4. Februar 2018

Deswegen darf ich das   -   Thermenmarathon Bad Füssing 2018

„Die Zeit, die ich laufe, spielt keine Rolle für mich. Ganz gleich, wie sehr ich mich anstrenge, ich werde nie mehr so laufen wie früher. Das ist eine Tatsache und die akzeptiere ich. Ich will nicht sagen, dass es mich sonderlich glücklich macht, aber so ist es eben, wenn man älter wird.“

Aus: „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“ von Haruki Murakami

Kann man etwas tun, das zugleich falsch und richtig ist? - An diesem nasskalt grauen, schneeschwangeren Sonntagmorgen in der niederbayerischen Provinz einen Marathon zu laufen ist so eine „Sache“. Wahrscheinlich für keinen der Laufbegeisterten, die mich umringen, wohl aber für mich. Dabei hatte ich mir einen Start hier ganz bewusst offen gehalten. Wollte ihn vom Ausgang des 150 Kilometer-Hallenabenteuers in Senftenberg vor einer Woche und nicht zu hässlichem Wetter abhängig machen. Das Mega-Trainingswochenende ging infolge Infekts den Bach runter, von einem „mageren Marathönchen“ in schlappem Tempo abgesehen. Der Trainingsausfall brachte mich in Zugzwang, beim Thermenmarathon in Bad Füssing* auf jeden Fall anzutreten.

*) Bad Füssing liegt im niederbayerischen Bäderdreieck, im Landkreis Passau, unweit des Inns und damit an der Grenze zu Österreich.

Trainingsausfall zieht den Verlust von Ausdauer nach sich. In meinem Fall ein unerhört rasch voranschreitender Prozess. Ein paar Tage Laufpause genügen, um Reichweite und Tempo merklich zu beschneiden. Also „muss“ ich, obschon Startverzicht vielleicht die gesündere Lösung wäre. Noch immer plagen mich Schluckbeschwerden. Nach drei mit stabiler Leistungsfähigkeit absolvierten Testläufen in dieser Woche gehe ich zwar kein wirkliches Risiko ein. Doch was wird die mit jedem Zug eingeatmete eisige Luft meiner irritierten Rachenschleimhaut antun? Dergleichen Überlegungen lassen nicht mal ansatzweise Raum für Spaß und gute Laune. Eine Laune, die leise rieselnder Schnee und Temperaturen um den Gefrierpunkt deutlich unter denselben drücken …

Ich bin mit mir uneins. Wüsste auf Anhieb einiges, was ich lieber täte, als jetzt im dichten Strom der Läufer den Scheitel dieser Brücke zu erobern und dabei den ersten Kilometer abzuhaken. ‚5:37 Minuten!?? Das ist doch viel zu schnell!’ Fasse den Gedanken, ziehe aber keine Konsequenzen daraus. Irgendwie ist mir heute alles schnurz … wünsche mich nach Hause an den Frühstückstisch, ins Warme ... bin schonungslos ehrlich mit mir selbst …Will mich nicht auch noch belügen, wenn ich mir schon Gewalt antue. Trabe weiter einher, einzig trachtend, niemanden im Dicht-an-dicht ins Gehege zu kommen. Was ich hier mache, ist falsch! Falsch, weil sich zu zwingen die Gefahr birgt zu beschädigen, wofür ich unter normalen Umständen leidenschaftlich brenne, das wunderbare Erlebnis Laufen. Wie oft riet ich anderen zu Laufverzicht, wenn das Verlangen fehlt! Zu Laufverzicht bis die Flamme wieder von selbst auflodert. Mir fehlt derzeit der Spaß an weiten Strecken, weil ich gesundheitlich nicht auf der Höhe bin. Und vor allem, weil der Winter mein Feind ist! Ich laufe trotzdem Marathon und weiter, letzte Woche, heute und demnächst wieder. Im Grundsatz ein Fehler und doch: Ich darf das.

