12. November 2017

Laufen in der Anstalt  -  Indoor Marathon Nürnberg 2017

Zählt man zügig bis 55, so dauert das kaum eine Minute. Liegt zwischen zwei Zahlenwerten jedoch eine 767 Meter lange Laufrunde, bestehend aus zwei Treppenhäusern und den Fluren eines Bürogebäudes, dann dehnt sich der Zählvorgang zu einer halben Ewigkeit. Womit bereits grob skizziert wäre, worauf ich mich heute einlasse und an welchem Ort meine Marathonsammlung um ein weiteres, recht bizarres Exemplar wachsen soll: Das Gebäude des TÜV Rheinland in Nürnberg. Alljährlich Schauplatz einer der abgefahrensten Laufveranstaltungen sicher nicht nur des deutschsprachigen Raumes.

Auf der nach oben offenen Skala des „Haben-die-noch-alle-Tassen-im-Schrank?“ belegt der „Indoor Marathon“ einen Spitzenplatz. Für einen Tag gleicht das TÜV-Gebäude einem Institut, in dem sich einschlägig Kranke zur Therapie einfinden. Keine geschlossene Anstalt, denn in ein paar Stunden dürfen wir seelisch aufgebaut und körperlich - ein jeder seiner Trainingsverfassung entsprechend - gebrochen das Therapiezentrum wieder verlassen. Unter „wir“ subsummiere ich ungefähr 350 „Patienten“, die entweder als Staffel oder einzeln zum Marathon sowie solo für die halbe Marathondistanz angemeldet sind. Einige der ganz schweren Fälle, samt und sonders dem Laufwahnsinn unrettbar verfallen, kenne ich persönlich …

Gleich nach dem Eintreffen schließe ich meinen Freund und Veranstalter des „Sommeralm Marathons“ Kraxi in die Arme, der den weiten Weg aus seiner steirischen Heimat ins feuchtkalte Nürnberg nicht scheute. Begrüße alsbald die Burger-Zwillinge, Rüdiger und Frank, deren Abenteuerdurst mit dem „Spartathlon“ 2016 nicht gestillt war. Vor zwei Wochen, barfüßig auf der Marathonstrecke durch die Frankfurter City, konnten sie ein weiteres Symptom fortgeschrittener „läuferischer Umnachtung“ nicht länger verbergen … Der Volker aus dem Schaichtal ist gleichfalls hier. Jener Volker, der über Jahre den Schaichtal Marathon veranstaltete und nun immer wieder zu - wie er es nennt - „RunMobs“ aufruft. Der Begriff ist dem Wort gewordenen Unfug so genannter „Flash Mobs“ entlehnt, bezeichnet folglich einen Laufaufruf, infolgedessen sich eine Gruppe hochgradig Laufkranker irgendwo im Schwäbischen einfindet, um ultraweit durch die Gegend zu irren … Nach Volker laufe ich Roland in die Arme, ebenfalls ein reichlich irregeleitetes Laufindividuum, dem heuer die Teilnahme an den meisten Etappen des Deutschlandlaufes nicht genug war. Darüber hinaus setzte er sich zum Ziel das im ersten Anlauf verpasste Finish des „Spartathlons“ nachzuholen, was ihm Anfang Oktober schlussendlich gelang.

Damit sind allerdings nur jene Fälle hoffnungslosen Laufwahnsinns aufgezählt, mit denen ich persönlich bestens vertraut bin. Neben ihnen kreisen weitere „Patienten“, die ich gelegentlich mehrfacher gemeinsamer Therapien nur vom Sehen und dem Namen nach kenne. Bedauernswerte Geschöpfe, deren Krankheit schon vorzeiten das Stadium „unheilbar“ erreichte. Etwa der Österreicher mit den meisten Marathons, Gerhard Wally. Einer kleinen, am Laufshirt angehefteten Plakette zufolge befindet er sich hier beim TÜV auf dem Weg zum 637. Marathon. Zwei Hutträger sind unterwegs, der eine mit braunem Leder-, der andere mit grünem Strohhut. Ersteren trifft man häufig auf fränkischen Laufstrecken, Letzterem begegnete ich zuletzt im Sommer bei Kraxis „Sommeralm Marathon“ in der Steiermark. Von anderen wird noch zu berichten sein, doch nun erst einmal zu mir selbst. Dass ich all diese „kranken Typen“ so gut kenne, hat schließlich einen Grund …

