31. Dezember, Silvester 2017

Zu guter Letzt - Wolff Sports Silvesterultra 2017

Noch gestern Abend hatte ich die Hosen gestrichen voll! Bei der Ankunft in Neumarkt* fanden wir eine geschlossene, 10 bis 15 cm dicke Schneedecke vor. Laufen auf Schnee, egal ob sulzig, hart gefroren, frisch gefallen und pulvrig, war noch nie mein Ding. Dass Schnee die Ausdauer ratzfatz aufzehrt, lässt sich mit Temporeduzierung wenigstens teilweise kompensieren. Ungleich heftiger wirkt die Änderung der Kräfteverteilung im Bewegungsablauf. Längere Joggs auf Schnee gingen immer mit Beschwerden einher, teils beim, vor allem aber nach dem Training. Also scheute ich vorm weißen Feind, wie der Teufel vorm Weihwasser. Trainierte in vergangenen Wintern auf geräumten Wegen und Straßen, wäre vor allem nie der Idee verfallen, einen längeren Wettkampf auf Schnee zu bestreiten.

*) Neumarkt in der Oberpfalz, Kreisstadt 30 km südöstlich von Nürnberg.

Doch in diesem Winter ist das anders. Ich brauche lange und ultralange Wettkämpfe, um meine Ausdauer zu halten. Mehrmals verziehe ich mich nach „indoor“. Lief im November im TÜV-Gebäude, demnächst im Parkhaus und auch mehrmals in Sporthallen. Möglicherweise betrachtest du Marathon oder länger „indoor“ für eine Spielart von Läuferwahnsinn im Endstadium. Doch lieber liefere ich mich dem Wahnsinn aus, als solche Distanzen auf Schnee bestreiten zu müssen. Und für den gibt es in unseren Breiten zwischen November und Februar eine „gewisse“ Wahrscheinlichkeit, woran auch der Klimawandel (noch!) nichts ändert. So wie am Vorabend meines 50 km Ultratrails in Neumarkt …

Sonntagmorgen, Silvester, gegen 7:00 Uhr:

Als ich mit Ines vom Hotel zum Start fahre ist es stockdunkel. Was ich trotz Plusgraden als aussichtslos betrachtete, dass der Schnee über Nacht beinahe vollständig taute, kann ich im fahlen Streulicht der Autoscheinwerfer nur ahnen. Weshalb sich an meinen Bedenken auch nichts ändert. Umso weniger als ich nicht umhin komme, mich für die Icebug-Schuhe mit Spikes zu entscheiden. Groß und gedrungen, wie mich die Natur nun einmal schuf, hätte ich in Normal- oder leichten Trailschuhen keine Chance auf Schnee Halt zu finden. Die Krux der Schuhwahl: Ich hatte die Treter bisher genau zweimal, für insgesamt 19 Kilometer, am Fuß. Weder weiß ich, wie es mir auf Asphalt mit den „Nageltretern“ ergehen wird, noch ob sie sich überhaupt so lange Zeit mit meinen Füßen vertragen werden.

Im ersten Licht des anbrechenden Morgens wird rasch offenbar, dass die Nacht bei 8°C, Regen und Wind vom Schnee so gut wie nichts mehr übrig ließ. Ich schwanke in meiner Schuhentscheidung, überdenke noch einmal die Umstände … Die diversen Böden werden nass und schwammig, Pfützen zu Teichen angewachsen sein. Vielerorts erwarte ich knöcheltiefen Morast. Wehe dem, der sich ohne ausreichenden Grip der Sohle in solches Gelände wagt … Auch die Veranstalterin, Nadine Wolff, rät mir auf Nachfragen die Schuhwahl nicht zu revidieren. Also bleibt es bei meiner Neuerwerbung „Icebug Phyto4“ und damit der bangen Frage, wie meine Füße und vor allem die dauernörgelnden Achillessehnen auf in allen Belangen anders konstruierte, nicht wirklich eingelaufene Schuhe reagieren werden …

Kurz vor acht Uhr scheucht Nadine ihre überschaubare Herde aus dem warmen, hellen Sportheim eines Neumarkter Vorortes nach draußen in den unwirtlichen, dämmrigen Silvestermorgen. Vor einer nahen Bushaltestelle nehmen knapp 30 Ultras und acht Etappenläufer Aufstellung für ein Gruppenfoto. Obwohl meine Frau Ines neben mir steht und mich auf der dritten, etwa 13 km langen Schlussetappe begleiten wird, fühle ich keinen Funken Freude in mir. Zu viele Fragezeichen surren wie Schmeißfliegen durch meinen Kopf und der lebhafte, kalte Wind weht mir Nieselregen ins Gesicht. Kein Hauch gewohnter Festtagsstimmung, wenn Ines und ich - wie so oft in den letzten Jahren - mit einem gemütlichen Silvesterläufchen die Saison ausklingen ließen. Auch unsere Freundin und Vereinskameradin Sybille hat null Bock. Raunt sie mir wenigstens zu und deutet mit resignierender Geste auf grau lastendes Gewölk. Michael, der Sybille auf Etappe drei unterstützen wird, macht dagegen gute Miene zum nasskalt-windigen Spiel. Kunststück: Er und Ines werden nach dem Ultrastart erstmal gemütlich frühstücken …

Eine flüchtige Umarmung und gute Wünsche für Sybille, inniges Herzen mit Ines, dann ist es auch fast schon so weit … In diesem Moment fällt mir siedend heiß ein, dass ich den Track auf meiner GPS-Uhr noch nicht gestartet habe. Letztes Mal, vor der Runde um Stuttgart, gelang mir das spielend. Die dafür nötige Tastensequenz der neuen Uhr habe ich mir narrensicher eingeprägt … dachte ich jedenfalls … Heute misslingt mir die Bedienung, warum auch immer … Wo liegt der Fehler? Die Wiederholung nehme ich in wachsender Panik und bereits verhalten trabend, nach erfolgtem Start vor … und … scheitere erneut! Spontane Entscheidung: Ohne Track laufen und der Streckenmarkierung vertrauen!