Auch im dicht gestaffelten Feld ist das ungleiche Paar nicht zu übersehen, Anton Luber an der Seite eines mir unbekannten Begleiters. Am kurzen Seilring und mit Bedacht lenkt der Sehende den Blinden über alle Fährnisse. Im Zeitlupentempo ziehe ich vorbei, wundere mich zugleich über das verhaltene Tempo der beiden. In den letzten Jahren war Anton meist schneller als ich unterwegs. Ich wünsche es dem sympathischen Mitläufer von Herzen und muss es aussprechen: „Komm gut an, Anton!“ - Ein kurzer Satz, den er nur mit einem Wort erwidert: „Danke“. Dennoch bin ich sicher, dass er meine Stimme kennt, ihr nun Erinnerungen und einen Namen zuzuordnen versucht.

Die Begegnung mit Anton hilft. Kurz aufflackernde Wiedersehensfreude, die mir den Tag um einiges heller erscheinen lässt. Das Absurde der Situation kommt mir trotzdem nicht in den Sinn. Da treffe ich einen dauerhaft und massiv Gehandicapten in offensichtlich bester Laune an, während mir, dem minimal und kurzfristig Eingeschränkten, die Petersilie komplett verhagelt ist …

Unaufhaltsam, wie ein Lindwurm, wälzt sich der bunte Läufertross durch Füssinger Wohnstraßen, biegt ab, strömt weiter, erreicht einen Radweg, überwindet eine weitere Brücke … Und mittendrin ein Lustloser, zum Bersten gefüllt mit grandiosen Erinnerungen. Nicht einmal meinen griechischen Triumph zu Füßen von König Leonidas muss ich bemühen. So viel Wundervolles durfte ich in Laufschuhen erleben. Da war der berauschende Blick vom Ufer der Elbe hinüber zur wunderschönen Skyline Dresdens, beim für mich schönsten Städtemarathon Deutschlands. Ein anderes Mal die imposanten Bergriesen zwischen Montafon und Arlberg, mit Andacht von weit oben betrachtet. Unterwegs im ursprünglichen Karwendel, auf geheimnisvollen Pfaden durch deutsche Mittelgebirge. Höhepunkte in Rom, Madrid, Prag, Berlin und vielen anderen Städten. Abertausend wunderschöne Momente, Bilder, Begegnungen oder Erfolge könnte ich zitierten, so ich nur danach fischte, im Fundus der vielen Ultras und Marathons. Natürlich kommt mir das nicht in den Sinn. Nicht jetzt und hier, da ich Leistung abrufe und mich der auf meine Sinne eindrängenden nasskalten Witterung erwehre. Und doch trage ich diesen Schatz des Wunderbaren stets bei mir, wie auch die Begeisterung für langes Laufen. Nichts wird je daran etwas ändern, gleichgültig, wie mies ich mich dann und wann in Laufschuhen auch fühlen sollte. Und deswegen darf ich das: Weit laufen, auch wenn ich heute keinen Spaß daran hab …

Der Radweg vermag die Masse Mensch kaum zu fassen. Aufmerksam nach vorn und zur Seite hin sichernd trabe ich vorwärts, komme nur dann und wann in die Verlegenheit überholen zu müssen. Meist klebt mein Blick auf dem nassen Asphaltband, die Umgebung in Augenschein zu nehmen lohnt nicht. Schneeflocken und diesige Luft beschränken den Blick auf nahe, wie mit Puderzucker bestäubte Wiesen und Äcker. - Das zügig an mir vorbei ziehende Trikot kenne ich doch!? Die breite Rückenansicht und den Laufstil ebenso. Für Sekunden beschleunige ich meine Schritte, will dem Mann ins Gesicht sehen. Hole ihn schließlich ein und grüße: „Hallo Ernst! Alles gut verdaut!?“ - Am letzten Wochenende trafen wir uns in der Halle in Senftenberg, wo Ernst Bart genau jenes Programm abspulte, das ich für mich selbst vorgesehen hatte: 100 Kilometer freitags und weitere 50 am Sonntag.

Ernst zieht davon und erst jetzt wird mir klar, weshalb ich mich davon überzeugen musste, ihn tatsächlich vor mir zu haben: Der Hut fehlt heute! Sonst trug er mindestens auf den ersten Kilometern seinen grünen Strohhut. Heute nicht. Vielleicht, weil er „nur“ Marathon läuft, oder, um unter all den Stirnband- und Mützenträgern nicht als Sonderling zu gelten. Ich wusste, dass Ernst die Absicht hatte hier zu laufen, hielt aber nicht Ausschau. Umso größer die Freude ihm begegnet zu sein. Noch mehr Licht im trüben Tag, der sich mysteriöserweise in den folgenden Minuten zum Besseren wendet. Immer weniger Schneeflocken tanzen vor meinen Augen, das Unigrau beginnt sich zu formieren, lässt alsbald die Sonne hinter schmuddelig verwaschenen Wolken ahnen.

