26. November 2017

Wider Erwarten - RunMob Rössleweg (Stuttgarter Rundwanderweg) 2017

Schienenfahrzeuge rollen auf Gleisen. Wenig überraschend also, wenn sich Bummelzug und Intercity am S-Bahnhof Obertürkheim bei Stuttgart begegnen. Erstaunlich nur, dass das nebenan auf dem Pendlerparkplatz geschieht und mit einer herzlichen Begrüßung einher geht. Leidgeprüfte Zugreisende wissen beschädigte Oberleitungen, ausgefallene Klimaanlagen, übervolle Toiletten und anderes mehr als Gründe anzuführen, die pfeilschnelle Intercitys zuweilen ihrem Fahrplan mit einiger Verspätung hinterher fahren lassen. Als einmalig im Netzalltag der Bahn darf hingegen gelten, wenn das in die Jahre gekommene Schnauferl und der Schnellzug neben- und hintereinander fast sechzig Kilometer Trasse gemeinsam bewältigen. Du glaubst ich flunkere? - Dennoch trägt es sich genau in dieser Weise zu, ebendort zu Stuttgart im Schwabenland, am letzten Novembersonntag des Jahres 2017 …

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Ich erwartete wenig von diesem Ultralaufsonntag, vor allem wenig Erbauliches. Nach sonnigem Wochenbeginn mit lauschigen 15°C prophezeiten Petrus’ irdische Jünger einen baldigen, novembergemäßen Wettersturz. Der brachte Regen, Wind, Kälte und vielerorts ersten Schnee. Und nun stehe ich auf dem S-Bahn-Parkplatz Obertürkheim und staune über das wider Erwarten passable Wetter: Himmel weitestgehend frei, immerhin ein Grad plus, Windstille, Straßen und Wege teilweise abgetrocknet. Und das Beste: Es soll so bleiben, nur hie und da wird ein bisschen H2O aus dem Himmel fallen - ob in festem oder flüssigem Aggregatzustand bleibt abzuwarten. Angesichts der brauchbaren Witterung fällt mir schon mal ein gewichtiger Stein vom Herzen. Eisiges Mistwetter kann ich nun mal nicht leiden, am allerwenigsten beim Laufen. Kritischer hätte sich jedoch ausgewirkt, dass mein aktueller Trainingszustand nicht für ultraweit verschneite Wege taugt.

Start und Ziel befinden sich auf dem „Park and Ride Platz“ hinterm S-Bahnhof-Obertürkheim. „Park and Ride“ - wobei der „Ritt“ rund um Stuttgart führen soll, ausschließlich auf Schusters Rappen und mit weitgehender Selbstversorgung. Punkt 8 Uhr wollen wir loslaufen. „Wir“ bezeichnet „en gros“ eine Gruppe von 30 UltraläuferInnen und „en detail“ Ramin, der an meiner Seite bleiben wird, und mich. Diesen Ramin stelle ich nach und nach vor, worauf ihr ein wenig gespannt sein dürft. Stattdessen beginne ich mit „en gros“: Der Schwarm der 30 wurde von Chris und Volker rekrutiert und zwar als „RunMob“. Die Wortschöpfung „RunMob“ ist an den so genannten „FlashMob“ angelehnt; bekanntermaßen ein über soziale Medien erfolgender Ruf, infolgedessen sich eine unvorhersehbare Menschenmenge - zu welchem Grund auch immer - zusammenrottet. Der „RunMob“ - semantische Urheberschaft: Volker Drexler, Betreiber der Seite „marathon.schaichtal.org“ und heute nicht dabei - richtet sich dagegen ausschließlich an Läufer. Genauer gesagt an Langstreckler, die mindestens einen Eintrag in der DUV-Statistik als Nachweis ihrer Ultrareife haben müssen.

Ein „RunMob der Volkerschen Art“ bezeichnet also eine Art Lauftreff. Unüblich für Lauftreffs sind allerdings Voranmeldung, erhebliche Distanz der Laufstrecke, deren strikte Festlegung, ein angekündigter Verpflegungspunkt bei Kilometer 30 und die Absicht das Ganze als Wettkampf auszutragen. Startnummern gibt’s keine, der Zieleinlauf wird jedoch mit Reihenfolge und minutengenau festgehalten.

Als Erster unter Gleichen, als „Chief RunMobber“, der selbst mitläuft, fungiert Chris. Von ihm stammt die Strecken-Idee. Außerdem kümmert er sich um die örtliche Orga. Wie viel „Orga“, wird der Lauf erweisen, da lasse ich mich überraschen. Gemeinsam mit Frau und Tochter offeriert Chris vorm Start ein kleines Büffet mit Getränken und Snacks. Dem Angebot spricht jedoch kaum jemand zu. Vielleicht sind die anderen vom zu frühen Frühstück gleichfalls pappsatt, frösteln gleich mir oder stehen einfach nur in ähnlicher Weise neben sich wie ich … Chris’ Tochter hakt in rascher Folge eintreffende RunMobber auf ihrer Liste ab und pünktlich, nach kurzer Begrüßung, kehren wir dem Parkplatz den Rücken.

Offiziell führt unsere Route die Bezeichnung „Stuttgarter Rundwanderweg“. Der Volksmund spricht vom „Rössleweg“, was der auf den Wegweisern abgebildeten Silhouette eines Rappen geschuldet ist. Auch bezüglich der Strecke hielt ich meine Erwartungen vorsorglich im Zaum. Ein Wanderweg um und durch eine deutsche Großstadt? - Ein solcher Kurs verspricht wenig Augenschmaus und noch weniger Highlights. Außerdem: Stuttgart! - ist das nicht die Stadt mit der stellenweise schlechtesten Luft in Deutschland? Eine jener Kommunen, in deren Zentrum demnächst gerichtlich verhängte Fahrverbote für Dieselfahrzeuge drohen?

