Samstag, 17. Juni 2017

Sehnen lügen (nicht)  -  Himmelswegelauf 2017

Weht der Atem prähistorischer Geschichte über diesem Plateau? - Kann sein, denn immerhin stehe ich inmitten der Rekonstruktion eines 7.000 Jahre alten Sonnenobservatoriums. An genau jener Stelle, wo Archäologen die Reste des Originals ausgruben. Was hier allerdings „unüberspürbar“ weht und das für meinen Geschmack viel zu stramm und obendrein kalt, ist Westwind. Am Himmel schiebt er eine fast geschlossene Wolkendecke vor sich her, die kurzzeitig aufreißt und Sonne verheißt, um sich dann wieder dauerhaft abweisend zu schließen.

In Unkenntnis von Abläufen und Andrang war ich viel zu früh hier und habe nun reichlich Zeit „rumlungernd“ zu frieren. Ein Bus chauffierte uns vom Hauptbahnhof in Naumburg in Viertelstundenfrist hierher. Abfahrt 7:45 Uhr und laufen darf ich erst um neun. Das Läuferfeld? - Hält sich in engen Grenzen. Nur 132 Finisher wird die Rangliste am Ende verzeichnen und die anderen Wettbewerbe (HM und 10 km) starten anderenorts. Den späteren Bus zu nehmen hätte folglich ausgereicht. Natürlich „observiere“ ich das Observatorium. Wegen seines geometrisch einfachen Aufbaus, reicht da allerdings ein Fünf-Minuten-Rundgang, um sich einen Überblick zu verschaffen.

Optische Gerätschaften, vor allem ein riesiges „Fernrohr“, gehören zur Grundausstattung, die ein Unbedarfter mit dem Begriff „Observatorium“ verbindet. Nichts davon an diesem Ort. Was sich dem Betrachter auf ebener Wiese anbietet, ist eine so genannte „jungsteinzeitliche Kreisgrabenanlage“. Eine Einrichtung, die eher der Abwehr meuchelmordender Horden gedient zu haben scheint, denn zur Himmelsbeobachtung. Für deine Vorstellung (mehr erzählt Wikipedia): Der Durchmesser der annähernd kreisrunden Anlage beträgt ungefähr 70 Meter. Konzentrisch von außen nach innen angeordnet: Erdwall, unmittelbar dahinter ein Graben (vertikales Maß von beidem ca. 1 m), dann eine doppelte Reihe von Palisaden (Abstand 3 bis 4 m). Mehrere offene und unbefestigte Tore an zunächst unverständlicher Stelle verneinen allerdings den militärischen Auftrag der Anlage. Mehr weiß und verstehe ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Und so lange Kälteschauer unter viel zu dünner Jacke über meine Haut jagen, wird sich die Neugier in Grenzen halten.

Symbolischer Start im - die genaue Himmelsrichtung erfahre ich erst später - Nordtor des Observatoriums. Was bitte ist ein „symbolischer“ Start? - Letztlich nicht mehr als die Kurzfassung der Tatsache, dass die „symbolische Startlinie“ zu weit vor der tatsächlichen liegt, weil ein Marathon nun einmal 42,195 km misst und keine (geschätzt) 42,4 bis 42,5. Dass darüber hinaus der Veranstalter gerne ein hübsches Foto „Läufer im Observatorium“ schießen möchte, weil sich das - bei wem auch immer - besser „verkauft“. Ich mache gute Miene zum fröstelnden Spiel, weil ich an das Gute im Veranstalter glaube, insofern annehme, man habe das Startbanner über geschichtsträchtigem Tor zur Erbauung der Läufer aufgehängt. Quasi als Zusatzleistung des mit harten Euros bezahlten Startgeldes. Kurze Ansprache des Veranstalters … Mit einem Auge fixiere ich die surrende Drohne über uns und unterdrücke den wie stets aufkeimenden Wunsch, das unnütze Insekt mit gezieltem Schuss aus dem Himmel zu holen. Das andere Auge folgt Anton - genau: Anton Lautner, der rasende Reporter von „marathon4you“ -, der Bild um Bild in seinen Kameraspeicher lädt.