Die Wende zum Besseren vollzieht sich nicht nur außen. Es mag an der Begegnung mit Ernst gelegen haben, an der Wetterbesserung, vielleicht an beidem. Auch in meinem Kopf lösen sich die dunklen Wolken langsam auf. Nach und nach kehre ich das Positive in den Vordergrund. Dass ich richtig gekleidet bin, zum Beispiel und deshalb nicht friere. Dass ich heute vollkommen unbelästigt von orthopädischen Nickligkeiten auf den anfänglichen 5, 6, 7, 8 Kilometern unterwegs sein durfte. Allein die Wahrnehmung beschwerdefreien Laufens lohnt die sonstigen Unbilden zu ertragen! Die Gegend geizt in diesen Minuten gleichermaßen mit Liebreiz wie zuvor. Aber nun fokussiere ich mich und vielfach auch meine Kamera auf jede Form der Abwechslung. Weil ich sie sehen und mir nicht länger im Weg stehen will …

Eine kurze Schikane verlegt uns den Weg. Eine knappe Minute hin, Wende und wieder zurück. Offensichtlich bot sich die Stelle an, um ein paar, zum Halbmarathon fehlende Meter zu ergänzen. Als ich zuletzt hier war, vor genau 10 Jahren, war der Halbmarathon als weit ausholende Rundstrecke ausgelegt. Nun besteht er aus zwei ungleich langen, sich kreuzenden und auf den beiden Schlusskilometern überlagernden Runden. Um Marathondistanz zu absolvieren, muss ich folglich viermal das Ziel passieren.

Zwei optische Highlights folgen, zunächst das Hell-Dunkel-Hell eines Fußgängertunnels und Minuten später ein altes Mühlrad. Alles andere als spektakuläre Bilder, dennoch nimmt sie meine Digicam dankbar auf. Dann liegt das Wohnstraßen-Intermezzo auch schon wieder hinter mir. Freier Blick zum Himmel, wo die Sonne leidenschaftlich gegen graue Schwaden um die Vorherrschaft ringt. Inzwischen ist die Wandlung von „Glas-halb-leer“ zu „Glas-halb-voll“ auch in meinem Bewusstsein angekommen. Ich gestehe es mir ein, auch wenn zu wirklichem Laufgenuss noch einiges fehlt. - Der durchgehend asphaltierte Weg erstreckt sich über flaches, landwirtschaftlich genutztes Land. Kaum Bäume oder Hecken. Wie schon vorhin, als noch Schneeflocken wie trunken vom Himmel taumelten, danke ich Petrus für das wenigstens ruhige Winterwetter. So gut wie nirgendwo in diesem flachen Landstrich fände ich Schutz vorm ärgsten Feind des Läufers, dem Wind.

Und nun zurück Richtung Ziel. Zum ersten Mal betreten meine Füße Boden, der bereits vor zehn Jahren zur Strecke gehörte. Vorm Feuerwehrauto links über eine Bodenwelle. Es fühlt sich nicht nur so an, es ist tatsächlich so: Meine Beine erkennen diesen Schlenker wieder. Erste Häuser, hinter denen bereits das Quäken des Lautsprechers zu hören ist. Die führenden Läufer, die bereits die zweite, kürzere Schleife hinter sich haben, preschen vorbei. Ich empfinde keinen Neid, eher ein bisschen Wehmut. Die schnellen Männer erinnern mich an mich. So flott war ich natürlich nie unterwegs, weder hier noch sonst irgendwo, „fegte“ aber vor zehn Jahren immerhin nach 3:15 Stunden durchs Ziel. Letzte Meter vorm Zielbogen, 11 Kilometer gelaufen.