Auf dem Weg über den Neckar, während beidseits der Blick die Hafenanlagen von Obertürkheim streift, schmeiße ich erstmal alle Bedenken übers Brückengeländer in den Fluss … Nur zweierlei ist im Augenblick von Bedeutung: Der Mann an meiner Seite und die Anfangsreaktion meiner Knochen. Also spalte ich mein Bewusstsein und wende mich äußerlich Ramin zu. Zugleich lausche ich den aus diversen orthopädischen Abteilungen eintreffenden Meldungen: Alles an mir fühlt sich ungelenk an, steif, unausgeschlafen. Ich beneide den quietschfidelen Ramin, der sich als notorischer Frühaufsteher zu erkennen gibt. Nichts schlimmer als morgens laufen „müssen“, erkläre ich ihm; vor allem, wenn ich so früh wie heute aufstehen musste, um die 160 km von zu Hause ins „Ländle“ zu fahren.

So weit den schwer in Gang kommenden „Untoten“ überhaupt etwas überraschen kann, wundert es mich, zehn Minuten nach dem Start Ramin noch immer neben mir zu sehen. Das war nicht verabredet. Gar nichts war verabredet, nicht mal sein Hiersein. Es wird einige Zeit verstreichen, bis mir dämmert, dass er sich zum RunMob spontan nachmeldete, um mir während der kompletten Runde den Hasen zu machen. Seite an Seite nehmen wir die erste Steigung in Angriff. Bereits jetzt hat sich der Schwarm der 30 meinem Gesichtskreis entzogen. Lediglich ein, zwei Läufer erkenne ich zeitweilig voraus. Einigermaßen fordernd bergan. Inzwischen eingelaufen und ohne (Atem-) Not zwinge ich mich konsequent langsam zu laufen. Um Energie zu sparen und meine Achillessehne nicht herauszufordern. Dergleichen Vorzugsbehandlung missachtend hält sie mit ihrer Meinung zu Bergen nicht hinterm Berg und nörgelt leise vor sich hin …

Die Strecke sammelt erste Pluspunkte: Auf sonnigen Hanglagen kultiviert man Reben, zuweilen ziehen verwilderte, wie verwunschen wirkende Obstgärten vorbei und mit jedem eroberten Höhenmeter wird die Aussicht übers Neckartal spektakulärer. Und sie bleibt uns erhalten, die Aussicht. In weitem Bogen auf asphaltiertem Spazierweg um den Bergrücken, zunächst am oberen Rand der Weingärten, nun mit Blick auf Tal- und Höhenlagen des Stuttgarter Südens. Wald und darin eingebettete Stuttgarter Ortsteile so weit das Auge reicht. Etliche Kilometer voraus reckt sich der Stuttgarter Fernsehturm wie ein verfrühter, vorwitziger Spargel in den immer noch blauen Himmel.

Der Fernsehturm steht auf dem Killesberg. Damit habe ich bereits einen erklecklichen Teil meiner geografischen Stuttgart-Kenntnisse ausgeschöpft. Was mir sonst noch in den Sinn kommt, hat weniger erdkundlichen als politisch-wirtschaftlichen Bezug: Mercedes-Benz, Stuttgart 21, … war da noch was? - Kilometerweit traben wir zwischen Schrebergärten dahin. Kleinbürgerliche Idylle, weitab vom großen Geld der Nobelkarossen und den Eklats rund um Bahnhofsneubau oder manipulierte Abgaswerte. Dann übergangslos Wald. Die flach einfallende Morgensonne bringt das spätherbstlich spärliche Laub der Bäume zum Leuchten. Warme Gelb- und Brauntöne beherrschen die Szene, lassen mich Anstrengung und feuchtfrostige null Grad hier oben vergessen.

(Meine) Kurzatmigkeit in Steigungen, zeitweiliges Orientieren und Fotostopps unterbrechen vielfach unseren Dialog. Dennoch reißt der Gesprächsfaden nie ab. Dafür garantiert schon meine Neugier, die endlich Gelegenheit findet nach allem zu fragen, was ich von Ramin schon immer wissen wollte, wofür sich jedoch anlässlich ultrakurzer Begegnungen bei ultralangen Läufen keine Gelegenheit bot. Was er mir erzählt, wovon ich ihm berichte - erlaube mir darüber zu schweigen. Nichts davon ist ehrenrührig oder dramatisch, aber eben persönlich und deshalb nicht laufbericht-tauglich. - Vor meinen Augen tanzen einzelne Schneeflocken, wirken wie schwerelos, segeln letztlich aber doch zu Boden. Schneeflocken aus überwiegend blauem Himmel? Weht sie ein Lufthauch von den Bäumen? - Einander in Rede und Gegenrede aufmerksam zugewandt halten wir Kurs auf einem Waldsträßchen und kommen von der Route ab. Nicht zeitrelevant allerdings, weil der Rössleweg auf diesem Abschnitt parallel zur Straße im Waldrand verläuft. Erst der Zuruf eines Radlers klärt den Irrtum auf. Und dieser Radler gibt sich als Bekannter von Ramin zu erkennen, der mit schussbereiter Kamera auf ihn wartete …