Meine unterkühlte Darstellung der Startzeremonie solltest du übrigens nicht als morgendliche Übellaunigkeit missdeuten. Die Vorfreude auf gerade diesen Lauf war groß, weil er mich in eine mir bislang unbekannte deutsche Landschaft schickt. Schon deshalb bin ich eigentlich gut drauf. Doch so lange ich friere, aktuell bei 13°C, die der Windchill einige Grad Richtung Gefrierpunkt drückt, haben Freude und Begeisterung nun mal das Nachsehen. Mit alterndem Tag wird es sonniger werden. Der Wetterbericht war eindeutig. Nur wann? Also: Mit oder ohne Armlinge die „Reise“ entlang Saale und Unstrut antreten? Nach wankelmütigem Hin und Her entscheide ich mich letztlich pro Armlinge. Kaum zu fassen, dass dafür im Juni klamme Finger den Ausschlag geben.

Kurz vor 9 Uhr: Der Landrat macht Anstalten den „symbolischen Start“ vorzunehmen. Kurz und vergeblich kämpft der regionale Würdenträger mit der Technik der Startpistole, entscheidet sich dann pragmatisch für ein „symbolisches Peng“, um den „symbolischen Start“ zu vollziehen. Etliche Meter weiter, an der tatsächlichen Startlinie, scheint ebenjener Landrat die Wiederholung der Blamage, zumindest eine weitere Ladehemmung des Startgerätes, zu befürchten und bleibt verschollen. Komplettversagen der lokalen Politik! - zumindest im Rahmen des Himmelswegelaufes. „Ich brauche keinen Landrat. Ich will laufen!“ - so der eindeutige Tenor der wartenden, teils bibbernden Läuferschar. Kurzerhand nimmt der Veranstalter den Start selber vor - ein mit Würde ausgesprochenes „Los!“ tut es schließlich auch.

Schnurgeradeaus, zwischen Feldern und in minimalem Anstieg trabend, gewinnen wir die Ortschaft „Goseck“. Dass ich den Anstieg überhaupt spüre, geht aufs Konto meiner nicht eingelaufenen und von vielen Trainingskilometern gestressten Beine. Seit 11 Tagen gönnte ich mir keinen Laufruhetag und trete die „Himmelswege“ mit über 100 Wochenkilometern Vorleistung an. Diese Umstände bedenkend begegne ich dem anfänglichen Widerstand meines Fahrgestells mit Gleichmut. Gemessen am Trainingsverlauf der jüngeren Vergangenheit kooperiert meine Physis sogar überraschend gut. „Goseck“ erlebe ich als schmuckes Dörfchen, das uns auf steiler, asphaltierter Schussfahrt in Richtung Saaletal entlässt. Man hielt es für angebracht vor dem unten folgenden Abzweig in spitzem Winkel zu warnen, postierte sogar eine Feuerwehrfrau 30 Meter davor, die die Warnung in kurzen Abständen wiederholt. Vielleicht stürzte in den Vorjahren hier jemand!? Für einen beherrscht laufenden Wettkämpfer geht von der Stelle eigentlich keine Gefahr aus.

Grün dominiert auf dem nächsten Kilometer, während wir am Fuß des Saaletalhangs laufen. Obstwiesen und Weideflächen linker Hand und zu meiner Rechten alsbald auch der erste von vielen Weinbergen, die noch folgen sollen. Fleißiger als ich dokumentiert Anton den Lauf, nimmt für scharfe, aussagekräftige Schnappschüsse auch manche „Härten“ in Kauf. Vielfach stoppt er aus vollem Lauf oder unternimmt seitliche Ausflüge, um die bestmögliche Perspektive einzufangen. Hier unten im Saaletal bewegen wir uns zunächst auf stellenweise etwas holprigen Feldwegen. Ganz okay, da bin ich weitaus Heftigeres gewöhnt. Bei dem Wall auf der linken Seite könnte es sich um einen Hochwasserdamm handeln. Und richtig: Nach etwa drei Kilometern erhasche ich den ersten Blick auf die träge dahinströmende Saale.

