28. Januar 2018

Redensarten   -   Hallenmarathon Senftenberg 2018

Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. - Geplant war eine läuferische Härteübung: 100 Kilometer am Freitag, dann ein Ruhetag und, um das Wochenende sozusagen abzurunden, 50 weitere Kilometer am Sonntag. Und das in einer Halle … Gelobt sei, was hart macht! Vielleicht gönnten mir die Götter des Laufsports die innere Läuterung infolge solcher Selbstgeißelung nicht. Oder - und an diese Version will ich glauben, weil mein Opfer dann wenigstens einen Sinn ergibt - die höheren Mächte wollten mich vor mir selber schützen.

Vorgeschichte(-n) … oder: Die Leistung der anderen

Wie auch immer: Ab Dienstag kratzte es im Hals! Natürlich zog ich sofort die Notbremse, bewegte meinen Hintern nur noch von der Stelle, um Pflichten und dringende Obliegenheiten zu erfüllen, lief seither keinen Meter mehr. Zwei fest eingeplante Einheiten Krafttraining fielen ebenfalls dem Rotstift zum Opfer. Die Viren werkelten Stund’ um Stund’ eifrig vor sich hin, konnten mein Immunsystem indes nicht vollends abschießen. Donnerstag, auf der Fahrt nach Senftenberg, empfand ich eine Art Pattsituation: Viren und Antikörper standen sich im Grabenkrieg gegenüber. Mir graute vor der anstehenden Entscheidung. To be or not to be - Laufen will ich, zum Nichtlaufen müsste ich mich unter Aufbietung aller mentalen Kräfte erst durchringen. Die Nacht zum Freitag nahm mir jedoch die Entscheidung ab. Schweißausbrüche, Kopfschmerzen, rabiate Halsschmerzen, ständiges Aufwachen. Kein rational handelnder Läufer stellt sich unter solchen Vorzeichen an die Startlinie eines 100 km-Laufes! Nicht einmal auf Marathondistanz hätte ich mich an diesem Morgen gewagt, wenngleich unter Ultraläufern der Spruch kursiert „Ein Marathon geht immer!“

Das (Läufer-) Leben ist kein Wunschkonzert - also schonte ich mich und feuerte mit Gesten die anderen 100 Kilometer-Läufer an. Mit Gesten, weil auch die Stimme den Attacken der Viren zum Opfer gefallen war. Immer wieder suchte ich in Gedanken nach Gründen für den merkwürdigen Verlauf meines Infekts. Bisher war ich gewohnt ohnehin höchst seltene Erkältungen mit radikalem Laufverzicht in ihren Anfängen stoppen zu können. Vielleicht fing ich mir den Mist am letzten Wochenende in Budweis ein. Einen Virenstamm, dessen Genmaterial von dem, was meine Körperabwehr kennt, stark abweicht. Kann sein, muss aber nicht …

Freunden und Bekannten beim 100 Kilometer-Laufen von außen zusehen zu müssen zerreißt einen Ultra. Freude über die Leistung der anderen und Selbstmitleid lagen im ständigen Widerstreit. Dabei geht es nicht um das entgangene 100 Kilometer-Vergnügen allein: Das „Hammer-Senftenberg-Wochenende“ sollte ein Meilenstein auf dem Weg zum diesjährigen Saisonhöhepunkt „Olympian Race“ in Griechenland (180 km, 3.500 Höhenmeter) werden. Übrigens auch für meinen Freund Mike Hausdorf, den ich nun, anstelle selbst zu kreiseln, ein wenig unterstützen durfte. Meine Gunst in Form vielfachen Klatschens, eines unzählige Male gegen das Hallendach gereckten Daumens und weiterer Gebärden ließ ich allerdings auch anderen Bekannten zuteil werden.

Aus den Gesichtern von Matthias Landwehr, Gunnar Schad und Roland Krauss grüßte mich der Spartathlon. Bernhard Munz, der pfeilschnelle Allgäuer, erwies mir den Dienst mich von zu Hause nach Senftenberg und wieder zurück zu chauffieren. Dann war da noch eine Gruppe dreier laufverrückter Österreicher, von denen ich Ernst Bart und Magdalena Dekovska anlässlich diverser Veranstaltungen, vor allem in unserem südlichen Nachbarland, bereits kannte. Völlig überraschend und zu meiner großen Freude - manchmal wäre es hilfreich vorab ein wenig in der Startliste zu schmökern - stand plötzlich Ramin Madani vor mir, der mich im letzten November auf dem „Rössleweg“ rund um Stuttgart begleitet hatte.