… denn ein bisschen fröne ich mit jedem Lauf meiner Sammelleidenschaft. Dieses Dauermotiv tritt derzeit allerdings in den Hintergrund. Der Indoor-Marathon bildet ein weiteres Glied in einer (noch) losen Kette von Vorbereitungsläufen, um wieder in Schwung zu kommen. Für mich hat das Laufjahr 2018 längst begonnen, weil mein Saisonhöhepunkt bereits im Mai ansteht. Bis dahin sollte ich die Ausdauer für 180 Kilo- und 3.500 Höhenmeter besitzen … Dummerweise liegt zwischen jetzt und dann ein Winter. Teil meiner Strategie ist es, winterlichen Unbilden nach Möglichkeit auszuweichen. Entweder südwärts oder eben nach „Indoor“: TÜV-Gebäude Nürnberg heute, Sporthalle in Senftenberg Ende Januar, Sporthalle in Pfohren (Baden-Württemberg) im Februar. Wer mich kennt, weiß, wie sehr der Winter an meiner Lauflust nagt. Diesmal darf ich meine Ausdauer jedoch nicht während unwirtlicher Monate auf kleinerer Flamme köcheln lassen. Diesmal gilt es in diesem Zeitraum bereits ernsthaft an der Frühform zu arbeiten …

Gut ein Viertelmarathon und damit 14 Flurrunden liegen hinter mir. Wann genau das Viertel erreicht war, konnte ich nur grob schätzen, brauchte dafür ungefähr 1:06 Stunden. Das ergäbe hochgerechnet eine Endzeit von unter viereinhalb Stunden. Purer Konjunktiv dieses „ergäbe“, enthält die bislang verbrauchte Zeit doch ein paar ziemlich flotte Auftaktrunden. Natürlich kann man nach vier, fünf Runden nicht wissen, wie sich ein Marathonlauf entwickeln wird. Gemessen an meinen derzeit sehr bescheidenen Möglichkeiten, empfand ich das anfängliche Tempo jedoch als zu gewagt und trat auf die Bremse. Mit entsprechend dankbaren Signalen kommentierte das Ensemble aus Muskeln, Sehnen und Gelenken die fortan verhaltenere Pace. Alle demonstrierten Zufriedenheit mit ihrem Regisseur, von einem höchst lästigen Nebendarsteller einmal abgesehen.

Ja, genau, die doofe Achillessehne meckert weiter vor sich hin. Nicht wirklich besorgniserregend. Nur entsetzlich nervig, weil sie das seit Wochen - nein: seit Monaten! - in ähnlicher Weise praktiziert, sobald ich vom Gehen ins Laufen wechsele. Leistet hinhaltenden Widerstand, dem ich mit allen Mitteln entgegen arbeite. Deswegen ist auch nichts verloren. Weder der Krieg insgesamt, noch die heutige Schlacht. Wenn sich die Sehne wie zuletzt gebärden sollte, dann wird sie etwa ein bis zwei Stunden lang mosern, um dann allmählich zu verstummen. So erlebt bei längeren Läufen. Und nein: Ich habe für dieses Verhalten wider jede medizinische Logik keine Erklärung. Ein paar unangenehme Minuten zum Warmlaufen, dabei Abklingen der Beschwerden, das entspräche meinem Verständnis und meiner Erfahrung hinsichtlich solcher Verletzungen. Aber Einlaufen über anderthalb bis zwei Stunden … ?

Mein Stimmungsbarometer stand vom Start weg und steht weiterhin auf unentschieden. Meine schlechte Ausdauerverfassung, vor allem jedoch die Sehnengeschichte bremsen den Spaß. Pluspunkte: Immerhin kann ich laufen! Zudem darf ich das in gut temperierten Fluren tun, während draußen tristgrauer, nasskalter November die Fluchtburg belagert! Ein November, der mich anfangs mit meteorologischem Wohlverhalten erfreute, in den letzten Tagen aber doch noch sein wahres Gesicht präsentierte: Düster, windig, regnerisch, kalt. Und vorhin mischten sich da draußen vor den Fenstern sogar erste nass-fette Schneeflocken unters Getröpfel. Welch ein Segen also „indoor“ zu joggen. Weitere Pluspunkte: Die vielen Bekannten und Freunde, die in keinem Moment weiter als 767 Meter entfernt demselben Blödsinn huldigen, mich von Zeit zu Zeit gut gelaunt überholen und mit ein paar Sprüchen unterhalten.