Der „Himmelswegelauf“ ist international besetzt. Seit geraumer Zeit wechsele ich mich in der „Führungsarbeit“ mit einem polnischen Trio ab: Frau „Kasia“, Herr „Sbyszek“ und ein anonymer Dritter. Dass es sich tatsächlich um Polen handelt, entnehme ich mit letzter Sicherheit den weiß-roten Aufnähern auf den Trikots. Der Anonyme fängt mit seiner Kamera immer wieder hübsche Motive ein. Locker und entspannt joggen die drei, offensichtlich weit unterhalb ihrer Ausdauermöglichkeiten. Also eindeutig Marathon-Touristen oder -sammler, wie ich selbst.

Sammeln und Erleben haben sich bei mir allerdings dem Trainingszweck vorm nahen Saisonziel unterzuordnen. Viele Kilometer muss ich „schrubben“, um den Energiestoffwechsel zu optimieren und den Bewegungsapparat abzuhärten. Ersteres strebe ich durch moderates, möglichst vom ersten bis zum letzten Meter konstantes Tempo an. Als Richtwert peile ich 6 min/km an, wie zuletzt mehrfach auf unschwierigen, marathonlangen Strecken. Der heutige Kurs weist nur wenige, zudem mäßige Anstiege auf und nutzt überwiegend asphaltierte Trassen (im Wesentlichen den „Wanderweg Saale Unstrut“). Welchen Einfluss der stramme Gegenwind haben wird, vermag ich nicht einzuschätzen. Bisweilen spüre ich ihn heftig, halte mein Tempo aber ohne Schwierigkeiten.

Die Pace ist justiert und mein innerer Tempomat wird sie ohne bewusstes Zutun konstant halten, so lange die Kraft reicht. Umso intensiver kann ich mich auf Landschaft und Besonderheiten an der Strecke einlassen. Immer wieder buhlen Weingärten und frisch renovierte Häuschen am Hang um Aufmerksamkeit. Von schlicht über Fachwerk bis Holzhaus oder „Pseudobarock“ sind alle Baustile vertreten. Gemeinsam ist ihnen die Höhenlage und damit mutmaßlich eine traumhafte Aussicht über das Saaletal, bis hinüber ins nahe Naumburg mit seinem Dom.

Apropos „Saaletal“: Die Strecke hangelt sich zunächst an der „Saale“ entlang, später und überwiegend an der „Unstrut“. Wo die „Unstrut“ in die „Saale“ mündet, und ob wir den Zusammenfluss überhaupt passieren, bleibt mir verborgen. Im eifrigen Bemühen einen voraus ins Blickfeld rückenden Fährkahn abzulichten und das nach Möglichkeit von den laufenden Models „Sbyszek“ und Co. belebt, entgeht mir die unscheinbare Unstrutmündung. Folglich ohne es zu wissen: „Saale“ ade, hallo „Unstrut“!

Am hölzernen Fährhaus entdecke ich Marken ehemaliger Hochwasserstände und bleibe wie angewurzelt stehen, um die kleinen Schriftzeichen möglichst verwacklungsfrei einfangen zu können. Die höchste der Marken, etwa mannshoch über dem Niveau des Weges, setzt hinter „Himmelswegeläufen“ der Zukunft ein gewisses Fragezeichen: „4. Juni 2013“ steht da. Mit anderen Worten: Auch im Juni ist hier mit solchen Fluten zu rechnen. Und das, wie jeder, von einem gewissen „Präsidenten“ einmal abgesehen, kapiert, mit wachsender Wahrscheinlichkeit, weil die Zeitintervalle von Wetterkatastrophen in den letzten Dekaden schrumpften …

In der weiten, brettebenen Bucht am Zusammenfluss von „Unstrut“ und „Saale“ drückt der lebhafte Gegenwind frontal gegen meine Brust. Bedauerlicherweise sind „Kasia“, „Sbyszek“ und der Anonyme von eher unterdurchschnittlichem Wuchs. Ich halte mich hinter den Dreien, spüre dadurch aber keine Entlastung. Der Verlust von Kraft oder Zeit, wahrscheinlich beidem, ist zu verschmerzen. Was mich eher nervt, ist die jetzt wieder durch dünnen Stoff dringende Kälte. Zum Glück hatte ich die Armlinge - als einzige Hülle gegen Kälte übrigens - im Laufgepäck. Und gottlob veranlassten mich klamme Finger vorm Start sie auch anzuziehen.