Wo vierspurige Straße und Gleis der Straßenbahn eine breite Schneise in den Stuttgarter Stadtwald schlagen, holt Ramin mich wieder ein. Gemeinsam halten wir am jenseitigen Straßenrand nach Markierungen Ausschau und entdecken die von Chris vor Wochen ausgebrachten weißen Pfeile. Sie helfen an jenen Stellen weiter, wo sich das vergleichsweise unauffällige „Rössle“ zu gut tarnt oder gar fehlt. Jenseits der sonntäglich verwaisten Verkehrsader tauchen wir sofort wieder im Wald ab und ein paar Meter weiter erinnert nichts mehr daran in einer quirligen deutschen Großstadt unterwegs zu sein. Kein Laut dringt durch dichten Forst. Lediglich unsere Stimmen und das dezent patschende Geräusch von Sohlen auf feuchtem Laub sind zu vernehmen. Unterdessen hat sich das Schneegrieseln bis an die Grenze zu ernsthafter Belästigung verdichtet. Ein Blick durch lichte Baumkronen in den Himmel erklärt wieso: Wo Minuten zuvor luftiges Blau dominierte, lastet nun einförmiges Grau. Egal. Sollte der Schneefall dichter werden, setze ich die im Laufrucksack verwahrte Schildkappe auf. Außerdem versprach der Wetterfrosch Petrus werde sich mit kurzen Schauern bescheiden.

Mein Vertrauen in die Segnungen der Elektronik ist begrenzt. Das gilt auch für GPS-basiertes Ablaufen einer im Internet - von der GPSies-Seite oder wo auch immer sonst - down-ge-load-eten Strecke (neuhochdeutsch: Track). Heute teste ich diese Orientierungshilfe auf der Laufuhr meiner Frau Ines, einer Suunto Ambit3Run. Trotz umständlicher Bedienungsprozedur gelang es mir die Track-Verfolgung zu starten. Seither wiegt mich ein kleiner, schwarzer Pfeil auf schwarzer Linie in Sicherheit: Du bist auf korrektem Kurs! Irgendwann fällt mir auf, dass der am unteren Rand des „Zifferblatts“ eingeblendete Maßstab hie und da zwischen 100 und 500 Meter umschaltet. Wann oder warum das geschieht, erschließt sich mir nicht - vermutlich weil ich null Bock habe über dieses „Fietscha“ nachzudenken. Dass die in Zifferblattmitte fixierte Pfeilspitze stets eingenordet bleibt, mir folglich auch auf den Bauch oder in jede andere Richtung zeigen kann, ist ein wenig gewöhnungsbedürftig und lässt mich Kursänderungen bisweilen seitenverkehrt vorhersagen. Im Großen und Ganzen staune ich allerdings über die Präzision des Hexenwerks und gerate augenblicklich in Unruhe, wenn Pfeil und Strich getrennte Wege gehen.

So wie jetzt. Angeblich verläuft der Rössleweg links von uns. Vielleicht gibt es dort einen Weg!? Doch von hier, vom Hauptweg, aus erkenne ich nur laubbedeckten Boden zwischen Bäumen. Ich laufe ein Stück zurück, forsche nach einem Abzweig, finde aber keinen. Ramin, aufgewachsen und wohnhaft in Stuttgart, gelegentlich zu Trainingszwecken auf Abschnitten des Rössleweges unterwegs, beharrt auf dem gegenwärtigen Kurs. Den Ausschlag gibt schließlich ein von weiter hinten herannahender und wild in die bisher eingeschlagene Richtung deutender Mitläufer. Zweihundert Meter weiter stehen wir vor der nächsten Straße und das am Pfosten eines Schildes klebende Rössle-Emblem scheint meinen GPS-Wecker einer ersten Lüge zu überführen*.

*) Auf einigen, allerdings kurzen Abschnitten wich der bei GPSies runtergeladene Track von der tatsächlichen Ausschilderung des Rössleweges ab. Offensichtlich dort, wo der Track-Ersteller nahezu parallel verlaufenden Irrwegen folgte.

In einem Stuttgarter Wohngebiet unterwegs. Erst in mäßigem Gefälle, dann nach links und fordernd bergauf. Wie fordernd wird beim Überqueren des Straßenbahngleises deutlich. Von wegen Straßenbahn: Ohne Ramins fremdenführerischen Hinweis hätte ich die mittig zwischen den Schienen verlaufenden Nocken der Zahnstange vielleicht übersehen. Seit 1884 verbindet eine Zahnradbahn das Zentrum Stuttgarts im Tal mit dem auf dem Berg gelegenen Stadtteil Degerloch. - Der von hinten herbei geeilte, vorhin Zeichen gebende und vermutlich verspätet gestartete Läufer überholt uns wortlos in einer dieser Straßen. Stückweit voraus biegt er links ab und sät Zweifel. Bei mir, weil mein GPS-Pfeil geradeaus weist, bei Ramin, weil er die Strecke zu kennen glaubt. Fünfzig Meter weiter schwenken auch wir nach links und reihen uns Minuten später hinter dem aus einer Seitenstraße auftauchenden Unbekannten wieder ein.