Überholen: Auf leisen Sohlen im oberen Flur und im Foyer, wo strapazierfähiger Teppichfilz die Schritte dämpft. Etwas lauteres Tapp-Tapp im Kellergeschoss, wo rutschfester, minimal genoppter Kunststoffboden den Weg bereitet. Lediglich schnellere Läufer, meist für ihre Staffel unterwegs, höre ich herannahen. Oder solche, die sich unterhalten. Ganz zu Anfang führte einer hinter mir gar Selbstgespräche, holte unablässig den Runden- und Wettkampfverlauf kommentierend auf, begrüßte da und dort Bekannte beim Überholen. Die Stimme ordnete ich sofort richtig zu: Sie gehört Erwin Bittel, dem Mann mit dem Lederhut, der auf einer seiner ersten Runden die Strecke dokumentierte (siehe Video auf Youtube).

Einmal mehr hadere ich mit meiner schludrigen Vorbereitung. Natürlich geht es um nicht mehr als irgendwann - möglichst gering lädiert - den letzten von 55 Orbits, insgesamt also einen langen, langsamen Trainingslauf zu absolvieren. Dennoch wäre es hilfreich wenigstens die Streckenlänge zu kennen. Darüber hinaus eine in Minuten und Sekunden bezifferte Rundendauer, die einem (einigermaßen realistischen) Referenztempo entspricht. Ich hab’s schlichtweg vergessen. Wenn ich von der Absicht schreibe „irgendwann“ anzukommen, dann ist das natürlich nur ein Teil der Wahrheit. Wirklichen Ehrgeiz kann ich mir zwar keinen leisten, aber deutlich unter fünf Stunden möchte ich die Aufgabe wenn möglich meistern. Nicht, um vor den Augen anderer zu bestehen, einzig, um mein derzeit angeschlagenes Läuferego nicht noch mehr zu beschädigen.

Mangels Vorarbeit versuchte ich mich vorhin im Kopfrechnen. Arithmetik im Kopf ist vor allem eine Konzentrationsfrage. Einen ganzen Umlauf benötigte ich, um 42,2 km durch 55 zu teilen. Näherungsweise kam ich auf 750 Meter. Als nächstes ging ich daran eine Rundenzeit zu bestimmen, was im ersten Versuch misslang. Zwar prägte ich mir die Durchgangszeit ein, bekam sie eine Runde später inmitten flüchtiger Gedankenwirbel aber nicht mehr zu fassen. In der übernächsten Runde hatte ich Erfolg, subtrahierte von der Ist- die gemerkte Zeit und kam auf 4:48 min. Die musste ich dann „nur noch“ auf 1.000 Meter umrechnen. Also 4:48 geteilt durch drei mal vier. Ergab eine Pace von knapp 6:30 min/km, die zu einer Marathonzielzeit zwischen 4:30 und 4:45 Stunden tendiert. Eher wohl Letzteres, denn mittlerweile habe ich gegenüber der „Kalibrierungsrunde“ an Geschwindigkeit eingebüßt.

Der Gedanke mogelte sich bereits ins Multiplizieren und Dividieren, drohte Subtraktion und Dreisatz zu torpedieren. Um den arithmetischen Faden nicht zu verlieren, unterdrückte ich ihn, ließ ihn erst als das Resultat vorlag von der Leine: Viele meiner Mitläufer gehören zur Taschenrechnergeneration (Igitt!! Taschenrechner!?, was für ein antiquierter Ausdruck!) oder wuchsen bereits mit dem Smartphone auf. Mehrfach machte ich die Wahrnehmung, wie schwer sich junge Leute mit einfachsten, über das Einmaleins flugs im Kopf zu lösenden Aufgaben tun. Dass manche so gut wie immer eine Maschine bemühen, jeglichen Versuch rein gedanken-basierter Lösungen scheuen. Die Ironie der Sache: Die Unfähigkeit zum Kopfrechnen wird mich eines (hoffentlich noch fernen) Tages mit der Majorität der Maschinenrechner vereinen; dann zu alt oder zu verwirrt, um die nötige Konzentration für logische Gedankenketten weiterhin aufzubringen …

Wann Trinken, wann Gel? - Meinen Gel-Vorrat bedenkend, nahm ich mir vor nach jeweils acht Runden, also etwa 40 Minuten, ein Tütchen Zuckerpampe zu naschen. Meine Tasche steht oben im Foyer, unweit der Anzeigetafel. Von dort bis zur Tränke im Keller bleiben mir etwa drei Minuten bis ich mit Wasser nachspülen kann. Zwischen den Gels, vielleicht nach weiteren drei oder vier Runden, will ich mir einen Becher Iso einverleiben. Gedacht, getan … Runde acht vorbei und … Tasche verpasst … Leider war ich nach Runde acht abgelenkt und muss eine Extrarunde weit auf die süße Belohnung warten.