Nun nach links verzweigen, statt wie vorher (und nachher für Halbmarathon zwei) nach rechts abzubiegen. Auch die nächsten, etwa drei Kilometer kenne ich, weil sie damals den Auftakt der Strecke bildeten: Am südlichen Ortsrand von Bad Füssing entlang, schließlich durch den Ortsteil Safferstetten. Dass der so heißt, lese ich auf der Ortstafel. S-a-f-f-e-r-s-t-e-t-t-e-n … der Ortsname bringt im Dickicht meiner Erinnerungen eine Saite zum schwingen. Resonanz, für die es eine einfache Erklärung gibt: Anfang der 1970er Jahre wohnten meine Eltern ganz in der Nähe. In der Ortsmitte von Safferstetten kreuze ich meinen Laufweg von vorhin, um zwei Minuten später neuerlich offenes, von Äckern, Wiesen und seltenen Brachflächen bedecktes Land zu erreichen.

Von gelegentlichen Über- und Unterführungen abgesehen, fehlt der Strecke beinahe jegliches Profil. Ein paar sachte, sich über mehrere hundert Meter erstreckende Bodenwellen modellieren die Landschaft hier, zwischen Kilometer 13 und 14. Wahrscheinlich fallen sie mir jedoch nur deshalb auf, weil der komplette Rest brettflach daherkommt.

Ich behalte meine Laufgeschwindigkeit im Auge. Warum auch nicht, habe wenig mehr als das zu tun. Verglichen mit den in Trübsinn verbrachten Anfangskilometern, habe ich an Fahrt verloren. Aber nicht entscheidend, vielleicht sechs, sieben Sekunden auf den Kilometer gerechnet. Zum Sub4Marathon reicht es nicht, für ein Finish in 4:15 Stunden, mit dem ich hoch zufrieden wäre, bin ich erstaunlicherweise zu flott unterwegs. Allerdings spüre ich die absolvierte Strecke bereits in den Beinen. Kein Zweifel: Bleibt’s dabei, treibe ich mich „hinten raus“ ans Limit. Anfängliche Gleichgültigkeit manövrierte mich in diese Situation. Eigentlich ging ich ohne Ambition in diesen Wettkampf, einzig von der Absicht geleitet durch defensive Tempogestaltung meiner Gesundheit keinen weiteren Schaden zuzufügen. Und nun das. Unschlüssig, was ich mit mir und dem Erreichten anfangen soll, halte ich unverändert Kurs …

Die Strecke schneidet den Ortsteil „Egglfing“. Hier wohnten vor mehr als vierzig Jahren meine Eltern, hier verbrachte ich so manches Wochenende. Was ich damals von der Umgebung sah, war lediglich, was man bei An- und Abfahrt vom Auto aus wahrnehmen konnte. Es waren meine ersten Jahre als Soldat. Ein Lebensabschnitt, in dem mir nie in den Sinn gekommen wäre, mich am Wochenende freiwillig zu „bewegen“. Schon gar nicht aus dem Dorf hinaus, entlang dieses Radweges, der abrupt am Fuß des Inn-Dammes endet. Der Inn. An dieser Stelle, kurz bevor er sich in Passau der Donau ergibt, ein mächtiger Fluss. Allerdings hinterm Damm verborgen, deswegen bekomme ich den Strom auch heute nicht zu sehen. Die Route schlägt einen Haken unter der Straße hindurch und strebt in entgegengesetzter Richtung davon, einmal mehr auf Bad Füssing zu.

Manchmal, vor allem, wenn ich mich wie jetzt laufend bewege, empfinde ich beinahe körperlich Bedauern dies oder jenes in meinem Leben versäumt zu haben. Zog allzu oft immobiles „Dolce Vita“ dem Sehen und Erleben vor. Tatsächlich kam ich zu jener Zeit nicht mal in Ufernähe des Inns, obschon nur gut tausend Schritte davon entfernt wohnend. Spazierengehen? - Allenfalls die Runde ums Haus, aber selten und nur um meine Eltern nicht zu verärgern. Oder für ein kurzes Gassi mit dem Hund. Sport? - Sportspaß gab’s wochentags, in und außer Dienst, mit Kameraden. Sport, das hieß damals für mich Fußball. Laufen? - Einmal im Jahr befahl man uns als Leistungsnachweis entsetzliche zwölf und eine halbe Runde auf der Aschenbahn zu drehen… 5.000 Meter, die mir in der Rückschau hoffnungslos lang vorkommen, länger als der Weg von Athen nach Sparta … Laufen war unangenehme, triste Pflicht, niemals Vergnügen. Im Grunde eines der größten, ungelösten Rätsel meines Lebens: Wie wurde aus einem lauffaulen Jüngling ein Senior, dem keine Strecke zu weit und keine Ausdauermühe zu groß ist, der sich selbst an Tagen auf die Piste schickt, wenn er dazu keine Lust verspürt?