Nach phänomenalem Lauf in 10:41:06 Stunden gingen Mike Hausdorf als Finisher und Udo als sein größter Fan in den samstäglichen Ruhetag. Die Hoffnung stirbt zuletzt! Eine über Nacht eintretende Besserung aller Beschwerden nährte meine Zuversicht wenigstens den sonntäglichen Lauf bestreiten zu können. Demut konnte in meiner Situation nicht schaden, denn allzu straff gespannt, zerspringt der Bogen: Falls ich anträte, wollte ich von 50 Kilometern auf den zeitgleich stattfindenden Marathon ummelden. Weniger Strecke sollte helfen die erwartbaren physischen Einschränkungen zu kompensieren. Immerhin war ich volle fünf Tage keinen Meter gelaufen, was mir erfahrungsgemäß einen spürbaren Ausdauerverlust einträgt. Und vermutlich wäre ich auch erkältungsbedingt noch ein Schatten meiner selbst. Ein zusätzliches Acht-Kilometer-Opfer, um an diesem Wochenende möglichst wenig Federn lassen zu müssen

Ein von keines Menschen Geist bezifferbares Restrisiko würde dennoch bleiben - zu lange und eingehend hatte ich mich mit den medizinischen und physiologischen Grundlagen des Laufsports beschäftigt, um in dieser Hinsicht Unwissenheit vorschützen zu können. Mehrfach vor Zeugen verpflichtete ich mich daher der Absicht den anstehenden Marathon keinesfalls unter 4:30 h zu finishen!! Die Temporeduzierung sollte mir helfen mit meinem Energievorrat besser hauszuhalten, vor allem aber die Herzfrequenz niedriger als üblich zu halten. Je niedriger die Herzfrequenz, umso weniger Unheil vermögen in der Blutbahn verbliebene Viren anzurichten …

Sonntagmorgen 5:50 Uhr

Ich fühle mich ausgeschlafen und bei Kräften, obwohl ich durchaus schon bessere Nächte erlebte. Heiser bin ich immer noch. Zum Laufen brauche ich allerdings keine Stimme, dafür belastbare Beine und die attestiere ich mir ohne Einschränkung. In diesem Zusammenhang scheint mir der Hinweis angebracht, dass die Tatsache, an keinem der kränklichen Vortage körperliche Schwäche gefühlt zu haben, meine Entscheidung zum Marathon anzutreten maßgeblich beeinflusst hat.

Sonntagmorgen 7:58 Uhr

Noch ein Foto Arm in Arm mit Mike, dann beginnt der Countdown und der Starter schickt uns in den unablässigen Orbit. Ein Orbit in der Leichtathletikhalle zu Senftenberg, der zunächst kurz skizziert werden soll:

Was von den Außenwahrnehmungen nicht gebraucht wird, um jeweils sicher einen Fuß vor den nächsten zu setzen, blende ich anfangs aus. Noch intensiver als sonst, als ich mein Augenmerk hauptsächlich auf die Reaktion der Achillessehne richtete, lausche ich nach innen, um kein Warnsignal meines Körpers zu überhören. Was ich spüre, vergleiche ich mit dem Auftakt-Laufgefühl unter normalen, gesunden Umständen. Alles wie sonst? - Die Hallenatmosphäre verfremdet meine Wahrnehmungen ein wenig, auch die inneren, aber … ja, doch, … alles fühlt sich an wie sonst. Eine Runde zum Reinrollen, eine weitere, alsbald drei …