Abgelenkt von der auf eine Leinwand projizierten Rundendokumentation. Dort überprüfe ich nach jedem Umlauf, ob mein Name, samt Startnummer und gutgeschriebenen sowie verbleibenden Runden eingeblendet wird. Die Daten während der ultrakurzen Spanne mit guter Sicht zur Anzeige aufzunehmen ist schwierig, weil die Zwischenergebnisse mit jedem Läufer, der das Ziel passiert, um eine Zeile verschoben werden. Als Gewähr von der Messeinrichtung registriert worden zu sein reicht im Grunde jedoch der eingeblendete Name. Diese Kontrolle ist nötig! Schon im Grundsatz traue ich keiner Elektronik, gleich ob analog oder digital. Dafür musste ich mich von Berufs wegen zu lange mit defekten oder unzuverlässigen elektronischen Systemen beschäftigen … Chip- bzw. transponderbasierte Computerauswertungen erregen infolge mehrerer einschlägiger Wettkampferlebnisse meinen besonderen Argwohn. Eigentlich reicht dafür bereits die Pleite vor drei Jahren, exakt an diesem Ort, mit derselben Anlage wie heute! Nach ein paar Runden wurde ich aus dem Rennen genommen, um mir eine neue Startnummer anzuheften. Der der nominellen Startnummer hinterlegte Transponder funktionierte nicht zuverlässig …

Nach besagter Runde acht tippelte ich auf die Anzeige zu und suchte meinen Namen vergebens. Tippelte alarmiert und verunsichert vorbei, vergaß das Gel, umrundete den Aufzug und grübelte: Was nun? Protestieren natürlich, falls mir nach dem nächsten Umlauf eine Runde fehlen sollte. Um es kurz zu machen: Die Nichteinblendung und damit meine Verunsicherung wird sich mehrfach wiederholen. Es wird lange dauern, bis mir auffallen wird, dass die Anzeige in diesen Momenten unter einer Art „Datenverstopfung“ leidet und für einige Sekunden keinerlei Ergebnisse bereitstellt. In dieser Zeit bleibt die Anzeige „eingefroren“. Mutmaßlich eine Überlastung des Computersystems, die jedoch nicht zum Unterschlagen von Runden führt.

Ich zähle zu den lahmsten Schnecken auf den Fluren des TÜV. Ständig ziehen Läufer vorbei und höchst selten setze ich selbst zum Überholen an. Dieser Umstand drückt ein wenig auf meine Stimmung, ob ich will oder nicht. Dass ich dabei überwiegend jüngere Gesichter im Profil ausmache, erklärt einiges; tröstet mich allerdings ebenso wenig wie die Tatsache, dass bei so exotischen Läufen das Leistungsniveau naturgemäß höher liegt als bei Volksläufen. Normalerweise mache ich mir über meine Position im Feld kaum Gedanken, schon gar keine negativen. Was also ist heute anders? Vermutlich hat es mit meinem derzeit desolaten Trainingszustand zu tun. Der vermittelt mir überdies und irgendwo tief drin das Gefühl nicht wirklich dazuzugehören. Alles Quatsch, wie ich weiß, doch Laufen ist Kopfsache. Und maßgebend ist, was du denkst und fühlst, nicht was objektive Daten dir als wahrhaft bezeugen …

Lahme Schnecken laufen rechts und werden links überholt. So steht es im Reglement und ich halte mich strikt daran. In den Treppenhäusern ist Überholen verboten. Auch daran halte ich mich. Jetzt, nach etwa zwei Stunden, schleichen viele bereits recht lahm durchs Treppenhaus, während ich die Stufen noch immer im Laufschritt nehme, ab- und aufwärts. Klingt widersinnig, wenn einer der Langsamsten ausgerechnet auf den Treppen Gefahr läuft verbotswidrig zu überholen. Doch nur so fühle ich mich als Läufer. Läufer laufen, wer geht ist ein Geher. Mein Selbstverständnis, du erinnerst dich vielleicht. Es soll keines anderen Leistung abwerten, bildet für mich allerdings eine der Voraussetzungen für Zufriedenheit nach einem Wettkampf. - Übrigens habe ich intervallartig wiederholte Treppenläufe in den vergangenen Wochen an Brücken oder Flussdeichen in meine Trainingsläufe integriert. Sinn dieser Übungen war einzig den ansonsten fälligen, kapitalen Muskelkater zu vermeiden.

