Sonntag, 11. Juni 2017

Schlaflos in Bayern - ein Marathondoppel der heftigen Art

Episode zwei:  Erinnerungslücken - Frankenweglauf 2017

Das ist doch Kraxi!?? - Gebückt und mühsam wie ein steinalter Mann quält sich Kraxi den Abhang rauf. - Das Universum muss eherne Gesetze von Raum und Zeit außer Kraft gesetzt haben, wenn eine Schmalspurbahn - weithin auch als Udo bekannt - einen Expresszug wie Kraxi überholt. Er bräuchte gar nicht erst über Übelkeit und Schwindel zu klagen. Das aschfahle, wie angewidert verzogene Gesicht des Freundes klärt auf und erschreckt zugleich. In solcher Verfassung habe ich ihn noch nie gesehen. Die Hand presst er gegen den Oberkörper, ungefähr in Höhe des Magens. Ob es mit unserem in einem Fast-Food-Tempel „genossenen“ Frühstück zu tun hat? Ich gab nach der Hälfte einer Portion Rühreier auf, Kraxi würgte davor noch ein Stück Apfelkuchen runter. Beide aßen wir ohne Appetit. Stopften uns voll, weil wir glaubten nach dem Abendmarathon entlang der „Iller“ unsere Energiespeicher aufladen zu müssen.

Kraxi stellt sich ein Ultimatum, will bis zum Verpflegungspunkt bei Kilometer 9 abwarten: „Wenn es dann nicht besser ist, steige ich aus!“ Mein selbstverständliches Angebot bei ihm zu bleiben lehnt er kategorisch ab (Was heißt das schon? Ich reagierte genauso in seiner Situation!). Also nehme ich meine müden Beine in die Hand und steppe weiter den steilen Hang hinauf. Je weiter ich mich entferne, umso mieser wird mein Gefühl. Dass ich mehrmals verharre und zu ihm runter schaue, ändert daran nichts. Automatisch werde ich noch langsamer - falls das überhaupt noch geht - und erfinde eine neue Fortbewegungsart: „Extrem-Trödeling“. Zögerlich voran, aufwärts, abwärts … verunsichert und verwirrt. Einen Kameraden im Stich lassen? Das geht gar nicht. Schließlich fasse ich einen Entschluss: Bis zum Verpflegungspunkt wird es noch einige Zeit dauern. Dort werde ich auf Kraxi warten. Ich muss sichergehen, dass er wohlbehalten ankommt. Und wenn er abbricht, dann will ich das wissen.

Zeitdruck verspürte ich vom Start weg ohnehin nicht. Heute geht es rein ums „Überleben“, das war schon auf den ersten Metern klar. Irgendwie laufend ankommen, lautet mein Tagtraum. Mit Kraxi im Rücken verschwende ich so viel Zeit wie irgend möglich. Meine Blase tut mir den Gefallen und drückt. Sicher hätte ich noch eine Weile ausgehalten, erledige die „Sache“ aber sofort. Als ich wieder antraben will, nähert sich Kraxi von oben: „Es geht wieder besser!“ - Besser heißt nicht gut und so trailen und trödeln wir eine Weile gemeinsam über den „Frankenweg“. Abwärts, aufwärts und im allerallerwahrsten Sinne des Wortes über Stock und Stein. Ein steiler, steiniger oder mit Baumwurzeln gespickter Abschnitt folgt dem anderen. Inzwischen bin ich nicht mehr überrascht, wie noch vor einer Stunde. Eher konsterniert, schüttele in Gedanken den Kopf über mich. Ich hatte vollkommen vergessen, wie ruppig, wie schwierig, wie brutal anstrengend dieser Weg ist. Er muss mich doch schon 2014 an meine Grenzen geführt haben!?

Mit Kraxi gemeinsam unterwegs sein - ich hätte nicht gedacht, dass mir das noch einmal in einem Wettkampf beschieden sein sollte. Um Potenzen schneller war er immer schon, machte mir aber den Hasen, als ich 2010 nach anderthalbjähriger, verletzungsbedingter Abstinenz mein Marathon-Comeback feierte. Lange her. Mittlerweile bin ich (Lauf-) Opa und eine Marathonschnecke. Ich nütze die Gelegenheit, um den Steiermärker mehrmals bei der Wettkampf-„arbeit“ fotografisch einzufangen. In Höhe einer Aussichtsplattform verewigen wir unsere ungeplante, im Grunde traurige Gemeinsamkeit und lassen uns von einem Mitläufer ablichten. Zeit spielt keine Rolle, wenn es dir oder dem Freund besch … geht. - Eine Weile scheint es, als wäre Kraxi dazu verdammt den „Frankenweg-Lauf“ in meiner Gegenwart zu durchleiden. Irgendwann klafft eine Lücke zwischen uns, die sich stetig vergrößert und in einer Abwärtspassage verliere ich Kraxi schließlich aus den Augen …