Keine drei Runden vergehen indes, da flitzen auch schon die Spitzen der beiden Bewerbe Marathon und 50 Kilometer das erste Mal an mir vorbei. Unter ihnen auch Bernhard Munz, „mein“ Fahrer, der nach seinem vierten Platz im 100 Kilometer-Lauf (8:51:09 Stunden) heute schon wieder ein Höllentempo vorlegt. Es ist an der Zeit mein Tempo zu „eichen“. Gesundheitlich gehandicapt und in ungewohnter Umgebung misstraue ich meinem Laufgefühl, vor allem das angestrebte, verhaltene Tempo zu treffen. Beim nächsten Zieldurchlauf drücke ich meine Stoppuhr ab … Mindestens 1:35 Minuten sollte sie anzeigen, wenn ich die Runde vollende. 1:35 Minuten mal vier ergibt ein Tempo von 6:20 min/km und damit eine Zielzeit von 4:30 Stunden, heute das Maß aller Dinge. Mehr darf ich nicht und - selten genug für einen von latentem Ehrgeiz Getriebenen - mehr will ich auch nicht. Denn: Wer zuviel will, geht am Ende leer aus!

1:35 min exakt! Wirklich schlecht scheint es um mein Laufgefühl, um meine Physis insgesamt, nicht bestellt zu sein, wenn ich die Pace mit solcher Genauigkeit treffe!? Ein paar Umläufe später wiederhole ich die Messung und lese 1:38 min ab. Damit bestätigt sich die Tendenz eher langsamer als schneller unterwegs zu sein, weshalb ich die Tempojustierung als abgeschlossen betrachte. Alles Weitere überlasse ich wie üblich meinem Laufgefühl.

Damit habe ich den Kopf frei für anderes. Bisher nahm ich die auf der Leinwand eingeblendeten Zwischenergebnisse nur flüchtig wahr. Nicht mehr als ein Vergewissern, ob mein Name nach vollendeter Runde angezeigt und damit die Runde gezählt wird. Nach und nach erschließe ich mir die übrigen eingeblendeten Daten: Startnummer, Name, Verein, x gelaufene von 169 Runden, Zeit, Platzierung gesamt, Platzierung m/w, Platzierung in der Altersklasse und die Altersklasse selbst. Das Rundenzählwerk gibt sich schon zum Auftakt wie eingefroren. Unglaublich gedehnt erscheint die Zeitspanne, bis dort endlich eine „20“ steht und mir lächerliche fünf Kilometer zubilligt. Den Effekt kenne ich vom letzten Wochenende in Budweis. Was natürlich nicht erklärt, weshalb sich Weitenschätzung oder Weitenempfinden in der Halle derart narren lassen. Vermutlich sind die häufigen, in kurzen Intervallen beendeten Umläufe dafür ursächlich. Schon wieder eine Runde fertig, noch eine, noch eine, noch eine … das gaukelt rasch wachsende Distanz vor, die sich in Wahrheit jedoch nur in kleinen 250 Meter-Schritten erhöht.

Üblicherweise bin ich mental ausreichend stabil, um solche Depri-Wahrnehmungen an mir abgleiten zu lassen. Wie sonst hätte ich von Athen nach Sparta laufen können? - Üblicherweise gehe ich allerdings auch gesund und mit verlässlicher Physis in einen Wettkampf. Und warum soll ich mir die Aufgabe unnütz erschweren? - Also strafe ich das Rundenzählwerk fortan mit Nichtachtung. Süßeren Nektar sauge ich dagegen aus der Anzeige der Platzierung, vor allem jener in der Altersklasse: Fünfzehnter Mann im Feld - immerhin - und gegenwärtig sogar erster in der Opaklasse M65 - phänomenal! … Ich erschlüge den Mistkerl augenblicklich, versteckte er sich nicht in einer hinteren Gehirnwindung. Postwendend und boshaft meint er mir die Wahrheit einflüstern zu müssen: Nur in einem winzigen Läuferfeld kann sich eine lahme Ente wie du so weit vorne platzieren!

Musik liegt in der (Hallen-) Luft! - nur von seltenen Ansagen unterbrochen, infolge Rundumbeschallung überall in der Halle gleich gut hörbar und ziemlich laut. Zum Glück nicht zu laut, außerdem als Rock- und Popmusik, die mein Geschmack erträgt, bisweilen sogar genießt. Nur einmal rollt akustischer Schrecken über mich hinweg, musikalisch abgedroschen bis zum Gehtnichtmehr, inhaltlich überdies höchst widersinnig: „Atemlos durch die Nacht …“ - Wär’ sie wirklich atemlos, sie brächte nicht einen Ton zu Gehör. Ein paar bange Minuten lang fürchte ich nun, der DJ werde geschmacklich bislang sicheres Fahrwasser verlassen und sein Boot in den Schlagerhafen manövrieren. Dann bliebe mir nur die Flucht …