28 Runden, Halbzeit vorbei, meine Sehne gibt sich inzwischen recht friedfertig. Ich spüre sie noch, doch weniger intensiv als bisher und mit weiter abnehmenden Beschwerden. Meine Ausdauer scheint sich weniger positiv zu entwickeln. Schon jetzt muss ich mir jede einzelne Runde abringen. Derzeit scheint mir ausgeschlossen dieses ohnehin schon mäßige Tempo bis zum Schluss durchzuhalten. Schluss, Finale, Finish - ein weit entferntes Ereignis, nicht mehr als eine vage Möglichkeit. Wie soll ich die zweite Hälfte durchstehen, wie den weiter wachsenden Widerstand meines Körpers Orbit für Orbit überwinden? - Es fühlt sich unmöglich an, wie so oft in vergleichbaren Situationen vorzeitiger Ermüdung. Und doch weiß ich, dass ich es kann. Muss nur einfach weiterlaufen, immer weiter …

Runde um Runde verringert sich die Betriebsamkeit auf den Fluren. 60 Halbmarathonis erfüllen nach und nach ihre Mission, verlassen den Kurs, dünnen den Läuferstrom aus. Die vom Veranstalter vorgenommene, recht umfängliche Streckensicherung büßt dennoch wenig von ihrer Bedeutung ein. Zum Beispiel die Dämmung von Mauervorsprüngen und Treppengeländern mit Matratzen. Oder das beständige Wischen eines mehrere Köpfe zählenden Trupps nach der Verpflegungsstelle, damit niemand auf verschütteter Labsal ausrutschen kann. Vorbeugende Maßnahmen, deren Bedeutung man angesichts der auch nach drei Stunden noch raketengleich vorbeizischenden Staffelläufer nicht hoch genug einschätzen kann. Auch, dass wider Vernunft und Reglement in den Treppenhäusern überholt wird und Rempeleien dabei kaum zu vermeiden sind, unterstreicht die Notwendigkeit der Vorsorge.

Und dann gibt es da noch den Faktor Ungeschick, der mit wachsender Wettkampfdauer an Bedeutung gewinnt. Mir widerfuhr das Missgeschick recht früh, nach vielleicht 20 Runden, im Treppenhaus aufwärts, oben an der letzten Stufe: Kurz unkonzentriert, dadurch den Fuß einen Zentimeter zu wenig gehoben, bleibe ich an der Kante hängen, komme ins Straucheln und schlage hin. Glücklicherweise erst auf dem Teppichfilz des angrenzenden Flurs und mit geringer Geschwindigkeit. So bleibe ich abgesehen von ein paar Quadratzentimeter abgeriebener Haut am linken Ellenbogen unverletzt. Ein Mitläufer hilft mir auf, kümmert sich, wird jedoch sogleich mit laxem Kommentar - „Alles gut! Hab’s überlebt …“ - zur Fortsetzung seines Wettkampfs entlassen. - Ganz so „locker-flockig“ wie es klingt, nehme ich den Vorfall allerdings nicht. Eine komplette Runde weit schimpfe ich mit mir, verdonnere mich dazu besser aufzupassen und nur langsam weicht der Schrecken aus den Gliedern …

Dass „TÜV“ für Sicherheit steht, kann jedermann einschlägigen Prüfplaketten am Auto und beim Kauf technischer Artikel entnehmen. Dass dem TÜV auch an einem sehr stimmungsvollen Lauf gelegen ist, lässt sich am Unterhaltungsaufwand dieser Veranstaltung ablesen. Immer wieder dröhnt der Rhythmus einer Sambaband durchs Foyer, animiert die zahlreichen Zuschauer zum Mitklatschen. Und dann ist da noch der Moderator. Nicht irgendein Moderator und wahrlich kein „Laienprediger“, wenn es darum geht Sportereignisse flüssig mit Worten zu umrahmen. Wie wohl in jedem Jahr begleitet auch heuer die Stimme des Rundfunk- und Fernsehmoderators Markus Othmer Läufer durch die Flure. Sonst ARD Sportschau und Mittagsmagazin, die Sendung Blickpunkt Sport im Bayerischen Fernsehen und heute der „Indoor Marathon“.

