weckt der Umstand allerdings auch nicht. Nicht unter solchen Bedingungen wie heute und nicht auf inzwischen heftig schmerzenden Füßen …

Auch ohne Ehrgeiz überhole ich die Gruppe kaum einen Kilometer später. Alle gehen, was ich für mich auf moderat ansteigendem, dem Talschluss zustrebendem Weg nicht toleriere. Höchstens noch 15 km bis ins Ziel und es fühlt sich nicht an, als ginge meinen Muskeln bis dahin die Energie aus. Also traben, sanft hinan, langsam aber stetig, weitere zwei Kilometer weit auf gutem Weg durch den Odenwald. Von Zeit zu Zeit prüfe ich die Kongruenz von Pfeil und Track … hier … dann da … und wieder dort. Doch offensichtlich nicht häufig genug. Ein Mitläufer rennt mir wild mit den Armen fuchtelnd entgegen, ist noch etwa hundert Meter entfernt, ruft „Falscher Weg!“ und „Umkehren!“. Meine Uhr pflichtet ihm bei, wenngleich die angezeigte Abweichung nur minimal ausfällt. Ich gehe ein paar Meter zurück … Wo soll hier ein Pfad sein? Hohe Bäume so weit das Auge reicht und vor mir eine Schonung. Dann ist mein „Retter“ heran und mit vier Augen entdecken wir, was 2 x 2 übersahen: Eine Pfadspur, kaum sichtbar, zieht sich durch die Schonung. Während ich mich gehend vorwärts aufwärts arbeite keimt Unmut. Ausgelöst von der Tatsache, dass die Pfadführung aufs Wachstum von Tannenschößlingen jedweder Größe keine Rücksicht nimmt. Will ich da durch, muss ich rücksichtslos zertreten, was mir den Weg verlegt …

Ein gut ausgebauter Weg beendet meinen Ärger und leitet mich voran. Mein „Retter“ blieb in der Schonung zurück, bis ich ihn aus den Augen verlor. War er schon zu sehr entkräftet, um Schritt halten zu können? - Ich trabe zügig dahin und gewinne rasch meinen Laufrhythmus zurück. Einen Kilometer, dann noch einen, bis mich eine Stelle mit Aussicht kurz für ein Foto verweilen lässt. Dann wieder weiter und … ein - ich schwöre es hört sich wirklich so an - „qualvolles Quietschen“ meines GPS-Helferleins schreckt mich auf und vorwurfsvoll glotzt mich das Display an: „Abweichung von der Route!“

Volle vierhundert Meter muss ich zurück, um die Stelle zu finden, wo - wie könnte es anders sein - ein unscheinbarer, wenig benutzter Pfad vom verführerisch eindeutigen, autobahnbreiten Waldweg in spitzem Winkel abzweigt. Und in diesem Akt des Stückes „Jokertrail“ gebe ich die Rolle des „Retters“, bin gerade rechtzeitig zur Stelle, um der „abgehängt“ geglaubten Gruppe den rechten Weg zu weisen.

Am ersehnten letzten VP 3, „Langer Kirschbaum“, war ich vorhin schon. Einen VP für zwei Anläufe zu nutzen spart „Manpower“ und Aufwand. Nicht ungeschickt und einmal mehr frage ich mich, welche Leistungen eigentlich die hohe Startgebühr von 89 Euro rechtfertigen. Aber abwarten, womöglich liegen vorm Ziel rote, mit Goldfäden durchwirkte Teppiche, um uns würdevoll zu empfangen … Ich befülle zur Sicherheit meine Thermoskanne mit Heiß-Kalt-Mixtur, wenngleich ich mir nicht vorstellen kann das Gebräu auf den verbleibenden 10 Kilometern zu brauchen. Sicher ist sicher. Aber Sicherheit kostet Zeit. Dazu kommen das Entfernen eines Steins aus dem linken Schuh und eine WhatsApp an Ines. Deshalb brechen die vorm Verlaufen bewahrten Mitstreiter einige Zeit vor mir auf.

Ein asphaltiertes Sträßchen kurvt flach durch den Wald dahin, bis mich der Track auf einen abzweigenden, unbefestigten Weg zwingt. Durch dunklen Tann komme ich gut voran und den enteilten Mitstreitern wieder näher. Vorbei an Gasthaus und Aussichtsturm auf dem „Weißen Stein“, noch immer ohne erwähnenswerten Höhenunterschied. Doch von nun an geht’s bergab … Minute um Minute auf gutem, dazu breitem Weg. Das Verlaufen vorhin war mir Warnung genug, also kontrolliere ich ständig die Anzeige meiner Uhr, bis ich auf einen wegweisenden Stein treffe. Die eingemeißelte Aufschrift „Sieben_Wege“ weist nicht eigentlich den Weg, sondern auf vielfache Gabelung hin. Und den bisherigen Erfahrungen auf diesem Trail Rechnung tragend heißt das: „Nimm den unscheinbarsten aller möglichen Pfade!“