Das Stadtteil-Intermezzo währt nur Minuten und endet abrupt im Wald. Wald, der hier mit einer hauchfeinen Neuschneeauflage den Winter probt. Dichter, scheinbar gesunder Forst, der einem die unweit im Tal real existierenden Umweltsünden aus Feinstaub und Stickoxiden ausreden will. Schlechte Luft in dieser Stadt? Wie denn? Wo denn? Hier gibt es nur Bäume. Darüber hinaus ein bildschönes Biotop. Der Tümpel am Wegrand erzwingt einen Fotostopp. Unwiderstehlich, wie sich inzwischen wieder blauer Himmel und kahle Bäume auf stiller Oberfläche spiegeln. Ein umgestürzter, halb versunkener Baum vermittelt den Eindruck unangetasteter Natur. Ist die Pfütze künstlichen Ursprungs? Natürlich? Kunstvoll naturbelassen? Einerlei, jedenfalls vermerke ich sie als weiteren Pluspunkt auf der Habenseite des Rössleweges …

Derlei Impressionen und der andauernde Dialog drängen die Wahrnehmung unguter innerer Signale in den Hintergrund, vermögen sie allerdings nicht aufzuheben. Immer mal wieder muckert die Sehne, zeitweise zieht es schmerzhaft in der linken Wade und nach derzeit erst 12 Kilometern meldet mein Akku einen zu tiefen Ladestand. Knapp ober- und unterhalb des Gefrierpunktes fällt mir Laufen unendlich schwer und mein ansonsten verlässliches Laufgefühl zeigt sich maximal „irritiert“. Also mag ich mich irren, hoffe es gar inständig, unterstelle mir dennoch eine miserable Tagesform. Sollte sich die Vermutung bewahrheiten, werde ich leiden wie ein geprügelter Hund …

Meine Stimmung könnte trotzdem kaum besser sein, was nicht zuletzt Ramin „anzulasten“ ist. Mal bringt er mich zum Lachen, spielt hie und da den Fremdenführer oder macht mich auf Details aufmerksam, die meiner Selbstzentrierung zum Opfer gefallen wären. So wie jetzt der Spruch „ICH LIEBE DICH ÜBER ALLES BABY“, den ein sich in Sehnsucht verzehrender Adam dem Objekt seines Begehrens widmete und auf eine Schranke pinselte. Ich nehme den Satz als Foto mit und - so viel sei verraten - nicht nur, um ihn der verehrten Leserschaft im Laufbericht zu präsentieren …

Kurz vor der Schranke erwähnte Ramin einen „Friedhof“. Kein Indiz beidseits des Weges deutet auf einen Gottesacker hin. Nirgendwo die üblichen Mauern, kein Gräberfeld. Also messe ich seiner Bemerkung keine Bedeutung bei und vergesse sie beinahe augenblicklich. Erst daheim, beim Studium der in Google Earth eingeblendeten Streckenaufzeichnung, erschließt sich mir, wessen sterbliche Überreste nahebei, höchstens 300 Meter abseits der Schranke und seit ziemlich genau 40 Jahren, begraben liegen: Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Die im Gefängnis Stuttgart-Stammheim inhaftierten Terroristen der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) entzogen sich ihrer Verantwortung durch Selbstmord. Just in dem Moment als der Versuch einiger Gesinnungsgenossen scheiterte, das Führungstrio der „ersten Generation“ der RAF durch Entführung von Hans-Martin Schleyer* und einer Passagiermaschine mit deutschen Urlaubern an Bord freizupressen. Die arabischen Unterstützer der RAF, als Terrorkommando an Bord der gekaperten Boeing 737, wurden im Handstreich überwältigt, die Passagiere befreit, Hans-Martin Schleyer* daraufhin kaltblütig ermordet …

*) Hans-Martin Schleyer stand 1977 als Präsident an der Spitze der deutschen Arbeitgeberverbände. In dieser Funktion galt er der RAF als einer der führenden Repräsentanten des Systems, das sie mit Terror bekämpften.

„ICH LIEBE DICH ÜBER ALLES BABY“ - vielleicht hätte ich den gefühlsseligen Spruch nicht fotografiert, wäre ich mir der Nähe von Hass und Unmenschlichkeit bewusst gewesen. Vielleicht aber gerade deswegen, um vergangenem Schrecken die Stirn zu bieten. Ich habe die Ruhestätte im Vorbeitraben nicht gesehen, ihr Vorhandensein nicht einmal erahnt. Insofern gibt es eigentlich nichts zu „berichten“. Dass ich dem Ort dennoch im Laufbericht Raum gebe, mag dir verdeutlichen, wie atemlos und schreckensstarr der damals junge Mann das Geschehen als Zeitzeuge verfolgte und wie tief der Horror jener unseligen Tage, der so genannte „Deutsche Herbst“, in seine Seele schnitt. Mordende IS-Verbrecher? Fehlgeleitete Unmenschen, die wahllos Unschuldige töten, um ihre kruden, alle (guten) Errungenschaften der letzten 2000 Jahre verleugnenden Ziele zu verfolgen? - Alles schon da gewesen, wieder mal: „Im Westen nichts Neues“!

Unbelastet von alldem überquere ich an Ramins Seite eine Straße. Wir traben über einen Parkplatz und werden angesprochen: „Gehört ihr auch zum Lauf? Wollt ihr einen Tee oder eine heiße Brühe?“ - Tee ist nicht so mein Fall aber beim Wort „Brühe“ läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Wir erfahren vom Gegenüber, dass er auf eine von ihm betreute Läuferin wartet. Hat man mir je etwas Köstlicheres gereicht als diese Brühe? - Ein bisschen Zickzack zwischen Gebäuden, Fahrzeugen einer Gärtnerei und abgeladenen Gestecken. Gestecken, die man zum Gedenken auf Gräber legt, was dann doch noch unmissverständlich die Nachbarschaft eines Friedhofs bezeugt. Ein kurzer Abstecher in die falsche Richtung, korrigiert von Augenschein und Uhr, ein paar asphaltierte Meter, dann umgibt uns neuerlich Wald und es geht abwärts. Abwärts durch einen Hohlweg, der sich rasch zur spektakulären Klamm vertieft. Ich schicke Ramin zur Bildbelebung voraus, halte herbstliches Rotbraun und bloß liegende Bodenformationen im Bild fest. Mittlerweile weise ich den Gedanken, die Strecke könnte irgendwann doch noch hässliche Ansichten präsentieren, weit von mir …