Muss ein Sportmoderator über tiefschürfende Fachkenntnisse der Sportart verfügen, die er gerade kommentiert? - Wäre hilfreich und hätte Markus Othmer wahrscheinlich davor bewahrt meinen Ultraläufer-Schlappschritt als „raumgreifend“ einzustufen. „Energiesparend“ wäre korrekt, der Vokabel „raumgreifend“ widersprechen Augenschein in Tateinheit mit mäßigem Tempo … Na ja, über irgendwas muss er ja plaudern in diesen langen Stunden und so greift er bereits im ersten Viertel das Thema „Laufstile“ auf, von denen man eine breite Palette an diesem Tag beobachten könne. Wer just in diesem Moment des Weges kommt, ahnst du sicher? - Immerhin komme ich auf diese Weise in den Genuss meinen Namen mal aus dem Munde eines bekannten Sportjournalisten zu hören. Ein bisschen Blattgold, das meinem sportlichen Auftritt einen Anflug von Glanz verleiht; dass es sich dabei ausgerechnet um einen meiner schwächsten überhaupt handelt, gilt mir als Ironie des Läuferschicksals.

Noch 16, 15, jetzt 14 Runden: Je einsamer es auf den Fluren wird, umso endloser empfinde ich den Lauf und das Rundenzählwerk scheint immer langsamer zu klicken. Pure Einbildung, da bin ich sicher. Hervorgerufen von der Optik leerer Gänge, schweren Beinen und schmerzhaftem Ziehen überall im Bewegungsapparat. Keines der Zipperlein beunruhigt mich auch nur ansatzweise. Allesamt Signale starker Belastung, völlig normal. Und die Sehne schweigt. Ob sie sich - was ich inständig hoffe - in ihr Schicksal fügt und endlich wieder kooperiert oder beleidigt ist, werde ich erst übermorgen wissen, wenn der nächste Trainingslauf ansteht …

Noch 14 Runden, das letzte Viertel. Eine grobe Hochrechnung verweist auf eine Endzeit von 4:45 bis 4:50 Stunden. Wenn ich nicht noch einbreche, was, mein momentanes Laufgefühl taxierend, gleichermaßen wahrscheinlich wie unwahrscheinlich ist. Kraxi überholt mich wieder einmal, allerdings viel langsamer als in den Stunden zuvor. Der Freund schleppt das gleiche orthopädische Handicap über Flure und Treppen wie ich: Achillessehne! Ich fixiere seine Bewegungen von hinten und erschrecke: Von Kraxis anfänglicher Lockerheit, wenn er vorbeizog, ist nichts mehr übrig. Mehr noch: Ein bisschen zieht er das malade Bein hinterher. Meine Frage, wie es ihm denn gehe, ist im Grunde nur Ausdruck des Mitfühlens und -leidens. Die sichtbare Laufrhythmusstörung sagt mehr als tausend Worte.

Ein ultralaufendes Ehepaar aus meinem Verein, der TG Viktoria Augsburg, dreht gleichfalls seine Runden. Um genau zu sein: Michael hat den Bewerb schon beendet und Sonja, die Führende bei den Damen, scheint nur ein paar Meter hinter mir auf ihrer letzten Runde unterwegs. Erstaunlich, dass mein stundenlang vor sich hin brütendes Hirn die Bilder kurz vor und in Höhe der Ziellinie zu dieser gesicherten Erkenntnis kombiniert: Michael kauert mit dem zweijährigen Sohn der beiden an der finalen Ecke und späht den Gang entlang. Der Moderator Markus Othmer und eine Helferin knien rechts und links der Ziellinie und spannen nur Sekunden hinter mir ein Zielband. Sonja stoppt in Höhe ihres Sohnes und gemeinsam tippeln die zwei über die Zielline. Ich gratuliere der strahlenden Siegerin - so viel Zeit muss sein!