Die Runde um Neumarkt - die so genannte „Zeugenbergrunde“ - ist durchgehend als Wanderweg markiert, mit rotem Querbalken auf gelbem Grund - angeblich in dichter Folge. Wer weiter als 200 m keine Markierung fände, könne davon ausgehen sich verlaufen zu haben - behauptet jedenfalls die Veranstalterin im vorab versandten Rundbrief. Die ungefähr 50 Kilo- und 900 Höhenmeter der „Zeugenbergrunde“ sind in drei Etappen zu absolvieren: 18, 19 und 13 Kilometer. Damit liegen auch die Abstände der Verpflegungspunkte fest. Getränk, Gels und ein paar vorgeschriebene Utensilien trage ich im Laufrucksack bei mir. Ines’ Start für Etappe 3, am Verpflegungspunkt II, ist offiziell auf 13 Uhr festgelegt. Fünf Stunden bleiben mir folglich, um „VP II“ nach insgesamt 37 Kilometern zu erreichen. Klingt üppig, wäre zu jeder anderen, lauffreundlicheren Jahreszeit wohl auch spielend zu schaffen. Sollte es mir unter den heutigen Bedingungen nicht gelingen, wird Ines auf mich warten. Mit Roxi unserer Hündin übrigens, die das „flotte Schlusstrio“ anführen wird. Sollte ich vor 13 Uhr eintreffen, warte ich Ines’ Start ab, nütze die Zeit, um mich „obenrum“ neu und trocken einzukleiden.

Während des ersten Kilometers innerorts und auf moderat ansteigendem Sträßchen, geht mir das kratzig-schabende Geräusch meiner Spikes ziemlich auf die Nerven. Sitz und Grip der Schuhe auf Asphalt lassen nichts zu wünschen übrig. Kein technisches also, lediglich ein akustisches Problem. Ich blicke mich kurz um und finde meinen Verdacht bestätigt. Udo bildet das Schlusslicht! Den geringen Abstand zu einem Trio vor mir - zweimal femi- einmal maskulin - zu verkürzen verspüre ich weniger als keine Lust. Reicht schon, wenn ich mir selbst mit den Spikes auf den Keks gehe. Außerdem will ich nicht schon auf den ersten Metern unnötig Körner verschwenden.

Das Sträßchen bringt uns zur Wallfahrtskirche „Maria Hilf“ und vor die Abbruchkante des Neumarkter Talkessels. Vorm Kirchenportal nimmt ein junger, wohlwollend dreinblickender Geistlicher in langem, schwarzem Gewand die Parade der Läufer ab. Ich entbiete dem Diener des Herrn ein freundliches „Grüß Gott“. Nicht wissend, womit mein Weg mich konfrontieren wird, ist mir daran gelegen die Allmacht jenseits dämmrigen Himmelsgraus milde zu stimmen … Vor der Kirche hinab. Über Treppen, … klack, klack, klack … zig Stufen, bis ich meine Schuhwahl fast schon bereue. Eine Empfindung die sich Sekunden später in Wohlgefallen auflöst: Ein Pfad, erdig, mit Grasresten, vermutlich glitschig, schlängelt sich durch ein Wäldchen. Unterhalb des Waldes verlieren wir auf Feldwegen weiter an Höhe. Obschon durchaus attraktiv fürs Auge, verzichte ich auf Fotos vom Auftakt. Im Dämmerlicht wäre jede Aufnahme in Bewegung verwackelt und stehen bleiben möchte ich auch nicht.

Nach einer Weile stelle ich erfreut fest, dass der Himmel die nieselnde Beregnung eingestellt hat. Und wenn ich den sich formierenden Wolken glauben darf, wird das wohl auch einstweilen so bleiben. Also Schirmkappe ab und in der Jackentasche verschwinden lassen. Unterdessen fühle ich mich gut genug durchwärmt, um den Reißverschluss meiner Jacke zwei Drittel weit zu öffnen und - radikal anarchisches Winterverhalten von Weichei Udo!! - meine Handschuhe auszuziehen! Im Talgrund angekommen „nagele“ ich durch eine kleine Ortschaft, entkomme meinem Sohlengeräusch aber einen halben Kilometer später in nahen Kiefernwald. Traben auf Waldwegen in ungeahnt gutem Zustand: Kaum Pfützen, schon gar kein Morast. Recht schnell wird mir klar, dass das am Sandboden liegen muss, den ich ringsum zwischen Pflanzen erkennen kann. Sand*, in dem Schmelzwasser zügig versickert.

*) Die Strecke führt in diesem Bereich durch die so genannten „Neumarkter Sanddünen“. Der Begriff fiel beim Briefing vorm Lauf. Unter „Dünen“ stellte ich mir frei liegende, ggf. wandernde Sandhaufen vor, weswegen mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst war, die „Neumarkter Sanddünen“ unter den Füßen zu haben.