Ein überholendes Duo, der blinde Anton samt Geleitschutz, reißt mich aus meinen Gedanken. Vermutlich klaffte zu keinem Zeitpunkt eine größere Lücke zwischen den beiden und mir. Nun ist reichlich Platz zum Laufen und nun schöpft Anton seine Reserven aus. Es ist mir schon im Grunde meines Herzens einerlei überholt zu werden (meistens jedenfalls). Dass ich einem offensichtlich stärkeren, davon eilenden „Konkurrenten“ jedoch mit stillem Beifall und solcher Sympathie hinterher blicke, ist selten … Wenige Meter hinter Anton und Co. tauche ich in einer Unterführung ab, wende mich dahinter nach rechts und gewinne mühsam wieder Straßenniveau. Die verbleibenden zwei Kilometer, um den ersten Halbmarathon zu vollenden, hatte ich vorhin schon einmal unter den Füßen … Vorm Feuerwehrauto über den asphaltierten Aufschwung nach links, auf die ersten Häuser von Bad Füssing zu. Ich nehme die Parade der Kilometertafeln ab: Vor der Kurve winkt die Zukunft - „31“ und „41“ -, ein paar Meter weiter, hinter der Kurve, grüßen Vergangenheit und Gegenwart - „10“ und „20“ Kilometer.

Vorbei am Beifallstrio, das seine Anfeuerungsrufe mit einer Ratsche und Klappern lärmend unterstreicht. Die drei machen Radau für fünfzig … - Die Frage drängt sich in immer kürzeren Intervallen auf: Weiter so oder langsamer? Inzwischen ringe ich um meine Schritte, längst reihen sie sich nicht mehr in völliger Selbstverständlichkeit aneinander. Ungewiss, ob ich dieses Tempo auf dem zweiten Halbmarathon konservieren kann. Es fühlt sich unmöglich an, was aber nicht heißt, dass es unmöglich ist. Sagt meine Erfahrung. Fest steht allerdings, dass ich die Komfortzone, in der ich lange Läufe üblicherweise absolviere, demnächst verlassen muss, sollte ich den Fuß nicht vom Gaspedal nehmen. Will ich das? Will ich mich schinden? Und wichtiger: Brächte mich der Aufwand meinem Saisonziel näher?

Die letzten Meter des ersten Halbmarathons: Zum zweiten Mal wähle ich die linke Gasse, während rechts von mir, im Zielkanal, ein paar Halbmarathonis ihren Wettkampf im triumphalen Endspurt vollenden. Ich bin ein bisschen erstaunt, wie leicht es mir fällt weiterzulaufen. Mit Leichtigkeit im Kopf, trotz nicht „überspürbarer“ Schwere in den Beinen. Entspringt derlei mentale Souveräntität reiner Gewöhnung? So, wie ich völlig selbstverständlich und vielfach das Haus zum Training verlasse, Müdigkeit, eventuelle Unlust oder miserables Wetter mit nicht mehr als einem Schulterzucken bedenkend?

2:02:30 Stunden sind um, als ich mir Wasser und Gel am Büffet hinter dem Zieleinlauf einverleiben will. Noch immer unschlüssig, ob ich den Marathon am Limit oder demnächst mit angezogener Handbremse fortsetzen soll, beeile ich mich, werde aber vom „Material“ ausgebremst. Eine Geltube will partout ihren Inhalt nicht hergeben. Es dauert einige Sekunden bis ich kapiere, dass man den Verschluss erst abschrauben und dann die Versiegelung entfernen muss. Was ist denn das für ein idiotisches Produkt? Mit Handschuh bewehrten Händen nestele ich an der winzigen Lasche der Versiegelung herum, bekomme sie so natürlich nicht zu fassen. Inzwischen werden die Damen von der Verpflegungsstelle auf mich aufmerksam: „Die Tube ist aber nicht von hier!? Wir haben unsere alle geöffnet!!“ Tatsächlich habe ich die Geltube an einem der anderen Büffets eingesteckt … Also runter damit, Wasser hinterher und weiter … Weiter aber nicht weit, weil die Blase schon eine Weile drückt und mich der Gedanke „Das ist jetzt auch schon egal …“ nun endlich in die Büsche zwingt.