In körperlicher Bedrängnis Stund’ um Stund’ zu überstehen und dennoch Laufschritt an Laufschritt zu reihen ist Kopfsache. Ich weiß es seit Jahren und werde nicht müde es in meinen Schilderungen gebetsmühlenhaft zu wiederholen. Durch den Einsatz kleiner Psychotricks kann man es dabei im eigenen Kopf besser aushalten. Mantras kreieren und fortlaufend herbeten oder auch immer wieder Hochrechnungen auf das Finish anstellen. Denn ein beschäftigter Kopf ist von Schmerzen abgelenkt … Auch das Einrichten von Teilzielen betreibe ich regelmäßig. Die „30“ anzupeilen, wenn man bereits mehr als zwanzig Runden hinter sich hat, erzeugt ein Gefühl von „gar nicht mehr so weit“ … Nun sind 40 Runden Geschichte und ich strebe nach Einstelligkeit: „Wenn’s nur noch 9 Runden sind, bin ich fast durch …“

Noch „9“ steht in der Anzeige hinter meinem Namen. Inzwischen ist zum „Einfangen“ des Zwischenergebnisses kein hektisches Augenrollen mehr vonnöten. Kaum mehr Läufer auf der Strecke, folglich finde ich meinen Namen regelmäßig ortsfest in der ersten oder zweiten Zeile. Vorbei an der Anzeige, Aufzugschacht umrunden und die Parade der Zuschauer abnehmen. Die hier stationierte Kolonie spendet lauthals Beifall, wie in jeder der bisher 46 Runden. Anfangs beachtete ich das Crescendo der Stimmen nicht, ordnete es anderen zu, vor allem den im Sauseschritt vorbei eilenden Staffelläufern. Nun stehen die Flitzer aber samt und sonders bereits unter der Dusche oder laben sich am Kuchenbuffet und einige Unentwegte jubeln weiter. Gilt der Ansporn mir? - Mal scheint es so, dann wieder nicht. Klarheit bringt ein Umlauf, in dem ich die Kolonie der Zaungäste allein auf „weitem Flur“ passiere. Die meinen tatsächlich mich. Und vermutlich widerfährt allen anderen dasselbe, die jetzt noch gegen ihre müden Beine kämpfend hier vorbeitippeln.

Zum fünfzigsten Mal bezwinge ich das Treppenhaus aufwärts. Mit deutlich erhöhter Atemfrequenz trete ich durch die obere Tür, biege nach links ab und stoße nach ein paar Metern auf den gehenden Frank. Schon vorzeiten fiel mir auf, dass die Zwillingsbrüder nicht mehr Seite an Seite laufen. Frank hat Probleme. Schwindelgefühle lähmen ihn, vor allem auf den Treppen. Ich bleibe kurz bei ihm stehen und pflichte seiner Absicht bei nach dieser Runde aufzuhören. Es kennzeichnet ihn als verantwortungsvollen Athleten, so kurz vor dem Finish auf die Stimme der Vernunft zu hören. Könnte ich das? Meiner Sturheit einen Riegel vorschieben und dicht vor dem Ziel aufgeben? - Vielleicht. Weiß nicht. Eher nicht. Andererseits vermag ich den Grad seiner Benommenheit nicht einzuschätzen. Vermutlich macht sie ihm Angst und dieses Gefühl würde wohl auch mich aus dem Rennen nehmen.

Noch vier Mal die Treppe runter. Seit viereinhalb Stunden harrt der Streckenposten hier aus. Mit nichts beschäftigt außer Zusehen, lediglich unterhalten vom steten Vorübertraben der Läufer. Lange Zeit stellte er ein Pokerface zur Schau, nun ein Lächeln, das mit jedem Wiedersehen intensiver zu werden scheint. Schon jetzt nehme ich mir vor, ihm und seinem Kollegen vorm anderen Treppenhaus in der letzten Runde zu danken. Erstaunlich leichtfüßig runter, dann nehme ich auf dem unteren Flur wieder Fahrt auf. Jetzt in der Schlussphase fühle ich mich frischer als im ganzen Lauf zuvor. Ich bin in diesen abschließenden Runden auch wieder flotter unterwegs, mein Laufgefühl trügt sicher nicht. Seltsam. Je länger ich laufe, umso einfacher wird es. Die Sehne schweigt und meine Ausdauer scheint ungebrochen. Weit, sehr weit kann ich laufen. Nur eben nicht mehr schnell. Und genau daran muss ich in den kommenden Wochen ein bisschen arbeiten. Mehr Tempo ins Training bringen - vorausgesetzt die Sehne spielt mit …