Wind und Frösteln sind unangenehm, die Laune verderben sie mir nicht. Dafür sorgen alle übrigen Signale, die mein Körper sendet. Die übliche Gliederschwere des Auftakts ist gewichen, das Tempo zu halten kein Problem. Und das Schönste: Keinerlei Mucken von Muskeln, Sehnen und Co. Sogar die monatelang meckernde Achillessehne schweigt und genießt. Sehnen lügen nicht: Der Tag wird gut! Mehr noch: Alles wird gut!

Ich hatte keine rechte Vorstellung davon, was mich rund um „Saale“ und „Unstrut“ erwartet. Wie üblich fehlte die Zeit für genauere Recherchen. Eine Entdeckungsreise zu Fuß hatte ich - Trainingsfleiß mal beiseite lassend - im Sinn. Wie könnte man einen unbekannten Landstrich besser kennen lernen, als ihn joggend zu durchstreifen, wenn man dafür nur ein paar Stunden Zeit hat? Beim Laufen sind alle Sinne beteiligt und - zumindest lange Zeit - maximal sensibel. Schritt um Schritt nähern wir uns dem Rand der Ebene, hinter der sich der nächste Weinberg erhebt. Dekorative Weinterrassen, auf denen Weinstöcke wie Zinnsoldaten in Reih und Glied verharren, ziehen Blicke geradezu magisch an. Ich frage mich, wieso Gegenden mit Weingärten mich generell begeistern. Am Wein als Getränk kann es nicht liegen. Den mag ich zwar ganz gern, ziehe ihm jedoch meist Durstlöschendes vor. So auch am nächsten Verpflegungsstand, unmittelbar am Fuß des Weinbergs und keine zwei Meter von den ersten Reben entfernt.

Wie offensichtlich die meisten meiner Mitläufer, lehne ich das Angebot der Weinverkostung zugunsten von Wasser und Iso ab. Alkohol während sportlicher Betätigung? - Das geht für mich nicht zusammen. Das Buffet für die Läufer wurde mit Hingabe gestaltet! Das übersehe ich zwar im Eifer des Laufgefechts, nicht jedoch beim nachträglichen Durchsehen der Fotos. Apfelschnitze liegen sorgfältig drapiert auf Alufolie, wie Geschmeide in samtener Auslage eines Juweliers …

Gepflegte Weinterrassen, darüber ein Schloss - wieder attraktive Bilder für die alleine sich der Weg lohnt. Wir laufen durch „Freyburg“, bleiben allerdings in Flussnähe. Also werde ich irgendwann wiederkommen müssen, um mir den alten Stadtkern anzuschauen. Für ein paar hundert Meter rückt die „Unstrut“ dem Berg dicht auf die Pelle. Da ist nur noch Platz für die Straße. Ein paar wie versprengt wirkende Häuser stehen am Hang zwischen Weingärten. Wieder fällt die uneinheitliche, querbeet alle möglichen Baustile und -materialien einbeziehende Gestaltung auf. Da lugt ein kleines, putziges Holzhäuschen ebenso herab, wie ein toskanisch wirkendes Schlösschen in Altrosa, überragt von quadratischem Turm. Die meisten Behausungen präsentieren sich jedoch klein, schlicht und zweckmäßig. Das mag der DDR-Vergangenheit der Region geschuldet sein. Einer Zeit also, in der es unglaublich schwierig war Baumaterial zum Erhalt von Häuschen in Privateigentum zu bekommen.