Akutes Leiden schrumpft die Bedeutung anderer, vor allem chronischer Zipperlein. Deshalb verschwendete ich bisher kaum einen Gedanken an meine instabile Achillessehne. Anfangs mucksmäuschenstill, meint sie nun doch ein wenig Randale machen zu müssen. Nicht besorgniserregend und deshalb hoffe ich, sie wird, wie vor einer Woche in der Messehalle zu Budweis, alsbald wieder Ruhe geben.

Ans gehäufte Überrundetwerden habe ich mich rasch gewöhnt, zumal es dabei nie zu irgendwelchen Rempeleien kommt. Hie und da eine sachte, unabsichtliche Berührung, nicht der Rede wert. Auch Bernhard und Mike nutzen häufig die Überholspur und lassen mich mit aufmunternden Worten oder Gesten von ihrer immensen Energie profitieren. Woher nehmen sie die eigentlich? - Vorgestern rannten beide 100 Kilometer weit und das keineswegs verhalten. Nach nur einem Ruhetag preschen die beiden nun schon wieder durch die Halle als wäre nichts gewesen. „Du läufst wie ein griechischer Gott!“ schicke ich meinem Freund Mike spontan hinterher. Weil es stimmt und weil ich weiß, dass so ein Satz in meinem Hellas-affinen Freund den Turbo zündet …

Matthias und ich backen kleinere Brötchen. Uns beiden fehlt die für einen Marathon eigentlich erforderliche „Frische“. Während mein Handicap milliardenfach durch die Blutbahn kreist, kämpft Matthias gegen massenhaft Restermüdung. 100 Kilometer am Freitag, gestern ein Abendmarathon, danach der Halbmarathon und heute Morgen weitere 50 Kilometer. Summa summarum wird er in ein paar Stunden 213 Kilometer in drei Tagen gesammelt haben … Nein, der Kerl ist nicht komplett plemplem. Hochgradig laufverrückt, das schon. Sein Pensum verfolgt aber auch ein Ziel: Spartathlon im Herbst 2018! Zu früh sich schon jetzt mit so vielen Wochenkilometern zu plagen? - Ja und nein. Wenn er den Gewaltakt immenser Umfänge so früh im Jahr nutzt, um seinen Körper besser für längste Distanzen zu konditionieren UND demnächst ein paar Wochen bei geringerem Pensum regeneriert, wird er Erfolg haben.

Mehrere Runden traben Matthias und ich in Sicht- und Hörweite, oft auch gleichauf unterm Hallendach. In all den Laufjahren begegnete mir höchstens eine Handvoll Läufer, die ihren Wettkampf mit solch emotionaler Wucht zelebrieren wie Matthias. Überschäumende Freude lässt ihn Rhythmisches aus den Lautsprechern mitsummen und jede Form der Anfeuerung, von innen wie außen, dankbar erwidern. Sprudelnde Lauflust, die sich mitteilt, seiner unmittelbaren Umgebung ebenso, wie der offensichtlich riesigen Fangemeinde, mit der er sich immer wieder per Smartphone „connectet“. In verhaltenem Trab „WhatsApp-en“ eintippen? - Matthias hat das drauf, wovon ich mich mehrmals per ungläubigem Seitenblick überzeugen kann. Gemessen an Matthias’ extrovertiertem Auftritt bin ich Autist. Still, in mich gekehrt, meist auf nichts anderes als mein Ziel fokussiert. Matthias ist als „Läufer-Typ" so komplett anders - vielleicht mag ich ihn ja gerade deshalb … Unschlüssig, welchen Spruch so einen Kerl anspornen könnte, nenne ich ihn ein „Alien“. An drei Tagen in vier Bewerben so viele Kilometer abzuspulen hat nichts Menschliches mehr. Augenzwinkernd unterstelle ich ihm nach Zielschluss wieder sein Raumschiff zu besteigen, um zu seinem Heimatplaneten zurück zu fliegen …