Dem folge ich und liege goldrichtig. Im Gegensatz zur Läufergruppe, die hundert Meter vor mir, „querwaldein“ aus dem Unterholz bricht und damit die erlaufenen Minuten Vorsprung fast komplett wieder einbüßt. Vom Pfad alsbald auf die nächste Waldautobahn. Weiter moderat hinab, so dass selbst ich lahme Schnecke ordentlich Fahrt mache. Dennoch entfernt sich die Gruppe weiter von mir. Lange laufen kann ich, aber nicht mehr schnell. Schon gar nicht auf so wehen Füßen … Immer wieder der Blick auf den Track … keine Lust auf mehr auf Verlaufen.

Schließlich der erwartete letzte Gegenanstieg. Der dauert zwar nicht sehr lange, ist aber stellenweise steil. Abwechselnd gehe und laufe ich. Die Mitstreiter in Sichtweite gehen ausschließlich, also kratze ich auf meinen Spikes wieder vorbei. Ohne mich allerdings der Illusion hinzugeben, das nicht mehr allzu weit entfernte Ziel vor ihnen zu erreichen. Sobald es wieder „downhill“ geht, werden sie auf agilen, properen Füßchen an mir vorbei springen wie Gazellen durch die Savanne.

Und genauso geschieht es. Vorsichtig, gleichermaßen die kreischenden Füße schonend, wie jedes Sturzrisiko meidend, taste ich mich talwärts. Ein Heer von Steinen und Trittlöchern, teils unter Laub verborgen, bietet der Pfad auf, um Udo vielleicht doch noch zum Fliegen zu animieren. Trittgeräusche hinter meinem Rücken kommen langsam näher. Sie drängen zur Eile und zu weniger kontrolliertem Laufen. Eine unausgesprochene Aufforderung, die wirkt. Als ich es merke, bleibe ich stehen und lasse die Schnelleren vorbei, will und darf kein Risiko eingehen. Immer steiler wird der Weg, immer schwerer lastet das Körpergewicht auf meinen qualvoll aufstöhnenden Oberschenkeln. Sie jammern und sie drohen: „Warte nur! In den nächsten Tagen werden wir dir mit Muskelkater jeden Schritt zur Hölle machen!“

Heidelberg ist schon nahe, als ich dann doch noch die Erde umarme. Allerdings aus dem Stand heraus, beim Versuch in einer steilen, zur Gänze mit welkem Laub aufgefüllten Rinne abzusteigen. Es bleibt beim ersten Schritt, der selbst mit Spikes im zentimeterdicken Laub keinen Halt findet. Kein „klassischer“ Sturz, nicht vornüber segelnd, wohl auch ohne ernstliche Verletzungsgefahr: Wie ein waidwund geschossener Bulle sinke ich zur Seite und rappele mich mühsam wieder auf. Man - genauer: Frau - sorgt sich um mich: „Alles okay?“ Die Fragende beschwichtigend umgehe die Stelle auf griffiger Ausweichroute und habe eine Minute später jede Form der Unebenheit hinter mir. Jedenfalls ist es das, was ich glaube …

Knochenhart gefrorene Erde geht in minimal abschüssigen Asphalt über. Gelegenheit zur Erholung für Oberschenkel und Füße. Meine Augen werden dafür übergangslos und maximal beansprucht: Fantastischer Blick über Heidelberg! Drunten das Häusermeer der Altstadt, davor Fluss und Alte Brücke, auf beinahe gleicher Höhe am Berg gegenüber das Schloss - eine attraktivere Sicht auf die Stadt kann ich mir schwerlich vorstellen. Wettkampf hin, Wettkampf her, eine kleine Pause zum Schauen und für Fotos ist Pflicht.

Ich breche wieder auf und muss wie zuvor zahllosen Spaziergängern ausweichen. Das bleibt auch so, nachdem ich rechtwinklig und steil nach unten vom Panoramaweg abbiege. Mindestens aus jedem zweiten Gesicht blicken mich Mandelaugen an. Erstaunte Augen, die nicht mit meiner verschwitzten, definitiv nicht mehr gut duftenden, sicher ein wenig außerirdisch anmutenden Erscheinung rechneten. So wie meine Füße nicht mehr auf die Tortur gefasst waren, der sie nun auf dem stark abschüssigen Pfad ausgesetzt sind. Altes Kopfsteinplaster gibt der Abteilung Gelenke-Bänder-Sehnen den Rest. Und wo die Folter für Sekunden aussetzt, auf immer wieder integrierten Treppen, nennen mich die Oberschenkel einen Volltrottel. So viele Höhenmeter ohne Vorbereitung!