Mittlerweile bin ich im Wettkampf angekommen. Die bislang überraschend gut beherrschbaren Bodenverhältnisse haben einen großen Teil meiner Ängste zerstreut. Natürlich wird es so nicht bleiben, dennoch stimmt mich der unschwierige Auftakt optimistisch. Und die durchgreifende Wetterbesserung der letzten Viertelstunde hellt nicht nur den Tag, sondern auch meine Stimmung gewaltig auf. Das Lauftempo überlasse ich völlig meinem Laufgefühl. Es hat mich nie im Stich gelassen, schlussendlich ausnahmslos über alle Schwierigkeiten erfolgreich ins Ziel gebracht. Die Pace eines einigermaßen flachen Marathons nach schulmäßigem Training kann man planen. Routen, wie die heutige, übersteht man nur mit verlässlichem innerem Taktgeber. Auch wenn ich mich außerstande sehe die Aussage mit messbaren Fakten zu belegen: Meinem Laufgefühl verdanke ich den Umstand so viele, auch überlange Wettkämpfe ohne „Abbruch nach Einbruch“ überstanden zu haben …

Die Beinautomatik lässt mich dem Damenduo immer näher auf die Pelle rücken. Ich nutze eine breite Stelle im sandigen Waldweg und überhole. Zwischen überwiegend lichten Kiefern geht es flott voran, nun magisch angezogen vom neongelben Dress eines Läufers. Beschleunigt der Mann vor mir, folglich die Tatsache derzeit die maskuline, rote Laterne zu tragen, meine Schritte? - Von Zeit zu Zeit, unvorhersehbar, belästige ich mich in Wettkämpfen mit solchen im Grundsätzlichen wühlenden Fragen. Fragen zur Ausforschung tieferer Schichten meines Läufer-Ichs. Fragen, die sich um Ehrgeiz, Geltungsbedürfnis, Selbstbestätigung und Ähnliches ranken. Der Laufsport - Sport allgemein - bietet wie kaum ein anderes Feld menschlicher Betätigung hervorragende „Laborbedingungen“ für Fremd- und Selbstbetrachtungen. Sag mir, wie sich einer beim Sport gebärdet, und ich sage dir, wer und wie er ist!

Alsbald trabe ich am Neongelben vorbei, wobei wir uns kurz anlächeln. Lächeln löst die Zunge, sogar einem so mundfaulen Typen wie mir. Also gebe ich hoch erfreut meiner Verwunderung darüber Ausdruck, die Strecke komplett schneefrei vorzufinden. Seine Antwort klingt nach Bestätigung, mehr verstehe ich nicht. Belustigt kommentiert er meine Bemühungen ihn mit der Digicam frontal einzufangen, was allerdings im immer noch dämmrigen Kiefernwald und des trägen Blitzes wegen nicht verwacklungsfrei gelingt. - „Kennst du die Strecke?“ will ich wissen. Erstens das, außerdem führt er für Notfälle noch ein komfortables Navi mit …

Ortskundig plus Navi - vielleicht sollte ich dauerhaft seine Nähe suchen? Ernsthaft in Erwägung ziehe ich diese Möglichkeit nicht. Verführt von erstarkender Zuversicht und tatsächlich dicht an dicht genagelten Markierungstäfelchen meine ich mich problemlos alleine zurechtzufinden. Entlang eines Bahndamms vergrößert sich rasch die Distanz zwischen uns. Unschwieriger Boden, verlässliche Markierungen alle paar Meter, Witterungsverhältnisse, die einem Winterwetterweichei wie mir sehr entgegen kommen - ich fange an die Sache zu genießen. Blicke umher, nütze meine Kamera, versinke auch minutenlang in „positives Denken“ … bis ich erschrocken und in plötzlicher Erkenntnis aufblicke: Keine Markierung mehr! Ich bleibe stehen, peile voraus und zurück. Kein Hinweis! Frische Spuren von Laufschuhen im sandigen Boden? Fehlanzeige. Also verlaufen!

Nach zwei-, dreihundert Meter Rückweg werde ich fündig, erkenne den rechtwinkligen Abzweig. Dass ich mit diesem unnötigen Blindflug vier, fünf Minuten verschwendete, kostet mich lediglich ein Schulterzucken. Mein Bedauern richtet sich eher darauf nun wieder allen anderen hinterher joggen zu müssen. Aber warum nervt mich das? Abgesehen vom Gesamtziel jeden Meter laufend und dem Teilziel gegen 13 Uhr bei Ines am zweiten Verpflegungspunkt anzukommen fühle ich keinen Druck!? Oder werkelt im Hintergrund etwa doch der Ehrgeiz? Jener mysteriöse, nie verlässlich beherrsch- und dosierbare Antrieb, der sich schon in den merkwürdigsten Situationen zuschaltete und mir Beine machte?

Einen knappen Kilometer später stoße ich auf das Ufer eines schmalen, schnurgeradeaus den Wald zerteilenden Kanals und gewinne zumindest mit Blicken wieder Tuchfühlung zu meinen Mitläufern. Die mehrere hundert Meter vor mir her trabenden Rückseiten der beiden Damen - inzwischen jede für sich - und des Neongelben beschleunigen meine Schritte. Obschon ich die Absicht aufzuschließen bemerke, sie überdies als überflüssig, auf lange Distanz betrachtet vielleicht sogar als schädlich bewerte, überlasse ich mich dieser Laune. Warum auch nicht? Was soll schon passieren, wenn ich ein paar Minuten ein bisschen Gas gebe?

Was ist das eigentlich für ein Kanal, dem ich folge?* - Auf der Karte fiel er mir bereits gestern auf, weil der vorab inspizierte Treffpunkt mit Ines, „VP II“, ebenfalls in unmittelbarer Nähe seiner Ufer liegt. Mehr als zehn Meter breit, aber eigentlich zu schmal, um Wasserstraße zu sein. Paddelboote wären hier im Sommer allenfalls unterwegs. Für Freizeitsportler gräbt allerdings niemand einen Wasserlauf. Meine Spekulationen kreisen um den Main-Donau-Kanal, der nur einige Kilometer von hier entfernt verläuft. Vielleicht dient dieser Wasserlauf dem Pegelausgleich!? Immerhin weiß ich, dass auch die etwa 40 km entfernten, Brombachseen**, aufgestaut wurden, um den Wasserstand des Main-Donau-Kanals auszutarieren.