Lange Zeit schaffe ich es, Überholmanöver in den Kurven zu vermeiden. Nur wenige „schnecken“ langsamer durch die Arena als ich. Zudem befolge ich Mikes Rat, mein Trabtempo anzupassen, um entweder eingangs oder am Ende der Kurven vorbei zu ziehen, wo die Überhöhung minimal ausfällt. Jetzt, nach etwa zwei Dritteln der Distanz, häufen sich meine „Ausflüge in die Steilwand“. Meine Konzentration, und damit die Fähigkeit ein Rendezvous in Kurven vorauszuberechnen, hat nachgelassen. Außerdem zollen immer mehr Mitläufer anfänglichem Übereifer Tribut, während meine Beine weiter stoisch im stets gleichen Takt auf die Bahn trommeln. Tatsächlich mache ich in dieser Phase des Wettkampfs zwei Plätze gut. ‚Platz 13 und das in meinem Schneckentempo’ denkt es in mir.

Man hat mich vor „dicken Oberschenkeln“ durch die Kurvenüberhöhung gewarnt. Je nach Situation umkurve ich einen Mitläufer mit mehr oder weniger Schritten. Tatsächlich fühlt sich die Schräglage mal ungut an, mal nicht. Dass mir die paar Schritte auf geneigter Bahn zusetzen oder gar einen Muskelkater verursachen werden, glaube ich allerdings nicht. Bei Bernhard oder Mike, den immer wieder mit Fluchtgeschwindigkeit im äußeren Orbit vorbei zischenden Satelliten, wird die unnatürliche Körperhaltung in den Kurven mutmaßlich deutlichere Spuren hinterlassen …

Matthias’ Erschöpfung zwang ihn frühzeitig das Tempo zu drosseln. Alsbald blieb er zurück und von da an überholte ich ihn mehrfach. Jedes Mal signalisiere ich mit gespreizten Fingern ein „Viktory“ oder recke den Daumen gegen das Hallendach. „Klasse!“ oder „Super!“ tönt es dann von hinten. Täusche ich mich oder hat wachsende Erschöpfung seine anfängliche Begeisterung erodieren lassen? - „Schon 200 Kilometer in drei Tagen und keine Runde gegangen!“ - „Nur noch 13!“ - Solche und ähnliche Sätze spricht er dann und wann „eruptiv“ aus, wenn wir uns nahekommen - Teil seines ganz persönlichen und offensichtlich erfolgreichen Motivationskonzeptes …

Ich mag sie nicht verschweigen, auch wenn es mich eigentlich dazu drängt, die Legende und Grande Dame des (Ultra-) Laufsports: Siegrid Eichner, Jahrgang 1940, gehört zur Minderheit derer, die selbst ich seit dem Startsignal zigfach überholen musste. Mit ihren 77 Lenzen steuert sie auf bald 2.000 (!!) gelaufene Marathons zu. Wiewohl es mit dem Laufen inzwischen nicht mehr so gut klappt. Nach nicht mal 15 Kilometern klagt sie über starke Krämpfe. Ein herbei eilender Offizieller bietet ihr fürsorglich eine Massage an … Ob sie das Angebot wahrnimmt, bekomme ich nicht mit. Jetzt, in meinem letzten Marathonviertel, läuft sie gar nicht mehr, stapft gebeugt und kraftlos durch die Runden. Mir ist sie Beispiel, wie ich das Ende meiner Marathon-„karriere“ keinesfalls erleben will. Stattdessen bekräftige ich die längst in Stein gemeißelte Absicht: Ich werde mit Marathonlaufen aufhören, wenn es mir nicht mehr gelingt einen überwiegend flachen Marathon komplett laufend durchzustehen!

Die meisten werden Siegrid Eichner für die Unbeugsamkeit bewundern, mit der sie sich den Widerständen des Alters entgegen stemmt. Ich akzeptiere, was sie tut, bedauere jedoch zugleich, dass sie in meinen Augen den richtigen Zeitpunkt zum Aufhören verpasst hat. Sich aus dem Marathonzirkus zurückzuziehen bedeutet weder den Laufsport an den Nagel zu hängen, noch schmälerte solches Vorgehen ihre wahrlich einzigartige Erfolgsbilanz. Dafür blieben Nimbus und Würde unangetastet. Mit Auftritten wie dem heutigen bricht dagegen Zacken um Zacken aus ihrer funkelnden Krone

Freie Bahn dem Tüchtigen - Bernhard prescht auf einer seiner letzten Runden vorbei. Mehrfach hörte ich aus den Lautsprechern seinen Namen, was einerseits auf eine gute Platzierung in der Marathonkonkurrenz, zum anderen sein baldiges Finish hindeutet. Nach 100 Kilometern am Freitag in 8:51:09 h nun ein flott und locker gelaufener Marathon*. Und das in Altersklasse M55!