Besteigung des „Monte Scherbelino“. Die Ausschreibung des „RunMobs“ bereitete darauf vor, dass wir zu diesem Aussichtspunkt würden aufsteigen müssen, wollten wir die Laufaufgabe zur Gänze erfüllen. Spiralförmig auf Asphalt hinan … einigen bereits im Abstieg begriffenen Laufkameraden entgegen … auf sich stetig verengender Rechtskurve … unter just in diesen Minuten durch die Wolken blinzelnder Sonne … Ramin voran auf maßvoller Steigung … vorbei an einem Verpflegungspunkt … weiter rechts rum und auf einen erste Anhäufung von Trümmerteilen zu … Seit Minuten weiß ich von Ramin, dass es sich bei der vom Volksmund als „Monte Scherbelino“ bezeichneten Erhebung um einen Trümmerberg handelt. Genauer: Die Kuppe des Birkenkopfes wurde in den 1950er Jahren durch Ablagern von 1,5 Millionen Kubikmeter Trümmerschutt aus dem Zweiten Weltkrieg um einige Meter aufgestockt. Einige der blank liegenden Trümmer sind unschwer als Bruchstücke ehemaliger Friese oder sonstiger Fassadenverzierungen zu identifizieren. Ein letzter Rechtsschlenker, dann stehen wir auf dem Gipfelplateau unter himmelstürmendem Kreuz. Und in nordöstlicher Richtung, über Baumwipfel hinweg spähend, liegt uns ein Großteil Stuttgarts zu Füßen …

Kurzer Halt in der Flanke des „Monte Scherbelino“ an völlig unerwarteter Tränke. Angekündigt waren lediglich zwei Verpflegungspunkte, bei Kilometer 30 und im Ziel, nicht schon hier, nach nur 20 Kilometern. Ich schenke mir eine Cola ein und stürze sie mit Gier hinab. Während noch die Kohlensäure in Mund und Rachen perlt, wird mir mein Fehler bewusst: Zu wenig getrunken! Viel zu wenig, sonst plagte mich nicht jetzt schon der Durst. Bei Temperaturen knapp über der Frostgrenze meinte ich wenig Flüssigkeit zu brauchen. Andererseits habe ich mich recht warm, am Oberkörper in drei Schichten, verpackt. Offensichtlich zu warm, was ich mit vermehrtem Schweißverlust sühnen muss. Und wenn schon. Lieber zu warm als zu kalt! Wasser kann ich nachfüllen. Also schütte ich zwei weitere Becher Cola hinterher und beschließe überdies dem Inhalt meiner Trinkflaschen nun häufiger zuzusprechen …

Neuerlich im Wald, was sonst. Mal abwärts, stückweit flach dahin, wieder rauf, alsbald runter, alles recht moderat. Wir traben bester Stimmung voran, tauschen uns aus oder schweigen beredt. Das Schweigen überwiegt inzwischen, was normal ist. Nicht „normal“ ist die Schwere meiner Beine nach nur 25 Kilometern. Ich habe bereits den Versuch unternommen mit einem Extra-Gel gegenzugesteuern, spüre jedoch keine Erleichterung. Bedenken schlappzumachen hege ich deshalb keine. Wohl aber meinen laufstarken Begleiter mit demnächst und zunehmend verschlepptem Tempo zu nerven. Denn überlicherweise spielt Ramin Madani in einer höherklassigen Liga, konnte in diesem Jahr unter anderem den von der Deutschen Ultramarathon Vereinigung ausgelobten DUV-Cup gewinnen!

Die Suunto schlägt Alarm! Nicht akustisch, dafür strebt der kleine Pfeil im rechten Winkel weg von der vorgezeichneten Route! Nach ein paar hundert Metern zweigen wir im spitzen Winkel ab und nähern uns dem gelobten Land … äh … Track. Schlussendlich fangen wir ihn wieder ein (nachträgliche Messungen in Google Earth ergeben einen Umweg von ca. 800 m).

Pflastersteine unter den Füßen, ein sanft ansteigender Weg, rechts und links davon Schrebergärten. Schrebergärten? - Zu einem gewissen Teil gewiss, aber neuerlich auch sorgsam zurück geschnittene Reben, auf kleinen Parzellen in Reih und Glied gepflanzt. Weinbau mit an diesem Ort eher „kleingärtnerischem“ Charakter. Schwer vorstellbar, dass in wirtschaftlichen Größenordnungen denkende Winzer sich mit solch kleinen Mengen beschäftigen. - Ende des gepflasterten Weges. Sackgasse. In Höhe eines kleinen Wendeplatzes biegen wir hangwärts ab, um wieder zwischen Bäumen zu verschwinden. Ramin gelingt das Manöver unbeschadet. Ich dagegen setze erst meinen Fuß auf ein schräges Rasenstück und anschließend einen Haken hinter den mir vom Schicksal für heute zugedachten Sturz. Ramin springt mir bei und nach Abklingen des Adrenalinschubes ist rasch klar, dass mein Ausrutscher folgenlos blieb. Die Mär vom stets präsenten Schutzengel wurde wahrscheinlich erdacht, um ängstliche Kinder zu beruhigen - mehr und mehr bin ich jedoch geneigt sie für bare Münze zu nehmen. Immer wieder streckt mich Ungeschick bei Wettkämpfen nieder und nie wurde ich ernsthaft verletzt. Was mir heute widerfahren wäre, hätte ich meinen Fall mit dem Schädel statt mit dem Arm auf wegbegrenzendem Steinquader abgefangen, mag ich mir lieber nicht ausmalen …