Die nächste Kilometeranzeige meines unbestechlichen GPS-Knechtes präsentiert mir die Quittung: Volle zwei Minuten verstrichen während Ver- und Entsorgung. Etwa 6 Sekunden müsste ich pro Kilometer im zweiten Umlauf aufholen, um diese Scharte wieder auszuwetzen … Streng logisch betrachtet ein Umstand ohne jede Bedeutung. Ich trainiere hier lediglich einen „langen Lauf“. Andererseits gehört das Ringen gegen die Uhr mit zum „Spiel“. Zeitziele formulieren, in Teilziele zerlegen, deren schrittweise Erreichung kontrollieren und Motivation daraus ableiten.

Gähnende Leere auf der Strecke, vor und hinter der Brücke, auf dem Radweg entlang der Umgehungsstraße. Nun fehlen die Halbmarathonis. War dieser Abschnitt vorhin auch schon so elend lang? - Immerhin gibt sich der Himmel nun zunehmend freundlicher. Viel Blau zwischen merkwürdig zerrissenen, in allen Richtungen ausfransenden, sich örtlich aber immer noch düster ballenden Wolken. Kilometer 24, 25, 26 … inzwischen bin ich entschlossen die schnelle Variante zu versuchen. Auf der Basis gewissenhaften Abwägens, vor allem jedoch, weil mich ein scharf gelaufener Marathon wieder in die Spur bringen und verlorenes Trainingsterrain zurück erobern könnte.

Schikane menschenleer, 100 Meter hin und wieder zurück, Unterführung, Dorfstraße, Mühlrad, Dorfende und neuerlich Felder links, wie rechts. Die stete Kontrolle meiner Zwischenzeiten lässt Rückschlüsse auf Genauigkeiten zu. Sowohl derjenigen der aufgestellten Kilometertafeln, als auch der meiner neuen GPS-Uhr innewohnenden Präzision. Tatsächlich bietet mir dieser Marathon die erste echte Gelegenheit die Messgenauigkeit meiner Ambit3 von Suunto zu taxieren. Auf flacher Strecke, ohne Hindernisse, die den Empfang des GPS-Signals stören könnten. Ein Messfehler, wie groß er auch immer sein mag, bleibt konstant. Insofern steht fest, dass einige der aufgepflanzten Kilometertafeln ungenau stehen, manche zu früh, andere zu spät. Ich erinnere mich lebhaft an die Unerträglichkeit solcher Toleranzen, wenn ich mein Tempo an den Tafeln ausrichtete und Korrekturen vornahm, wo gar keine nötig waren. Begeisterung entfacht dagegen mein Suunto-GPS-Helferlein, das vorhin beim Zieldurchlauf den Halbmarathon unerwartet präzise anzeigte*.

*) Abweichung lediglich etwa minus 50 m, kompletter Marathon ca. minus 100 m, also 42,1 km.

Zeit vergeht, ich trete Meter um Meter Strecke mit schweren Füßen. Meist blicke ich auf einen Punkt drei Meter vor mir. Gedanken tröpfeln durch meine Gehirnwindungen, beschäftigen mich, hinterlassen jedoch kein Echo … Woran ich denke? - Keine Ahnung. Vergessen. Nichts von Bedeutung. Nur selten schieße ich noch Fotos, allenfalls wenn die ständig wechselnden Lichtverhältnisse als Folge des noch immer „unaufgeräumten“ Himmels, eine Szene spannend erscheinen lassen. Im Bild selbst bildet sich das in aller Regel nicht ab. Die Kameralinse definiert Spannung anders als menschliche Augen und Wahrnehmung.

Dritte Zielpassage, ein letztes Mal vorbei am Zielkanal, noch 10 Kilometer. Meine Füße tun weh, die Gesäßmuskulatur klagt ebenfalls. Beides Ursache ungewohnt hoher Belastung, also völlig normal. Ich will nicht sagen, dass ich diese Schmerzen begrüße. Was mich freut und mit Zuversicht erfüllt, ist, dass diese Schmerzen auf das hinweisen, was mir heute NICHT wehtut: Kein Pieps von der Achillessehne, kein Ziehen in der Wade, nichts von dem, was mich seit Monaten bedrängt. Auch dieser Umstand war mir vorhin Rechtfertigung, das für meine Verhältnisse harte Tempo zu halten.