*) Bernhard absolviert den Marathon an diesem Tag in fantastischen 3:21:27 Stunden, die ihm Platz zwei einbringen!

Die Sehne schweigt, mein Tempo bleibt stabil und gleichsam „unbemerkt“ neigt sich mein Crash-Marathon dem Ende zu. Dass mir die Zeit nicht lang wurde, verdanke ich einerseits strikter Missachtung der Rundenzählung. Selbstverständlich bestätigte ich mir hin und wieder gewisse Wegmarken - ein Viertel, die Hälfte, zwei Drittel und ähnliche - überschritten zu haben. Ansonsten begnügte ich mich der Einblendung meines Namens, warf allerhöchstens noch einen Blick auf die Platzierung. Auch die vielen kleinen, (für mich) meist völlig unbedeutenden Ereignisse oder Beobachtungen vertrieben mir die Zeit. Den Lauf ohne Schmerzen und den nicht ausgeschlossenen „Shutdown“ meiner Systeme durchstehen zu können, versüßt mir auch das etwa seit Kilometer 10 anhaltende Gefühl von Schwäche. Ungewohnte Schwäche, die mir bestätigt, noch nicht wieder im Vollbesitz meiner Kräfte zu sein und deshalb mit defensiver Tempowahl und Streckenverkürzung goldrichtig entschieden zu haben.

Fische müssen schwimmen und Läufer müssen laufen - war es die richtige Entscheidung überhaupt anzutreten? Mit abschließender Sicherheit kann ich das erst in ein paar Tagen sagen, wenn feststeht, wie mein Körper die heutige Dosis „Marathon“ verarbeitet hat. Wie hätte die Alternative ausgesehen? - Kein Marathon, überhaupt kein längerer Lauf an diesem Wochenende, an dem doch insgesamt 150 Kilometer Training geplant waren und als Konsequenz eine gewaltige Delle in meiner Ausdauer.

Noch 20 Runden, fünf Kilometer. So weit die Füße tragen - diesem Leitsatz folgend steckte ich mein Wettkampfziel von Jahr zu Jahr weiter. Heute trügen mich die Füße wohl auch noch über Marathon hinaus, aber ganz sicher auch ins Verderben - mein Körpergefühl lässt keinen Zweifel daran aufkommen. Ich bin hundemüde und heilfroh dem Hamsterrad bald zu entkommen.

Noch 16 Runden. Vier Kilometer für mich, nur noch zwei für Julia. Julia Jezek ist gut drauf. Seit über vier Stunden schon. Auch eine derjenigen, die mir alle Nase lang ihre Rückenansicht präsentierten. Und Julia ist auf 50 km-Rekordkurs, den der Hallensprecher schon vor längerer Zeit ankündigte - für den Fall natürlich nur, dass sie ihr Tempo halten könne. Frenetisch anfeuernde Betreuer tauchten immer wieder am Bahnrand auf und peitschten die junge Frau vorwärts. Nun überschlagen sich ihre Stimmen, ganz offensichtlich scheint Julias Coup zu gelingen. Dann ist es vollbracht und wenige Minuten später verkündet der Sprecher die frohe Botschaft: Neuer deutscher Rekord über 50 km in der Halle für Julia Jezek in 4:10:21 Stunden.

Noch 8 Runden, zwei Kilometer. Mike gibt Fersengeld als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Er flog unglaublich oft an mir vorbei, unmöglich einzuschätzen, wie viele Runden noch vor ihm liegen … Anfeuern konnte ich ihn zuletzt nicht mehr. Wenn ich ihn wahrnehme ist es zu spät für Gesten und ein Krächzen meiner heiseren Stimme erreichte ihn nicht. So Gott will wird er in wenigen Minuten einen fulminanten Wettkampf abschließen und hinter unser gemeinsames Trainingsziel nicht nur einen Haken, sondern gleich mehrere Ausrufezeichen setzen!!! Mein Freund ist in diesem Jahr in einer bestechenden Frühform.