*) Es handelt sich um den von 1836 bis 1846 gebauten Ludwig-Donau-Main-Kanal, der den Main bei Bamberg mit der Donau bei Kelheim verbindet. Die etwa 15 m breite Wasserstraße wurde bis 1950 genutzt, allerdings nur von Kähnen, für die eine Wassertiefe von ca. 1,40 m ausreichend war. Im 19. Jahrhundert wurden die Kähne vom Ufer aus von Pferden oder Menschen gezogen, nach Erfindung der Dampfmaschine jedoch zunehmend mit Eigenantrieb ausgestattet.

**) Die Brombachseen in der Nähe von Weißenburg bzw. Roth kennen viele Läufer vom Seenland Marathon.

Sollte mein ehrgeiziges Ego tatsächlich so etwas wie eine Aufholjagd im Sinn gehabt haben, nach ein paar Minuten verschwende ich keinen Gedanken mehr daran. Das liegt an ersten Rissen in dünner Wolkenschicht, die sich rasch zu blauen Flecken verbreitern. Viel Licht also, das aus Wasser, Wald und Resten von Morgennebel ein zauberhaftes Bild komponiert … Mit einigem Bedauern wende ich mich vom Kanal ab und dem nahen Wald zu. Etwa 11 Kilometer liegen nun hinter mir, noch sieben bis zur ersten Tränke … Rasch korrigiere ich meine Kalkulation: 11 km abzüglich eines halben etwa, der meinem Irrweg entspricht.

Auf Wald folgen Felder und Wiesen. Schlagartig ändert sich die Beschaffenheit der Wege. Für eine Weile kämpfe ich gegen Morast und riesige Pfützen, vermag jedoch jedes der Hindernisse ohne große Mühe und weiterhin trockenen Fußes zu umkurven. Trockene Füße!? Bislang fühlte ich alle paar Minuten der erhofften Verträglichkeit zwischen Füßen und Schuhen auf den Zahn und war zufrieden, dass da unten Einvernehmen herrscht. Dass sich in üblichen Laufschuhen die Strümpfe längst mit Wasser voll gesogen hätten, bedachte ich dabei nicht. Anscheinend sind die Treter tatsächlich wasserdicht, wie vom Hersteller behauptet.

Das auf den ersten Metern eines asphaltierten Feldweges einsetzende Kratzen meiner Spikes markiert zugleich die Stelle, ab der das bisher flache Terrain anzusteigen beginnt. Moderat einstweilen und wenig kraftzehrend, da auf festem Boden. Hier überhole ich auch das weibliche Schlusslicht und kontere ihren Überraschung ausdrückenden Gruß mit erläuternden Worten: „Hab mich vorhin leider verlaufen …“ Dass dergleichen auf so einer Strecke nicht ausbliebe, hält sie mir schicksalsergeben entgegen. Vielleicht ist das so!? Andererseits hätte ich den Abstecher mit mehr Aufmerksamkeit vermeiden können …

Ich kreuze eine Straße, kratze und scharre danach noch kurz auf parallelem Radweg, bis sich die Route auf grasigem Boden dem Hügel zuwendet und an Steigung gewinnt. Mit jedem Schritt werden die Beine schwerer. Gras und tiefer Boden scheinen sich an meinen Füßen festzusaugen. Mir bleibt nichts anderes übrig als das Tempo drastisch zu reduzieren. Zwei Läufer vor und die Frau hinter mir, haben den Kampf gegen die Schwerkraft schon aufgegeben und gehen. Will ich nicht, kann ich nicht, darf ich nicht. Vor mir liegt eine bewaldete Kuppe, die es nun mit vielen Richtungsänderungen, bald steiler, mal weniger steil, zu erobern gilt. Die Beschaffenheit der Wege ändert sich dabei ständig. Von schmal und glitschig bis asphaltiert und stetig ansteigend ist alles dabei. Schneereste auf hundert Metern asphaltierter Rampe erinnern mich daran, gegen welchen übermächtigen Gegner ich noch gestern hätte anrennen müssen … Abzweig vom Asphalt in den Wald. Eine Fuchssilhouette hat sich hier in die gewohnte Markierung eingeschlichen. Deckt sich der „Fuchsweg“ mit meinem Weg? - Die zuvor überholte zweite Frau bejaht meine entsprechende Frage und nimmt den Abzweig vor mir.

Glitschig und alsbald leicht abschüssig begegnet mir der Pfad. Obschon grobstolliges Profil und Spikes guten Halt gewähren, traue ich dem Frieden nicht und mäßige mein Tempo. Die Dame vor mir zischt dagegen mit einem Affenzahn davon. Alsbald verliere ich sie im Unterholz des Laubwaldes aus den Augen. Plötzlich ein Aufschrei voraus im Dickicht. Nicht vor Schmerz, eher ein Ausruf des Erschreckens. Ein paar Schritte später sehe ich, wie die offensichtlich zu sorglose Frau sich vom Boden aufrappelt. Weggerutscht sei sie, im übrigen aber unversehrt. Ich gebe mich mit ihrer Antwort zufrieden, auch wenn eine dicke Schicht erdbrauner Farbe nun ihr Hinterteil verkleistert … Kurz überzeuge ich mich noch davon, dass sie wirklich folgen kann, dann widme ich mich wieder der Erstürmung des Hügels.