Kilometer 30: Der Verpflegungspunkt kommt zur rechten Zeit. Ich stille meinen wachsenden Durst, fülle die Flaschen wieder auf und probiere eines der feilgebotenen Gels. Schon als mir die zäh-klebrige, dunkelbraune Creme beim Aufschrauben der Tube entgegen quillt, bereue ich meinen Fehler: Schokoladengeschmack hoch sieben, von unermesslich ätzender Süße. Ganz und gar widerlich! Luft anhalten - Mund und Rachen mit Wasser ausspülen - rasch schlucken - weiteratmen - abschließend ein paar Salzstangen mampfen, um die zerrütteten Geschmacksnerven wieder zu beruhigen. Wir bedanken uns beim Helfer, der unseretwegen stundenlang am feuchtkalten Waldrand ausharrt und setzen uns gehend, da noch hantierend, wieder in Bewegung - allerdings in die falsche Richtung, bis uns der Ruf des anfänglich abgelenkten Helfers alarmiert …

Die Befürchtung, ich könnte einen meiner formschwächeren Tage erwischt haben, hat sich zur Gewissheit verdichtet. Jede halbwegs spürbare Steigung lässt mich nun schon heftig schnaufen und bei jedem Schritt schmerzen von der Gürtellinie abwärts alle Fasern. Kein Grund am finalen Erfolg zu zweifeln. Als Laufpartner komme ich in dieser Verfassung jedoch nicht in Betracht, tauge allenfalls dazu … betreut zu werden. Das Empfinden von Unterlegenheit gaukelt mir zwar keinen Rollstuhl schiebenden Ramin vor, dafür spült es von Zeit zu Zeit Bilder früherer Marathonläufe ins Bewusstsein. Marathonstrecken, auf denen ich ausdauerschwächere Schützlinge begleitete und mit viel Zureden und Bangen schlussendlich ins Ziel bugsierte …

Mit Holz eingefasste Treppenstufen, laubbedeckt. Hochkonzentriert, um nicht zu stolpern und im Laufschritt tippele ich aufwärts: Na bitte! Geht doch noch! Aber was sind schon diese handvoll, zudem flachen Tritte gegen die Mega-Stiege, die uns kurz darauf den Weg verlegt? - Schätzungsweise 80 bis 100 Stufen überwinden das so genannte „Kotzenloch“. Weder kenne ich den Namen des Naturdenkmals, noch weiß ich zu diesem Zeitpunkt, dass die Abbruchkante entstand, weil Feuerbacher Winzer hier in früheren Zeiten Mergelerde abbauten, um damit ihre Reben zu düngen. Meiner Kamera und mir verschafft der Ort Schwerstarbeit … Als ich nach mehrfachen Fotostopps schwer atmend oben ankomme, wartet Ramin ein paar Meter in Laufrichtung voraus und blickt über das in der Talwanne „schwimmende“ Häusermeer von Stuttgart-Feuerbach.

Eine aufregende Perspektive, ähnlich dem Blick in eine Arena. Die an dieser Stelle bestehende „abgestufte Nutzung“ wird uns auf den nächsten fünf, sechs Kilometern begleiten: Unten Wohnen und Arbeiten in Feuerbach, an den Hängen Weinbau, oben und ringsherum der Rössleweg, von dem aus wir die Darbietung „Leben in Stuttgart“ bestens und weithin beäugen können. Einschränkung: Ein weiterer, vergleichsweise kurzer Waldabschnitt nimmt uns für Minuten jegliche Aussicht. Außerdem geben wir den Logenplatz zeitweilig auf, um „da unten“ ein paar hundert Meter im Zickzack durch Feuerbacher Straßen zu wetzen und uns am Gegenhang mühsam (für Udo) wieder empor zu kämpfen. Was sich jedoch letztlich verfestigt, ist der Eindruck eines Häusermeers zwischen Weinbergen. Einer Stadt, die man nicht wirklich als Metropole begreift, in der man eher kleinstädtisches Leben vermutet. Indem ich diese Impression in Worte fasse, erinnere ich mich an eine entsprechende Bemerkung von Ramin, mit der er vor Stunden seinen Heimatort charakterisierte.

Ramin der Fremdenführer: Benennt die Stadtteile, kennt diesen oder jenen wichtigen Betrieb, zeigt mir voraus das wie eine Burg auf windiger Höhe thronende Robert-Bosch-Krankenhaus und gibt auch sonst mancherlei Wissenswertes zum Besten. Unterdessen reagiere ich auf seine Worte meist nur noch mit einem zustimmenden Laut. Oft eine Art Brummen, vielleicht auch mal ein karges „Ja!“, „Aha!“ oder „Okay!“ - Damit signalisiere ich „ist angekommen!“ oder „habe verstanden!“, will ihn aber auch ermuntern im Sightseeing-Modus zu bleiben. Für längere Wortbeiträge will ich keine Kraft verschwenden, so sie nicht der Streckenfindung oder unerlässlichen Absprachen dient. Mein Siechtum hat sich verlangsamt und ich bin nach wie vor guten Mutes. Ein unaufdringlicher, zumal geduldiger Laufpartner an meiner Seite, gelegentlich Sonne vom Himmel, trockene Laufwege, ein paar Plusgrade (ca. 4°C) - was will ich im November mehr?

Dank Ramin komme ich auch zum dritten Mal in den Genuss externer Labsal. Solo unterwegs hätte ich den unbemannten Verpflegungspunkt - etwa 20 Meter neben der Strecke, auf der Balustrade eines Pavillons hergerichtet - übersehen. Weil ich nichts davon wusste und meine Augen ständig zwischen Weg und Aussicht hin und her pendeln. Versprochen war nur eine Tränke unterwegs, nun sind es schon drei. Chris hat sich enorm angestrengt!