Hinter „Freyburg“ wandelt das Tal seinen Charakter. Es wird enger, Wiesen dominieren den Talgrund und aus unersichtlichem Grund wächst an den Hängen Wald, wo das reben-verwöhnte Auge eigentlich Weingärten erwartet. Der fein asphaltierte, nur unbedeutende Buckel überwindende Radweg schneidet die Wiesen in eleganten Schwüngen und schlägt alsbald eine Schneise durch ein Stück Auwald. Pure Lust hier zu laufen, zumal es mir immer noch nicht schwer fällt. Ein früh erlahmender Kontrahent wird überholt, weiteren, stückweit voraus, nähere ich mich. Da ich Zwischenzeiten ignoriere, bleibt ungewiss, ob ich schneller wurde oder die anderen langsamer.

Der Erzfeind des Lauftages bringt sich nach ein paar Minuten der Beruhigung wieder in Erinnerung: Gegenwind. Plötzlich bläst er wieder. Noch immer kalt, noch immer frontal von vorn. Ob eine Richtungsänderung oder die nun inzwischen wieder breitere Talwanne den Wind begünstigen, darüber darf spekuliert werden. Zwei, drei Kilometer weit, bis zur Ortschaft „Weischütz“, setzt er mir jedenfalls zu. „Weischütz“ schenkt mir ein ausgesprochen hübsches Fotomotiv beim Überqueren der „Unstrut“. Jenseits weiter durch Felder und … neuerlich gegen den Wind.

Hier irgendwo, in der Ortschaft „Laucha“, muss der Halbmarathon gestartet worden sein!? Mein GPS, dessen Anzeige den auf Asphalt gesprühten Kilometermarken nur etwa 100 Meter vorauseilt, meldet „Halbzeit“. Rechts, links, rechts durch den Ort, einmal mehr über die „Unstrut“ und wieder hinaus. Etwa einen Kilometer später bestätigt eine gelb gesprühte „1“ mit dem Zusatz „HM“ meine Vermutung …

Bin kein Geologe, vermag folglich nicht zu ermessen, auf welche Weise die „Unstrut“ und andere in der Erdkruste wirkende Kräfte hier über Jahrmillionen gestalterisch tätig wurden. In einem Tal zu laufen, kann ich gegenwärtig jedenfalls nur erahnen. Aus meiner Perspektive gewinne ich den Eindruck einer kilometerbreiten „Wanne“ mit mäßig aufgewölbten Rändern. Getreidefelder und Wiesen begleiten den Saale-Unstrut-Radweg eine Weile, bis er sich entschlossen dem Talrand zuwendet. Ab hier und für einige Zeit wieder die gewohnte „Tal-Optik“: Links der Fluss, rechts der Abhang. Der bleckt stellenweise und erstmals die Zähne in Form bröselig brüchig wirkender Felsen. Weinbau mache ich auf diesem Abschnitt kaum welchen aus, Büsche und Bäume beanspruchen den Hang für sich.

Wie sehr man sich an Bequemlichkeiten gewöhnt hat, wird erst offenbar, wenn man sie plötzlich entbehrt: Ende Asphalt, rechts auf einen Feldweg abbiegen. Sandig, uneben, steinig, zudem eine leichte Steigung. Alles andere als ein Trail, aber eben auch kein Asphalt. Hinzu kommt das plötzliche Ausbleiben des Windes. Ergebnis: Schweiß rinnt in Strömen und zum ersten Mal an diesem Tag die Empfindung von Wärme. Da sich die Weiß-Blau-Aufteilung des Himmel in der letzten halben Stunde immer mehr in Richtung Blau verschoben hat, fasse ich mir ein Herz und ziehe die Armlinge runter …