Trauben von Menschen, in der Mehrzahl anscheinend Touristen, bevölkern diesen Weg der Schmerzen. Kein Zweifel möglich, ich strebe dem Tal auf dem berühmtesten Wanderpfad der Stadt, dem „Philosophenweg“, zu. Als mich der im unteren Teil zwischen Mauern zum Hohlweg gewordene Pfad entlässt, erkenne ich bereits das Neckarufer und die davor verlaufende Straße. Noch bevor ich die ominöse, mit Disqualifikationsdrohung zur Rotlicht-Pflichtpause erhobene Ampel erreiche, kann ich sie hören. Genauer gesagt das rhythmische Klacken, mit dem sie Sehbehinderten „Grün!“ signalisiert. Ich nehme meine Beine in die Hand und flute zusammen mit Heerscharen nachmittäglicher Passanten den Übergang. Glück muss man haben!

Pflichthalt dann doch. Vor der „Alten Brücke“, um das geschichtsträchtige Bauwerk abzulichten. „Nagelneu“ sieht sie zwar nicht aus, dass die Brücke jedoch schon über 200 Jahre den Strom überspannt, scheint kaum vorstellbar. Wiewohl einen der gute Erhaltungsgrad der Altstadt Heidelbergs vielfach in Erstaunen setzt. So wie jetzt mich, als ich die letzten 500 Meter „Jokertrail“ unter die Füße nehme. In Heidelberg, das im Zweiten Weltkrieg kaum Zerstörungen, vor allem kein Bombardement, über sich ergehen lassen musste, bekommst du eine Ahnung von der Pracht, in der andere alte Städte Deutschlands heute noch erstrahlen könnten, wenn nicht … Ich jogge über die Brücke und durchs Brückentor, lasse mich von der sich anschließenden Steingasse zum Marktplatz und von diesem zum Kornmarkt weiterreichen … Vor der Madonnensäule bleibe ich stehen und verewige den Moment meines Erfolges in einem Foto: Madonna, Kornmarkt und über den Dächern der Stadt die Schlossruine …

Im Grunde der Schlusspunkt meines Wettkampfs, auch wenn 50 Meter zum Wettkampfbüro fehlen, wo ich mich um 14:58 Uhr zurückmelde. Nach 7:28 Stunden endet das Leiden meiner Beine. Ich habe mir in voller Absicht zu viel zugemutet. Nicht hinsichtlich der Ausdauer, wohl aber was die muskuläre Belastbarkeit meines Bewegungsapparates, insbesondere bergab, angeht. Doch auch wenn ich die nächsten Tage überwiegend mit Wundenlecken beschäftigt sein werde - ich bin davon überzeugt, dass dieses Opfer auf meinem Weg nach Griechenland erforderlich war …

 

Fazit zum Wettkampf

Die Strecke des „Jokertrails“ bietet einiges an Glanzpunkten. Bei weniger knackigem Frostwetter und eisfreien Wegen hätte ich sicher auch die Waldpassagen mit anderen als vom Wind tränenden Augen betrachtet. Trailspezialisten werden sich vermutlich auch über Passagen freuen, die einen Straßenläufer wie mich eher erschrecken.

Der Lauf war gut vorbereitet. Die (vermutlich bewusste) Panikmache des Veranstalters führte offensichtlich dazu, dass sich alle ausreichend auf die Verhältnisse eingestellt hatten. Auch wenn ich den größten Teil der mitgeschleppten Ausrüstung nicht brauchte, genoss ich doch bei jedem Schritt die Sicherheit sie zur Not dabei zu haben. Höchst dankbar war ich für meine mit Spikes bewehrten Icebug-Schuhe. Dazu ein offenes Wort: Definitiv konnte man 98 Prozent der Strecke ohne Rutschhemmung bewältigen, mit Leichtsinn und viel Glück offenbar auch die restlichen zwei Prozent unfallfrei überleben. Letzteres gilt aber nur für koordinativ äußerst talentierte, ausdauerstarke Läufer. Für mich waren die Spikes eine Lebensversicherung. Da nahm ich das nervige Kratzen auf einigen Kilometern Asphalt gerne in Kauf!

Der Lauf war tatsächlich gut vorbereitet. Am versprochenen Angebot gibt es nicht das Mindeste zu kritisieren. Eher im Gegenteil. Wofür allerdings die horrend hohe Teilnahmegebühr von 89 Euro erhoben wurde, erschließt sich mir nicht. Dem Veranstalter entstanden weder Kosten für Absperrung, noch für Markierungsmaßnahmen. Es waren lediglich zwei Verpflegungspunkte eingerichtet (Nr. 2 und 3, „Langer Kirschbaum“ waren identisch), für die Zeitmessung fielen keine Gebühren an und auch sonst wurden keine Leistungen erbracht, die sich zur entrichteten Summe addieren könnten. Auch wenn ich anerkenne, dass ein kommerzieller Veranstalter Gewinn machen muss, bleibt ein Gefühl von Abzocke. Auch daher mein …

… Fazit: Nur bei fehlender Alternative wieder „Jokertrail“.

 

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