„Marathon geschafft!“ raune ich meinem Begleiter zu und freue mich „nur“ noch etwa 15 Kilometer vor mir zu haben. Kein Zweifel: Der absolvierte Marathon samt seinen An- und Abstiegen hat mich erschöpft und meinen Bewegungsapparat in eine Ansammlung schmerzenden Gewebes verwandelt. Anlass genug aufzuhören. Zwei Gründe „zwingen“ mich allerdings zum Weiterlaufen. Erstens steht an dieser Stelle kein Zieltor! Ohne Zielerreichung kein Erfolg und ohne Erfolg fahre ich nicht heim. Basta. Außerdem bin ich hier, um meinen Körper für Strecken jenseits der Marathondistanz zu konditionieren, muss mich also durchbeißen … Nicht, dass ich dergleichen sauber ausformuliert dächte. Beides zirkuliert in meinen Hirnwindungen in Form alternativlos selbstverständlicher Impulse, die sich im selben Maße aus Willenskraft speisen, wie die physische schwindet …

Ich denke ohnehin recht wenig Konkretes, überlasse mich eher Gefühlen und Eindrücken. So wie jetzt, da unter uns eine Schleife des Neckars sichtbar wird und jeden Passanten mit einem der berauschendsten Panoramen der ganzen Route belohnt. Eine Aussicht, die offensichtlich jedermann verführt und alle Augenpaare magnetisch festhält. Als uns zwei Läufer bergwärts entgegen kommen werfe ich einen Blick auf mein GPS: Pfeil und Route bilden keine Einheit mehr! Steil aufwärts zurück, gottlob höchstens 50 Meter. Schließlich im spitzen Winkel auf einen schmalen, steil abwärts führenden Steg abbiegen. Kontrollblicke: Pfeil und Strich auf der Uhr feiern Wiedervereinigung und am Pfosten des Geländers neben mir wiehert das kleine, schwarze Rössle.

Runter bis fast auf Uferniveau, alsbald über eine Neckarbrücke und dem jenseitigen Ufer folgen. Baumbestandenes Flussufer, Weinberge voraus und die Sonne taucht den Nachmittag in kräftige Farben - Idylle pur. Mitten in einer Großstadt? - Zwar sagt der Rössleweg dem Ufer alsbald ade, krabbelt über Straßen und Treppen am Hang empor und schickt uns zudem kilometerweit an Behausungen vorbei. Den Eindruck provinzieller Abgeschiedenheit vermag der Stadtteil dennoch nicht zu leugnen. Bevor wir der Wohnstraßen überdrüssig werden können, galoppiert das Rössle in Richtung Abbruchkante und gibt uns die wunderbare Fernsicht über Stuttgart zurück.

Einen weitaus stärkeren Laufpartner an seiner Seite zu wissen hat ungeahnte Vorteile. Zum Beispiel kannst du ihn jederzeit ohne schlechtes Gewissen darum bitten dir die Trinkflaschen aus deinem Laufrucksack zu reichen. Du kommst auf diesen Gedanken, weil die Flaschen dort so bescheuert verstaut sind, dass nur Houdini sie zu fassen bekäme. Und wenn du deinen Durst gestillt hast, wird dein Begleiter sie dort auch wieder klaglos versenken. Der Zeitgewinn durch die Unterstützung ist mir egal. Es ist halt bequem den blöden Rucksack nicht jedes Mal zum Trinken abstreifen zu müssen. Und als noch angenehmer empfinde ich, mich nicht wie sonst anlässlich jedes Trinkvorganges darüber ärgern zu müssen, dass man mir einen solchen Mist in einem angeblichen Fachgeschäft für Trailläufer andrehte …

Straßen, Wohnungen, andere Verkehrswege, auch mal Gemüsefelder auf denen Ramin Reste abgeernteten Rucolas entdeckt, immer wieder Schrebergärten, hie und da Weinbau. Langsam arbeiten wir uns vorwärts und schließlich steht eine „50“ im Zählwerk meiner Uhr. Nicht mehr weit. Vertikal beanspruchten mich die letzten Kilometer kaum. Im steten Wechsel auf und ab zwar, jedoch ohne ernsthafte Steigungen. Vor den Erfolg haben die Laufgötter aber noch einen Olymp gesetzt. Na ja, eher ein „Olympchen“, auf dessen Kuppe ein sakrales Bauwerk steht, das mir Ramin schon heute morgen von der ersten Anhöhe aus zeigte und mit dem bescheidenen Wort „Kapelle“ bedachte. Inzwischen fangen meine Augen die „Kapelle“ geschätzte zwei Kilometer Luftlinie voraus auf ihrem Hügel ein. Der mutmaßliche Weg dorthin mutet verdächtig harmlos an. Doch dann senkt er sich erst einmal einer Mulde entgegen …