Noch acht Kilometer, dann sieben. Auf weitgehend „entvölkerter“ Strecke überhole ich dann und wann Kontrahenten, die ihre Ausdauer überschätzt haben. Wie immer, wenn ich selbst im letzten Streckenviertel nicht einbreche. Seltsamerweise nähern sich aber auch immer wieder einmal Schritte von hinten. Was mich wundert ist nicht die Tatsache an sich, sondern das Tempo mit dem diese Leute enteilen. Als hätten sie sich für die letzten Kilometer aufgespart!?

Zum zweiten Mal durch Egglfing und wieder hinaus, südwärts Richtung Inn-Damm, vier Kilometer bis ins Ziel. Es tut weh, aber ich beiße mich durch. „Durchbeißen“ verlangt die beinahe völlige Fokussierung des Geistes. Alle Kraft in den Willen lenken. Den Willen nicht nachzulassen, den Widerstand des Körpers bei jedem Schritt zu überwinden. Wahrnehmung und Denken unwichtig. In solcher Bedrängnis ertappe ich mich manchmal bei gedanklichem „Brabbeln“. Unzusammenhängende, von keiner Logik befruchtete Wortfetzen, wie aus dem Mund eines Babys, irrlichtern durch den Kopf. Dazu ein wenig Automatismus, um den Weg zu finden, vielleicht ein unhörbar gemurmeltes Mantra … Nicht mehr weit. Gleich hast du’s geschafft! Nicht mehr weit … nicht mehr weit … nicht mehr weit …

Feuerwehrauto, links ab, Bodenwelle, auf die Tafel mit der „41“ zu und diesmal gilt sie! Letzter Kilometer, Blick zur Uhr … Unter 4:10 Stunden ist möglich und damit als finale Forderung gesetzt!! Ich lege ein paar Kohlen nach, werde schneller … Verstandesmäßig ist solches Verhalten nicht zu erfassen. Wüsste auch sonst keinen Weg es dir zu erklären: Ich will diese Schlussoffensive, brauche sie in gewisser Weise auch. Mich ans Limit zu treiben entspricht meiner Natur, ist Teil meiner Art zu laufen. Mich herausfordern und die Herausforderung annehmen. Warum auch nicht? Noch dreihundert Meter, hundert und dann, nach 4:09:07 Stunden ist es geschafft!

---

Schlussendlich bin ich zufrieden und mit allem versöhnt. Wie übel begann der Tag, wie groß war meine Abneigung vor ein paar Stunden überhaupt zu laufen. Nun beende ich den Wettkampf mit einem unerwartet guten Ergebnis und in bester Laune. Das Glück des Marathonläufers. Was will ich mehr?

„Es hat keinen Sinn, mit der Zeit um die Wette zu laufen. Von nun an wird es von weit größerer Bedeutung für mich sein, die 42 Kilometer zu meiner Zufriedenheit zu vollenden und Freude daran zu haben. Dinge, an denen ich mich freue und die ich schätze, drücken sich nicht in Zahlen aus. Und ich werde mich nach einem Stolz umsehen, der sich aus einer etwas anderen Quelle speist als der bisherige.“

Aus: „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“ von Haruki Murakami,

 

Fazit zur Veranstaltung

Die Strecke des Thermenmarathon ist flach und damit schnell. Anfang Februar muss man allerdings mit winterlichen Bedingungen rechnen, die persönliche Bestzeiten dann doch nicht zulassen. Spektakuläres hat der Kurs nicht zu bieten, da und dort ein paar reizvolle Weitblicke, mehr nicht.

Die Organisation zeigte sich trotz des Ansturms von beinahe 2.000 Teilnehmern in Marathon, Halbmarathon und 10 km-Lauf auf engstem Raum allen Anforderungen gewachsen. Note sehr gut!

Fazit: Nach spontaner Anmeldung, angesichts erträglicher Witterung, durchaus mal wieder!

 

Wir über uns Gästebuch Trekkingseiten Ines' Seite Haftung
logo-links logo-rechts

zum Seitenanfang