In der Ferne überspannt eine riesige, hypermodern wirkende Brücke das Tal der „Unstrut“. Ich blättere kurz durch meinen gedanklichen Straßenatlas und komme zu dem Schluss, dass es sich nicht um eine Autobahn handeln kann. Also eine Eisenbahnbrücke, was wiederum die Vermutung nahelegt, das Bauwerk sei Teil der neu erbauten ICE-Strecke „Erfurt-Berlin“. Um zu erleben, welche gigantischen Ausmaße die Brücke tatsächlich hat, muss ich jedoch noch ein paar Kilometer hinter mich bringen … Zunächst drei Kilometer meist schnurgeradeaus einer Straße folgend und minimal abwärts aufs nächste Dorf zu (Hurra! Wieder auf Asphalt). Von diesem „Karsdorf“ ist lange Zeit nichts zu sehen. Nicht zu übersehen ist dafür die einzige Hässlichkeit des ansonsten heimeligen Unstruttales, ein ausgesprochen monströses Zementwerk. Der Brücke, ihrer schieren Größe zum Trotz, kann man eine gewisse architektonische Eleganz kaum absprechen. Doch dieses verschachtelte Konglomerat von Hallen, Türmen, Verrohrungen und Silos kann man sich einfach nicht schönreden … Eine Wunde in der Landschaft und sie stört.

Nun also durch „Karsdorf“, das zwar nicht mit baulichen Besonderheiten glänzt, dafür aber wieder in Höhe einer Läufertränke meinen Bauch mit Flüssigkeit füllt. Hinter „Karsdorf“ geht es zurück auf den Radweg. Rechts und links davon Natur, landwirtschaftlich genutzte Flächen, aber auch etliche Hektar Brachland. Und voraus wächst der Koloss. Um die wahren Dimensionen dieser Brücke zu erfassen, muss man sie einmal aus der Ferne im Ganzen und schließlich direkt davor und darunter in Ausschnitten gesehen haben … Abermillionen Kubikmeter Beton … Für eine Eisenbahn … Eisenbahnen gelten als umweltfreundliche Verkehrsmittel … aber wie ist es um die Umweltverträglichkeit von zig Millionen Tonnen verbauten Betons bestellt?

Noch zehn Kilometer. Ich schätze grob die zu erwartende Laufzeit. 4:10 h, etwas darunter, ergibt meine Kalkulation. Ich bin sicher diese Zeit realisieren zu können, weil ich nun schon über 32 km in den Beinen habe und keinerlei Anzeichen von Ermüdung spüre. Und das trotz der vielen Trainingskilometer in letzter Zeit! Von dieser Feststellung und dem Umstand bislang von keinem meiner Zipperlein belästigt zu werden geht ein ziemlicher Motivationsschub aus. Training und Vorgehensweise in den zurückliegenden, schwierigen Monaten scheinen endlich Früchte zu tragen. Buchstäblich keinen Tag zu früh, denn bis zum Saisonhöhepunkt der „10 Marathons in 10 Tagen“ bleiben lediglich knapp zwei Wochen …

Im Bewusstsein anhaltender Stärke habe ich das Gefühl über den breiten Talgrund zu „fliegen“. Ein Eindruck, dem auch der nach wie vor herbe Gegenwind nichts anhaben kann. Abschnitt um Abschnitt sammele ich Läufer ein, die ihr Pulver vorzeitig verschossen haben. Auch Anton ist dabei. Bei ihm unterstelle ich allerdings eher, dass er sich absichtlich Zeit lässt. Der könnte sicher schneller, wenn er denn wollte. Als ich ihn überhole mache ich meiner Seele Luft und schimpfe über den nervigen Gegenwind, der uns beiden zu schaffen macht.

„Reinsdorf“ gewährt eine Gegenwindpause und wird ausgiebig besichtigt. Was sich in den wie frisch aufpoliert wirkenden Gassen durchaus lohnt. Dafür nehme ich dann auch ein paar hundert Meter doofes Kopfsteinpflaster in Kauf - Asphalt würde die in vergangene Zeiten versetzende Optik des Ensembles empfindlich stören. Als sakralen Höhepunkt der kurzen Dorfbesichtigung geht es auf ein mehrschiffiges Kirchlein zu und kurz dahinter über die „Unstrut“.