Runter, immer weiter runter, erst auf Asphalt, dann über Kopfsteinplaster, zwischen Reben dahin, auf die Erhebung zuhaltend. Horizontal nähern wir uns an, vertikal scheint das Gotteshaus immer weiter entrückt … Schließlich doch wieder aufwärts. Wenig fordernd zu Anfang, um den Hügel herum, schließlich einen mit Reben bestandenen Hang steiler hinan. Noch immer habe ich keine Ahnung, was mich dort oben erwartet, erwarte mithin auch nichts. Neuerlich fulminante Weitsichten, so viel ist klar, aber das ist schließlich nichts Neues. Nach zweihundert Metern eine Linkskurve und dann liegt sie fast schon auf gleicher Höhe, die „Kapelle“. Was ich da - immer noch etwa einen halben Kilometer entfernt - ausmache, gleicht eher einem ausgewachsenen Tempel. Lage sowie Ausgestaltung mit Säulen und Kuppel verleihen dem Gebäude einen Hauch von Akropolis. Die Qual, weil ich meinem ausgelaugten Körper letzte Reserven abverlange, um überhaupt hier rauf tippeln zu können, wird schlagartig von Neugier überlagert: Was um alles in der Welt ist das für ein Bauwerk? Notabene ein Bauwerk zu dem außer uns Läufern viele sonntägliche Ausflügler pilgern. Ein Bauwerk inmitten einer sorgsam gepflegten, parkähnlichen Umgebung. Wenige Schritte noch, steinalte Bäume passierend, mit - wie vorhergesehen - atemberaubendem Weitblick über die Schwabenmetropole, dann tippele ich um eine Kurve und stehe vor einem Koloss, der die Bezeichnung „Grabkapelle“ als hemmungslose Tiefstapelei entlarvt.

Angestrahlt von der tief stehenden Nachmittagssonne scheint das monumentale Mausoleeum von innen zu leuchten. Ich nehme mir die Zeit und lese die Inschrift einer Tafel: „Grabkapelle auf dem Württemberg - Erbaut 1820 - 1824 von Hofbaumeister Giovanni Salucci an Stelle der 1819 abgetragenen Stammburg des Hauses Württemberg als Grablege für Königin Katharina (1788 - 1819) und König Wilhelm I. von Württemberg (1781 - 1864)“. Du willst schauend verweilen, Kanten und Rundungen erfassen, Details dir einprägen, vielleicht dem Geist des Ortes nachspüren. Nicht möglich, dir fehlt die Muße, denn du bist Läufer im Wettkampf. Alsbald umrunden Ramin und ich das Mausoleum, genügen unserer Wettkampfpflicht und traben auf dem Herweg zurück. Was mich angeht mit absichtlich verschlepptem Tempo. Zu verlockend ist die Aussicht von hier oben. Etliche Megapixel finden so noch den Weg in den Memory meiner Digicam …

Am Fuß des Württembergs, mit unterdessen fast 56 Kilometern in den Beinen, wenden wir uns ostwärts. In mir keimt die Hoffnung auf dem Rest des Weges allenfalls noch Höhe preisgeben zu dürfen. Ganz so einfach wird es mir dann doch nicht gemacht, zwei kurze Anstiege haben meine Beine noch zu verkraften. Auch die bewältige ich tippelnd, wie alle anderen zuvor. Gehen kommt nicht in Frage, so lange Schwäche mich nicht dazu zwingt. Endlich senkt sich der Weg, verliert in der Flanke der Anhöhe und zwischen Weinbergen an Höhe. Wir scheuchen einen Schwarm Krähen auf, die hoch über unseren Köpfen erst durcheinander schwirren, um schließlich in Gegenrichtung davon zu fliegen. Einer Treppe opfern wir den Löwenanteil der Resthöhe, sind schließlich vom Ortsrand Obertürkheims nur noch einen Steinwurf entfernt.

Über weitere Treppen und steile Fußwege durchqueren wir Obertürkheim und erreichen den Brückenschlag über die S-Bahntrasse. Die letzten Meter: Hinter der Brücke Richtung Parkplatz abbiegen, sanft abwärts, zuletzt unter Beifallsbekundungen von Chris, der inzwischen das Ziel „betreibt“ und die Eingangszeiten notiert, den Parkplatz erreichen. 7:50 lange Stunden sind um. Wie ausgelaugt ich tatsächlich bin, werde ich erst zu Hause merken. Rasch ziehe ich mich am Auto um und werfe zusätzlich eine dicke Winterjacke über, will keine Erkältung riskieren. Mit Zielbier anstoßen, ein paar Snacks einwerfen, Chris für die tolle Ausrichtung danken - dann ist der Zeitpunkt des Abschieds gekommen. Natürlich nicht ohne mich herzlich bei Ramin für die Begleitung zu bedanken. Die Runde hat mir unzählige Ansichten Stuttgarts gezeigt, wirklich näher gebracht hat sie mich jedoch einem wunderbaren Menschen.

 

Fazit zum Lauf

Wer dem Rössleweg folgt heimst eher ein Landschafts- als ein Cityerlebnis ein. Man ist auf langen Passagen im Wald, mehrere Kilometer mit guter Fernsicht und nur zu geringem Teil in bebauter Umgebung unterwegs. Wer diesen Rundweg nicht kennt, wird überrascht und begeistert sein. Die Streckenlänge beläuft sich real - Verlaufen rausgerechnet - auf etwa 57 km. Kürzere Streckenangaben unterschlagen möglicherweise die „Besteigung“ von „Monte Scherbelino“ und den Abstecher zur Grabkapelle auf dem Württemberg. Ins Reich der Fantasie gehören auch vierstellige Höhenmeterangaben. Tatsächlich gilt es etwa 950 Höhenmeter zu überwinden.

Beiden Verantwortlichen muss man bescheinigen eine tolle Veranstaltung auf die Beine gestellt zu haben. Chris, als Organisator vor Ort (zugleich Teilnehmer!) und Volker, der seine Internetseite zur Verfügung stellte und die Auswertung vornahm. Ein „RunMob“ ist kein Selbstläufer, auch wenn er prinzipiell als Selbstversorgerlauf ausgeschrieben wird.

Fazit: Sollte der Lauf wiederholt werden und in meine Zeitplanung passen - gerne wieder!

 

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