Keine Markierung in Sichtweite, weder vor noch hinter mir, obendrein gabelt sich der Weg. Geradeaus oder nach links? Will mich nicht erneut verlaufen, schon gar nicht bergauf, tippele ein paar Meter zurück, verharre dann unschlüssig und warte. Als der Neongelbe auf Rufweite heran ist (Wo bleibt eigentlich die gestürzte Frau??) deutet er geradeaus. Ich setze mich wieder in Bewegung, entdecke ein paar Schritte später dann doch den Wegweiser. Allmählich verengt sich Weg zum Pfad, orientiert sich alsbald an einer Abbruchkante, wird von da ab miserabler. Mein Laufhirn braucht ein paar tastende Schritte, um den Bewegungsablauf an die neue Beschaffenheit des Untergrunds anzupassen. Bis zu faustgroße, kantige, oft getarnt zwischen oder versteckt unter Laub lauernde Steine erschweren das Fortkommen, zumal nun wieder bergab. Zum Glück währt das potenzielle Umknicken nur ein paar Minuten, dann übergibt mich der steinige an den nächsten Matschpfad …

Auf dem vielfach zerpflügten Matschmix aus Laub und weicher Erde komme ich brauchbar zurecht. Vor gefährlich haltlosen Stellen warnen nicht selten seitlich ausbrechende Rutschspuren unvorsichtiger Vorausläufer. Ich taste mich konzentriert hinab, wild entschlossen bis ins Ziel ohne Sturz zu bleiben. Obwohl … meistens unternehme ich Tiefflüge, wo eigentlich kein oder minimales Risiko dafür besteht. Höchst selten unter Verhältnissen wie diesen, wo ich sekündlich mit einem Fehltritt rechne. Die Schuhe geben Halt, krallen sich in den weichen Boden. Schwarz suppigen Morastlöchern weiche ich randläufig aus, komme gut voran. Immer weiter hinab, alsbald wieder auf Waldwegen mit sicherem Terrain unter den Sohlen.

Einen halben Kilometer noch bis zum Verpflegungspunkt. Ein auf Augenhöhe angebrachter Hinweis verkündet die frohe Botschaft. Der Anschlag überrascht mich weniger, als die damit spontan aufwallende Empfindung beträchtlichen Durstes. Der hielt sich bis zu diesem Moment verborgen, obwohl meine Klamotten von beträchtlichem Schweißverlust triefen und ich noch keinen Schluck trank. Vorausschauende, von Erfahrung getragene Vernunft hätte mich dennoch zur Wasserflasche greifen lassen. Wenn sie denn so einfach zu greifen wäre. Ist sie aber nicht, da in meinem wirklich dämlich konstruierten Laufrucksack unerreichbar verwahrt. Keinen Fuß werde ich mehr über die Schwelle jenes „Fach“-geschäftes für Trailläufer setzen, wo man mir das blöde Gestell angedreht hat. Zwar brauche ich den Rucksack nicht so häufig und auch nie bei wirklich bedeutsamen Wettkämpfen. Vielleicht sollte ich mir trotzdem einen neuen zulegen, um das Ärgernis ein für alle Mal loszuwerden - jetzt, da ich genug Erfahrung auf Ultratrails gesammelt habe …

Die mehrköpfige, weibliche Besatzung des Verpflegungspunktes begrüßt mich schon von weitem mit Jubelstürmen und versucht mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Dumm nur, dass ich eigentlich keinen habe. Wie immer würdige ich die dargebotenen Köstlichkeiten mit bedauerndem Blick und bescheide mich mit der hochkonzentrierten Energie eines mitgeführten Gels - das dritte übrigens auf gut 18 Kilometern in zwei und einer Viertelstunde. Gierig trinkend merke ich erst, wie stark das Durstgefühl tatsächlich schon ausgeprägt ist. Davon alarmiert nehme ich mir vor demnächst häufiger zu trinken und fülle auch die zweite, bisher leere Flasche. Noch rasch drei Gels aus hinteren, gleichfalls unerreichbar aufgesetzten Taschen nach vorne umpacken, dann mache ich mich an die „Verfolgung“ des Neongelben, der beim Verpflegen weniger Zeit verlor …

Während die Spikes auf dem sich anschließenden, asphaltierten Kilometer den Schrittrhythmus orchestrieren, verkürze ich rasch die Distanz zu meinem Vordermann. Zugleich geht mir der vorgesehene Treff mit Ines durch den Kopf: Ungeachtet eventuell ausstehender technischer Schwierigkeiten, die meine Ankunft verzögern könnten, bin ich viel zu flott unterwegs. Bliebe es beim bisherigen Tempo, müsste ich womöglich elend lange warten, um mit Ines die letzte Etappe zu beginnen … Andererseits fordert die vor mir liegende zweite Etappe mit mehr Höhenmetern als die erste - wenn ich bei der Einweisung richtig hingehört habe … Also werde ich einstweilen mein Tempo beibehalten. Eine Nachricht an Ines kann aber nicht schaden: Vom Trab ins Gehen wechseln, Handy rauskramen, WhatsApp eintippen - „19 km jetzt“ -, abschicken, Handy verstauen, wieder antraben …