Von hier bis nach „Nebra“ fehlt nur noch ein Katzensprung von wenig mehr als 1.000 Schritten. „Nebra“ - erzeugt der Name der Kleinstadt eventuell ein Echo in deiner Erinnerung? - In der Nähe von „Nebra“ wurde im Jahr 1999 die Himmelsscheibe gefunden, eine kreisförmige, geschmiedete Bronzeplatte, die den Himmel darstellt. Mondphasen, Sterne und andere Symbole wurden als Goldauflage eingearbeitet*. Der genaue Fundort liegt etwa 4 km außerhalb von Nebra auf einem Hügel. Nicht weit davon entfernt wurde die „Arche Nebra“ als Besucherzentrum errichtet, wo man sich eine Nachbildung der Scheibe ansehen und über den Fund informieren kann. Und vor ebendiesem Besucherzentrum steht heute das Marathontor …

*) Das aus der Bronzezeit vor 4.000 Jahren datierende Artefakt gilt als eine der ältesten Himmelsdarstellungen der Menschheitsgeschichte und ist, seiner Einzigartigkeit wegen, von unschätzbarem Wert. Die Scheibe wurde 2006 mit 100 Millionen Euro versichert. Die Fundgeschichte liest sich wie ein spannender Krimi - aus einfachem Grund: Sie entwickelte sich als Krimi. Mehr steht bei Wikipedia.

„Nebra“ hat mir nichts zu bieten, das es wert wäre den Arm zu heben und den Kameraauslöser zu quälen. Vielleicht bin ich aber auch nur von der stundenlang reizvollen, sich ständig wandelnden Landschaft verwöhnt. Ein bisschen bergan geht’s obendrein, was mich vier Kilometer vorm Ziel schon ziemlich ins Schwitzen bringt. Ins Schwitzen aber nicht ans Limit. Rauf und flott wieder runter, ein weiteres Mal über die „Unstrut“ und in Höhe des Brückenkopfes zurück auf den Radweg. Noch 3 Kilometer …

Eine ganze Weile versteckt sich der Fluss vor mir, während der Radweg zwischen Wiesen, Feldern und Talhang vorankommt. Ich mache mir einen Spaß daraus einen Kontrahenten nach dem anderen aufs Korn zu nehmen, den Abstand zu verkürzen und mit Lust zu überholen. Selbstverständlich wünsche ich keinem meiner Mitläufer, dass ihm zum Ende hin die Beine schwer werden. Ändern kann ich es aber auch nicht. Und jeder „Besiegte“ unterstreicht die klare Botschaft des Tages: Du hast in den letzten Wochen goldrichtig trainiert!

Zwei Kilometer vor dem Ziel schmiegt sich der Radweg wieder ans Ufer der „Unstrut“. Lautes Hallo vom Fluss: Jugendliche in Kanus paddeln vorbei. Offensichtlich steht bei ihnen der Spaß höher im Kurs als der (Wasser-) Sport und das Naturerlebnis. Vor einer Brücke im Dorf „Wangen“ verlasse ich den Radweg und trabe über einen Bahnübergang der so genannten „Burgenlandbahn“. Ein Schienenbus steht einen Steinwurf weit entfernt abfahrbereit am Bahnsteig. Fast eine Stunde braucht das Gefährt für die etwa 40 Kilometer nach Naumburg. Woher ich das weiß? - Später werde ich mit dem gleichermaßen modernen, wie langsamen „Schnauferl“ zurückfahren …