Die unerwartete Leichtigkeit des Seins auf den Schlussrunden versöhnt mich mit vielem. Mit den vielen Fragezeichen der letzten Wochen, den Härten im Training, dem doch recht bescheidenen Tempo dieses Laufes. Zu spüren, dass ich weitere zehn (zwanzig?) Kilometer in annähernd derselben Geschwindigkeit anhängen könnte, dazu die Friedfertigkeit meiner Sehne während dieser ersten langen Prüfung seit den sechs Stunden in Italien - beides stärkt mein angeschlagenes Selbstvertrauen. Mehr als vier Stunden habe ich mit der Strecke und meinem Körper gerungen. Das ist nun vorbei und es kommt mir wie ein kleines Wunder vor. Auch wenn es halb kitschig, halb pathetisch klingt: Das ist wie das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels. Endlich ein positives Zeichen! Nach langen Wochen in denen ich häufig den läuferischen Niedergang vor Augen zu haben glaubte.

Die letzten Runden genieße ich. Draußen grau und kalt, drinnen hell und warm, in mir drin ein Kronleuchter und Dauerlächeln. Noch drei Runden. Kontrollblick zur Anzeige … ?? Nein! Nur noch zwei! Ins Sinnieren versunken ist mir wohl ein Orbit entgangen. Kraxi steht fixfertig angezogen mit seiner Sporttasche an der Strecke. Blitzartig wird mir klar, dass er mein Finish abwarten will. Eine weitere Viertelstunde Verzug? Immerhin muss er noch ein paar hundert Kilometer weit bis in die Steiermark fahren. Also verharre ich kurz für eine Umarmung und schicke den Freund auf die Reise …

Ein letzter Blick zur Anzeige, einen abschließenden Halbkreis um den Aufzug schlagen, dabei den Applaus einiger immer noch applaudierender Zuschauer mitnehmen und ab in den langen, oberen Gang. Objektiv und von außen betrachtet sehen meine Schritte sicher genauso aus wie seit Stunden: Schlappend, langsam und keineswegs „raumgreifend“, wie mir die Schmeichelei aus Reportermund einreden wollte. Subjektiv schwebe ich jetzt durch den Gang, fühle mich befreit, empfinde schon jetzt das Glück des nahen Marathonsieges. „Danke fürs Aufpassen und bis zum nächsten Mal!“ rufe ich dem lächelnden Streckenposten zu und tauche ein letztes Mal im Treppenhaus ab. Erobere den unteren Flur, der mir nun viel kürzer vorkommt, als 54 Mal zuvor. „Danke und Tschüs!“ hören auch die Sanitäter neben und die Helfer hinter der Verpflegungsstation. Zuletzt noch ein Dankeschön für den Streckenposten vor Treppenhaus zwei. Scheinbar mühelos tippele ich die Stiege empor, gewinne den Flur und renne auf das hinter der Ecke verborgene Ziel zu … und dann bin ich durch, nach 4:42:42 Stunden …

Wirklich geschafft? Wie vor drei Jahren führt mich der erste Weg zum Zeitnehmer. „Bin ich fertig?“ frage ich den. Blickwechsel zwischen Startnummer und Notebook, dann die erwartet positive Auskunft: „Ja, du hast es geschafft!“

Ergebnis: 4:42:42 h, Platz 50 von 57 Teilnehmern gesamt, Platz 1 von 3 in M60

 

Fazit zur Veranstaltung

Für das bescheidene Startgeld wird enorm viel geboten. Die Versorgung der Teilnehmer ist vorbildlich. Vom ausreichend großen Parkplatz vorm Haus, über die Duschen im Keller bis zum finalen Kuchenbüffet wird auf engstem Raum jeglicher „Läuferkomfort“ geboten. Alle Helfer mühen sich freundlich und engagiert um die Teilnehmer.

Ein Extrasternchen gilt es in Sachen Sicherheit zu vergeben: Die Strecke - Flure und Treppenhäuser - ist mit Absperrbändern gesichert. Sämtliche in die Korridore vorspringenden Ecken oder Vorrichtungen wurden mit Matratzen oder anderem Polstermaterial entschärft. In Höhe der Verpflegungsstation waren Helfer unablässig damit beschäftigt verschüttetes Getränk vom Boden zu wischen, damit niemand ausrutschen kann. Und ein Sanitätsteam wartete neben der Verpflegungsstation auf seinen Einsatz.

Fazit: Sehr lohnende Veranstaltung, besonders für Läufer, die stimmungsvolle Wettkämpfe mit hohem „Event-Faktor“ mögen oder dem hierzulande im November „outdoor“ anzutreffenden Mistwetter ein Schnippchen schlagen wollen.

 

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