Einmal mehr hefte ich mich an die Fersen meines neongelben Mitläufers, der unweit voraus den nächsten, bewaldeten Hügel in Angriff nimmt. In der Hügelflanke mache ich rasch Boden gut, weil er zeitweise geht, mein vor den Göttern des Laufsports abgelegtes „Gelübde“ mir dergleichen jedoch untersagt. „Gehen nur, wenn ich nicht mehr laufen kann!“ lautet der Schwur und so weit ist es noch lange nicht … Alsbald tippele ich am Mitkämpfer vorbei, was der halblaut aber unverständlich quittiert. Es klingt wie Anerkennung, von der ich mir gerne schmeicheln lasse. - In einer Art Hohlweg unentwegt aufwärts, nicht steil, dennoch schweißtreibend in von Feuchte gesättigter Luft. Ich verrenke mir die Augen nach Bildern, die es wert wären abgelichtet zu werden, finde jedoch keine. Immerhin lenkt die Motivsuche von der Anstrengung ab. Nicht mal das Stereotyp „bunter Läufer vor grünem Tann“ hätte ich derzeit anzubieten. Mein neongelber Freund hängt unsichtbar weit zurück. Der Ausgang des Hohlwegs kommt in Sicht. Hier findet auch die Steigung ihr jähes Ende. Abrupt und über tückische Wurzeln wieder hinab. Untrüglicher Instinkt des Fotoreporters weiß mit der Kuppe ein tolles Motiv hinter seinem Rücken. Und zwar genau dann, wenn mein Verfolger die Kante erreicht … Kurz warten, anvisieren, auslösen … Schmunzelnd kommentiert er mein Tun, hat offensichtlich Spaß daran, nun schon mehrfach als Model meine Lauffotos zu beleben.

Soll ich das persönlich nehmen? - „Esel“ steht auf den am Baumstamm angeschlagenen Markierungen in gelb und rot. Ihre Wegweisung deckt sich mit meiner Laufrichtung. Wahrscheinlich bietet der Hinweis Eltern Orientierung, die ihre Sprösslinge auf Mieteseln begleiten. Und doch gestehe ich mir schmunzelnd ein: Das hat schon was von „Eselei“, das Laufjahr mit fünfzig langen Kilometern unter solchen Bedingungen zu beschließen … Die „Eselei“ setzt sich am Waldrand fort, wo der Pfad heute unpassierbar als Bachbett fungiert. Notgedrungen weiche ich weit in die angrenzende, gleichfalls mit Wasser übersättigte Wiese aus. Auch dort lassen meine Schritte gestaute Brühe aufspritzen, aber wenigstens bleiben die Füße wie durch ein Wunder trocken.

Ein paar hundert Meter weiter, bereits wieder der trügerischen Geborgenheit eines festen Feldwegs anvertraut, ist es aber auch damit vorbei. Ein mehr als knöcheltiefer, weit ausufernder Tümpel verlegt Mr. Neon und mir den Weg. Rechts grenzt die Wasserfläche an undurchdringliches Dickicht und auch links scheint ein Umlaufen der Wasserwüste illusorisch. Was tun? - Mein Mitkämpfer hat wahrscheinlich schon lange nasse Füße und deshalb auch keine Hemmungen: Einfach durch. Vier, fünf raumgreifende Schritte, dann bin ich ebenfalls „drüben“ - nur eben jetzt mit Wasser in den Schuhen. Was soll’s? - Die verbleibenden 28 Kilometer werde ich auch mit nassen Füßen überstehen.

Unverstellter Ausblick zwischen Feldern und Wiesen auf anderthalb Kilometern offenen Landes. Dem himmlischen Landschaftsmaler hat es gefallen den Schauenden mit weichen, langen Pinselstrichen zu verwöhnen und dabei auf Höhenunterschiede fast gänzlich zu verzichten. Zum Glück ist die noch am Morgen wehende kalte Brise fast gänzlich eingeschlafen. Überdies scheint, was davon übrig ist, in diesem dem Wind schutzlos ausgelieferten Landstrich von hinten zu schieben. Ich genieße ein paar Minuten unbeschwerten Dahintrailens, von nichts als tiefem Boden belästigt. Der Neongelbe trabt ein paar Meter vor mir. Ich passe mein Tempo an und bleibe hinter ihm. Massenhaft Zeit bis zum Treffen mit Ines. Vom nahen Waldrand her richtet jemand das Objektiv seiner Kamera auf uns. Diesen Jemand scheint mein Begleiter zu kennen, zügelt seine Schritte, wechselt ein paar Sätze mit ihm. Dadurch und für längere Zeit verliere ich das leuchtende Gelbgrün seiner Jacke aus den Augen …

Was folgt ist Wald, aufwärts, abwärts, wieder aufwärts, wieder abwärts … Zeit verrinnt, nichts Bemerkenswertes geschieht. Natürlich bedeutet das auch, dass mir nichts Bemerkenswertes „zustößt“, was unter abschnittsweise glitschigen, bisweilen auch holprigen Umständen nicht selbstverständlich ist. Wurzeln verlegen mir häufiger den Weg. Wills nur erwähnen, bevor der Eindruck entsteht einzig wachsweiches Erdbraun forderte Koordination und Konzentration. Mal wieder Asphalt. Die Spikes schrappen an einem Fischteich vorbei, passieren ein paar Hektar mit Solarpaneelen zugepflasterte Gegend, überqueren eine Eisenbahnbrücke, unter der eben ein Zug vorbeirauschte, gewinnen kratzend an Höhe, um schließlich am Waldrand auf unbefestigtem Boden wieder zu verstummen. 3:45 Stunden um, 29 km geschafft, noch acht bis ich Ines wieder sehe. 75 Minuten für acht Kilometer? - Ich werde viel zu früh da sein. Auch gut: Immerhin Gelegenheit meine verschwitzten Klamotten gegen trockene zu tauschen.