Noch vier Runden, ein Kilometer. Ich komme mir vor wie ein Zugvogel mit ramponiertem Gefieder. Noch fähig zu fliegen, ob ich es allerdings in die Wärme des Südens schaffe ist offen … Ach was! Noch ist nicht aller Tage Abend! Mir bleiben mehr als drei Monate und einige lange Aufbauwettkämpfe, um den erlittenen Rückschlag in der Vorbereitung zum „Olympian Race“ wettzumachen. Kein Grund den Kopf in den Sand zu stecken und deshalb jogge ich mit Zuversicht, eigenartigerweise auch gut gelaunt, durch meine finalen Runden.

Eingangs der letzten Runde ist endlich auch mein Name in der Anzeige gelb unterlegt, läutet auch für mich die Schlussglocke. Ich müsste zu Tode erschöpft und kein Kämpfer sein, beschleunigte die nun auch optisch und akustisch signalisierte Aussicht auf Erlösung nicht die letzten Schritte. Sogar Lockerheit gaukelt mein Körper mir vor, wo definitiv keine ist, keine mehr sein kann. Gegengerade: „Wo ist die Kamera, Udo?“ ruft Mike mir gehetzt entgegen. „Die ist kaputt!“ entgegne ich etwas verwirrt aber wahrheitsgemäß*. Offensichtlich wollte Mike meinen Zieleinlauf ablichten, was aber nur bedeuten kann, dass er seine 200 Runden bereits absolviert hat**. Tatsächlich erwartet mich Mike freudestrahlend am Ende der Zielgeraden. Und so endet mein Crash-Lauf in kurzer, schweißnasser Umarmung. Lange genug, um zu spüren, wie wichtig dem Freund mein Finish ist.

*) Ein vermuteter mechanischer Defekt der Digicam stellte sich gottlob als Irrtum heraus. Zwei Stunden in meiner vor Schweiß triefenden Gesäßtasche brachten lediglich die Elektronik aus dem Tritt. Wie dem auch sei: Meine Fotoausbeute hält sich diesmal in engen Grenzen.

**) Mike Hausdorf beendet den 50 km-Lauf in fantastischen 4:32:51 Stunden und Platz 2 der Altersklassenwertung M50.

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Ende gut, alles gut - erfüllt von Freude und Zufriedenheit wieder einen Marathon gefinished zu haben, drücke ich es tatsächlich so aus, auch wenn erst die kommenden Tage zeigen werden, ob mein riskanter Auftritt ohne negative Folgen bleiben wird. Nach 4:35:21 Stunden kreuzte ich die Ziellinie und - Ironie des Seniorenläuferschickals - heimste mit diesem doch recht mäßigen Ergebnis auch noch Platz eins in der Altersklasse ein. Notabene kein besonderer Kraftakt, da überhaupt nur zwei M65-Opas ihre Hallenkreise zogen

 

Fazit zur Veranstaltung

Der Hallenmarathon in Senftenberg zieht sich über drei Tage und zahlreiche Laufveranstaltungen hin. Von ein paar Metern für den Laufnachwuchs bis hin zu 100 Kilometern für ambitionierte Ultras findet jeder seine Strecke, manche auch mehrere. Der Organisation dieser Veranstaltung muss man insgesamt die beste aller Noten geben: Ausgezeichnet!

Die Leichtathletikhalle Senftenberg bietet trotz fortgeschrittenen Alters und des ihr eigenen „DDR-Charmes“ noch immer gute Voraussetzungen, um dem Winter nach „indoor“ zu entfliehen. Es bleibt zu hoffen, dass die Stadt Senftenberg die Halle noch lange für den Laufsport offen halten kann.

Fazit: Der guten Bedingungen wegen, gerne mal wieder!

 


Hinweis zu den Fotos im Text: Infolge Fehlfunktion meiner Kamera steht mir diesmal nur sehr begrenzt eigenes Bildmaterial zur Verfügung. Zur besseren Illustration des Laufberichts habe ich auch ein Aufnahmen von Mike Hausdorf verwendet.

 

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