Die letzten Meter: Ein bisschen Zickzack in Wohnstraßen, der Flut den Parkplätzen zustrebender 10 km- und Halbmarathonläufer entgegen (in beiden Wettbewerben etwa 800 Teilnehmer). Wer um diese Uhrzeit noch läuft, muss als Marathoni den weitesten der „Himmelswege“ hinter sich gebracht haben. Entsprechend ernte ich Beifall und Anerkennung. Erst recht auf der finalen Zumutung. Ich wusste, was mich ganz am Ende erwartet, hatte schließlich gestern in der „Arche Nebra“ meine Startnummer abgeholt. Allerdings empfand ich diese von Kirschbäumen gesäumte Rampe gestern weit weniger steil, als sie sich nun vor mir auftürmt. Natürlich laufe ich da rauf, Kraft dafür ist noch ausreichend da. Und selbst wenn nicht: Von hundert Augenpaaren talwärts trottender Zuschauer vefolgt gäbe ich mir sicher nicht die Blöße zu gehen. Beifall begleitet jeden Schritt. Das hilft ein bisschen, aber nicht sehr. Noch kann ich das Ziel nicht ausmachen, erst muss der Buckel abflachen …

Ein paar bekannte, abgedroschene Parolen wurden auf den Asphalt gesprüht. „Quäl dich du Sau“ und ähnliche geistige Ergüsse haben inzwischen einen solchen Bart, dass man die Erdkugel mehrfach damit umwickeln könnte. Aber es gibt ja immer wieder Einsteiger - in den Laufsport allgemein oder auf längeren Distanzen -, denen solche Sprüche im mörderischen Schlusshang helfen … Eine einzig und allein auf mich gemünzte Weisheit versetzt mir schlussendlich doch noch eine Ohrfeige: „Sehnen lügen“ lese ich und hoffe inständig, der Sprühdosen-Virtuose möge sich irren*. Denn meine Sehnen sprechen mich frei: „Heute bist du für deine Verhältnisse flotte 42 Kilometer gelaufen und es hat uns gar nix ausgemacht! Die 10 Marathons in 10 Tagen können kommen!“

*) Tatsächlich steht auf dem Asphalt „Sehnen lügen nicht!“ Das in Rot mit wenig Kontrast gesprühte „nicht“ fiel mir allerdings erst auf, als ich eine Stunde später den Berg Richtung Zug wieder runter wanderte und dabei die Schrift fotografierte.

Arche und daneben das Zieltor kommen in Sicht. Die Rampe flacht ab, Atmung und Herzschlag normalisieren sich zögernd. Natürlich nehme ich für die letzten 100 Meter noch einmal Fahrt auf. Wie üblich nur für mich und nur, um zu spüren, dass ich es nach den Strapazen der letzten Zeit noch drauf hab. Nach 12 Tagen ohne Laufpause, darin 3 Marathons und in dieser Woche 157 Kilometern, laufe ich beschwerdefrei und ohne wirklich am Limit zu sein durchs Ziel. Jedes Marathonfinish schenkt mir ein von mehr oder weniger Zufriedenheit untermaltes Glücksgefühl. Heute beschert mir der Erfolg überdies die feste Überzeugung für mein Saisonziel ausreichend gerüstet zu sein …

 

Ergebnis: 4:07:42 h; Gesamt: Platz 55 (132), M60: 6 (12)

 

Fazit zur Veranstaltung

Die mit landschaftlichen und geschichtlichen Reizen nicht geizende Strecke macht es auch Marathondebütanten relativ leicht. Wenig Buckel und überwiegend glatter Asphalt lassen ansprechende Laufzeiten zu - wenn nicht gerade strammer Westwind vorherrscht.

Die Organisation verlief weitgehend reibungslos, Helfer und teilweise auch Streckenposten mühten sich sehr darum die Läufer „bei Laune“ zu halten. Vielen Dank dafür!

Den Marathonläufern empfehle ich ihre Startnummer erst am Morgen des Starts in Goseck abzuholen. Wartezeiten gibt es infolge kleiner Teilnehmerzahl kaum und die Fahrt am Tag davor zur „Arche Nebra“ erwies sich als weit (mehr als 40 km) und infolge zweier Umleitungen als ziemlich abenteuerlich. Das gilt natürlich nur für „Alleinreisende“, die sinnvollerweise in Naumburg nächtigen, wo morgens der Bus zum Start abfährt.

 


Bildnachweis:

Aufnahme aus erhöhter Position vom "symbolischen Start": Internetseite des "Himmelswegelaufs"

Alle anderen Fotos: Udo Pitsch

 

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