Eine gute Viertelstunde später stehe ich vor einem Warnschild, das Wanderer zur Vorsicht beim Überqueren der Landstraße anhält. Der darunter klebende Zettel der Veranstalterin zwingt mich die bisherige Zeitrechnung zu revidieren. Noch 6,5 km bis „VP II“ steht da. Anderthalb Kilometer mehr als ich auf Basis der morgendlichen Einweisung und der aktuellen GPS-Anzeige schätzte. Egal! Eine Stunde Zeitvorrat für 6,5 km nötigt gleichfalls nicht zur Eile. Ich fische mein Handy aus der Jackentasche, fotografiere die Tafel und sende das Bild an Ines …

Ich und der Wald, der Wald und ich. Nichts und niemand sonst. Wann immer möglich vertändele ich Zeit. Fotografiere solitär stehende Prachtexemplare von Laubbäumen, vom Sturm geknicktes Gehölz, Hinweistafeln, die Sonne, wo ihre Strahlen den Tann ausleuchten - praktisch alles, was mir gefällt. Ein abgestorbener, über und über bemooster Baumstumpf kostet mich gar volle zwei Minuten. Minibalkonen gleich besiedeln Baumpilze das Totholz, nötigen mir gleich mehrere Fotos aus verschiedenen Perspektiven ab.

Als ich wieder aufbreche liegen noch dreieinhalb Kilometer vor mir, die Uhr meldet eine Laufzeit von 4:30 Stunden und der Weg wendet sich noch einmal hügelwärts. Was immer ich an Zeitpolster hatte, den Großteil davon haben „easy going“ und „dolce vita“ inzwischen aufgebraucht. Der Weg wird steiler, schlussendlich und gottlob nur etwa hundert Meter weit so steil wie bisher nirgendwo. Ich kämpfe hart, tippele schneckengleich hinan, um mein mir selbst gegebenes Versprechen zu halten. Für wenige Minuten beherrscht vom Empfinden tonnenschwerer Beine, tiefer Atemzüge und Bäumen, die sich kopfschüttelnd über den verbohrten Deppen zu ihren Füßen - pardon: Wurzeln - beugen. Atemlos aber zufrieden stehe ich schließlich auf einem von Buckeln und Wällen umzingelten kleinen Plateau und fotografiere in diverse Himmelsrichtungen. Eine Infotafel, die gänzlich der Verwitterung anheim gefallene „Heinzburg“ zitierend, bestätigt meinen Verdacht, die ungewöhnliche Erdformation ringsum müsse menschlicher Gestaltungskraft zuzuordnen sein.

Abwärts. Dauerhaft und auf festem Waldweg. Nun im Minutentakt angestellte Hochrechnungen ergeben, dass ich kaum mehr als fünf Minuten vor der Zeit bei Ines sein werde. Noch zwei Kilometer, schließlich noch einer und immer noch von dichtem Wald umgeben. In Spannung und Unruhe gefangen erreiche ich den Waldrand und erspähe zu meiner übergroßen Freude Ines, die mir entgegen joggt. Vor ihr tippelt unsere Hündin Roxi. Mit einer Lautstärke, die jedem Feldwebel auf dem Kasernenhof Ehre machen würde, rufe ich nach Roxi. Obschon zu weit entfernt, meine ich jenes charakteristisch Zucken ihrer Ohren zu erkennen, wenn sie auf Geräusche reagiert. Erlebe, wie sie meine Stimme erkennt und schließlich in wilder Hatz auf mich zu galoppiert, mich schlussendlich freudig kläffend begrüßt … Sekunden später, als flottes Trio wiedervereint, traben wir auf den Verpflegungspunkt zu. Großes Hallo der anwesenden Damen und wie immer genießt Roxi die meiste Aufmerksamkeit. Trinken, Flasche füllen, Gel umpacken. Diesmal ohne den Rucksack vom Rücken lösen zu müssen, bewerkstelligt von meinem neuen Geleitschutz. Ziemlich genau nach fünf Stunden Laufzeit starten wir gemeinsam zur dritten Etappe …

Mir kommt es vor als sei der Ultratrail schon Geschichte. Nun läuft Ines an meiner Seite und ich fühle mich wie auf einem kurzen Trainingsläufchen. Vermutlich der stundenlangen Tempozurückhaltung wegen, spüre ich auch keine Müdigkeit. Dennoch gestalten sich unsere ersten Kilometer beschwerlich und vor allem nass. Am Rande von und durch Wiesen suppt mir immer wieder Wasser in die Schuhe. Ein Rinnsal ist zum breiten Bach angeschwollen, lässt sich nur durch beherztes Setzen des Fußes mitten in die Flut überwinden. Mit einem Riesensatz überwindet die noch frische Ines das Hindernis. Auf langen Passagen wetteifern Matsch, breite Wasserlöcher und Reste von Schnee um die Ehre unseren Füßen den Halt zu rauben. Parallel zu allem gilt es Roxi im Auge zu behalten, weil mehrmals Straßen zu passieren oder zu überqueren sind. Nach einer halben Stunde liegt die Niederung hinter uns. Auf meist trockenen Feldwegen gewinnen wir an Höhe, genießen die Aussicht und tauchen schließlich in einem weiteren Waldstück unter.

Später werde ich hören, dass gerade diese letzte, überwiegend aufwärts führende Etappe einigen Läufern arg zusetzte. So wie offensichtlich den beiden „Spaziergängern“, die wir alsbald überholen. Ich empfinde das nicht so, fühle stattdessen verlässlich fließende Kraft, gerate auch auf steileren Abschnitten nicht in Atemnot. Abgesehen von der Freude nun gemeinsam mit meiner Frau unterwegs zu sein, macht mir dieser Umstand Mut. Nach vielen Wochen, in denen meine Ausdauer auf niedrigem Niveau eingefroren schien, vermittelt mir der Trail den Eindruck, dass mein Trainingsaufwand endlich fruchtet. Mehr noch: Mein Bewegungsapparat verkraftet den inzwischen absolvierten Marathon ohne groß zu lamentieren. Und das angesichts solcher Bodenverhältnisse!

Mitten im Wald, am Ende eines völlig aufgeweichten, mit zahlreichen Fußangeln wie Wurzeln und Bruchästen bepflasterten Wegstücks, wartet ein Fotograf mit schussbereiter Kamera. Auf derlei Ideen kommt nur Ines: Sie bleibt stehen, legt den Arm um mich und in trauter Zweisamkeit lassen wir uns ablichten. Bildtitel: „Silvester 2017, irgendwo im Wald bei Neumarkt in der Oberpfalz“*.

*) Siehe viertes Bild von oben.

Der Fotograf kündigt ein Highlight an, meint wir wären gleich oben bei der Burg. Das Hochplateau zu erreichen dauert dann schon noch ein paar Minuten und aus der Perspektive gleicher Höhe betrachtet vermag mich die Burgruine „Wolfstein“ auch nicht sonderlich zu beeindrucken. Das schafft der grandiose Ausblick auf die tief unter uns liegende Stadt Neumarkt, ein paar hundert Meter weiter, schon eher. Eine Weile folgen wir dem Abbruch des Steilhanges, mit herrlichem Blick über die Talsenke. Zu meinem Leidwesen heißt es dann doch noch einmal Höhe aufgeben. Steil, zum Glück jedoch weniger rutschig als ich befürchtete, abwärts. Ich schaue voraus, beobachte kurz Ines. Alles gut! Ines hat normale Laufschuhe an den Füßen aber gleichfalls keine Probleme Halt zu finden.

Ein letztes Waldstück, etwa 1,5 Kilometer vor dem Ziel, und ein weiteres Mal gewinnt der Weg an Steigung. Stückweit voraus bewegt sich Mr. Neon, mein stundenlanger Gefährte. In seiner Nähe zwei weitere Läufer, denen auf der dritten Etappe offensichtlich der Saft auszugehen droht. Das „flotte Trio“ verkürzt den Abstand, ist auf beschwerlicher, steiler Waldpassage fast auf Tuchfühlung heran. In diesen Sekunden fühle ich meinen Jagdinstinkt erwachen. Wäre ich jetzt solo unterwegs, hielte mich nichts vom Versuch ab die drei auf dem Schlussabschnitt zu überholen. Was ich davon hätte? - Wenig mehr als in der Rangliste vom unrühmlicheren Ende etwas mehr Abstand zu gewinnen, mich in Richtung Unsichtbarkeit im Mittelfeld voran zu arbeiten. Außerdem - und letztlich ist es dieses Gefühl, dass mich derlei Torheiten dann und wann begehen lässt - vermittelt mir so ein finaler Kraftakt die Gewissheit auf dem richtigen Weg zu sein, im Trainingsaufbau alles richtig oder zumindest wenig falsch gemacht zu haben …

Heute verzichte ich auf Selbstbestätigung solcher Art. Ines geht im steilen Stück und deshalb warte ich an der Einmündung in einen flachen Waldweg, bis sie heran ist. Heute ist Silvester und wir feiern Seite an Seite den Ausklang eines langen Laufjahres. „Ein Selfie!“ fordert Ines und gut gelaunt lachen wir in die Kamera … Letzte, kaum mehr anstrengende Schritte auf ebenem Waldweg, schließlich den Waldrand gewinnend und aufs nahe Dorf zu. Als meine Spikes auf den letzten Metern Asphalt zu kratzen beginnen, fühle ich wie sich tiefe Zufriedenheit über mich legt. Ich hatte wahrlich Manschetten vor dieser Prüfung und schätze mich glücklich ohne Blessuren und nicht einmal vollends verausgabt das Ziel zu erreichen. Zu dritt nebeneinander steuern wir auf das applaudierende Empfangskomitee vor der Bushaltestelle zu. „Game over!“ nach sechs Stunden und vierzig Minuten, davon 1:40 h in Begleitung meiner Frau. Alle bekommen ihre Medaille. Zuerst ich, danach Ines. Zu guter Letzt lässt es sich die Veranstalterin Nadine Wolff nicht nehmen auch Roxi mit Metall am Band zu dekorieren.

 

Fazit zum Wettkampf

Die abwechslungsreiche, mit vielen schönen Ausblicken gesegnete „Zeugenbergrunde“ um Neumarkt in der Oberpfalz wird jedem Silvesterultraläufer mit witterungsbedingt abweichenden Anforderungen begegnen. Uns präsentierte sie sich abschnittsweise sehr tief, morastig und deshalb kraftzehrend. Wirklich „kriminelle“ Trailpassagen wies sie keine auf, womit bei anderen Verhältnissen (Schnee?) jedoch hie und da zu rechnen ist.

Gut organisierte Läufe findet man viele, doch nur wenige mit so persönlicher, netter Ansprache und in jedem Detail sinnvoll und mit Liebe zum Laufsport durchdacht. Alle Helfer glänzten mit guter Laune, dem Jahresausklang angemessen.

Fazit: Gerne wieder (wenn’s nicht zu kalt ist, bin halt ein Weichei)!

 


Bildnachweis:

Einige der Fotos im Text wurden freundlicherweise vom Veranstalter Wolff Sports zur Verfügung gestellt (siehe Bildbeschriftung). Alle übrigen Aufnahmen: Ines und Udo Pitsch.

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