Tempomäßig bewegte ich mich während unserer etwa 20 gemeinsamen Minuten am äußersten Rand dessen, was ich heute für vertretbar halte. Vertretbar, um bis zum Ende durchzuhalten und keinen Sturz zu riskieren. Bereits mehrmals blieb ich mit dem Fuß an Steinen hängen. Gottlob aufwärts, notgedrungen mit so geringem Tempo, dass ich mein Straucheln reaktionsschnell abfangen konnte. Ich krieg die Beine nicht hoch. Weil ich müde bin. Vom ersten Schritt an und das hat Gründe …

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Wie weiland die Kinder von Hameln dem Rattenfänger, folgt die Schar der etwa 100 Marathonis dem Veranstalter des Frankenweg-Laufs auf den Berg. Startnummernausgabe war vorhin unten in der Ortschaft „Gasseldorf“. Wer zum Start will, muss sich dieses Privileg erkämpfen, steigt vielleicht 150 Meter steil im Wald auf. Trotz morgendlicher Kühle kurz vor acht Uhr dringt der Schweiß aus allen Poren. Kraxi und ich stolpern am Ende des Felds hinan. Wären fast zu spät gekommen. Gegen 4:30 Uhr langten wir nach nächtlicher Fahrt vom Ziel des „Iller Marathons“ in Kempten im Städtchen Forchheim an. Dort bezogen wir „Quartier“ auf dem Parkplatz eines Fast-Food-Restaurants. Frühstückten kurz nach 6 Uhr, fuhren dann die restlichen Kilometer von Forchheim durchs „Wiesenttal“ bis nach „Gasseldorf“ … irgendwie verloren wir ein bisschen die Zeit aus den Augen …

Das „Eingehen“ am Berg kostet erste Körner, die mir final fehlen werden. Mit einem Abendmarathon in den Knochen und ohne Schlaf eine recht unsanfte Art in die Gänge zu kommen. Trotzdem bin ich ganz dankbar, dass mein Kreislauf auf diese vergleichsweise dezente Art geweckt wird. Natürlich fühle ich mich schlapp. Kraxi geht es ebenso, seine Bemerkungen lassen keinen anderen Schluss zu. Dennoch bin ich guten Mutes: Keine Beschwerden, kein Zwicken, nichts. In dieser Hinsicht scheint der Marathon vor nicht mal acht Stunden unerwartet spurlos an mir vorüber gegangen zu sein.

Eine Viertelstunde Aufwärtsgeschnaufe später versammeln wir uns im dichten Wald auf einer unscheinbaren Wegkreuzung. Letzte Worte des „Rattenfängers“, da und dort Galgenhumor unter den Teilnehmern, einer verabschiedet sich mit Kuss und Umarmung von seiner Begleiterin, dann geht es los. Mich auf eine Taktik einzuschwören ist heute überflüssig. Mein unfrischer Bewegungsapparat hat die selbstverständliche Parole längst ausgegeben: Langsam und mit Vorsicht! Bei mehr als 1.000 Höhenmetern geht es ausschließlich um unfallfreies Ankommen. Natürlich und soweit überhaupt möglich ohne zu gehen.

Zum Einstieg macht man es uns leicht: Einigermaßen brauchbare Pfade und abwärts. Ein paarmal staut sich die Kolonne vor Engstellen oder technisch diffizilen Passagen. Bin ich nicht böse drüber, die Stopps helfen mir das Einlaufen sanfter zu gestalten. Zwischendrin ein wenig bergan, auch mal flach für ein paar Meter, schließlich in lichtem Gehölz über Serpentinen rasant bergab. Diesen Teil des Kurses kenne ich nicht, obwohl ich den „Frankenweg-Lauf“ bereits 2014 in meine Sammlung aufnahm. Damals begann die Strecke am oberen Dorfrand von „Streitberg“, wo wir heute bereits drei Kilometer in den Beinen haben werden. Drei in zweifacher Hinsicht bemerkenswerte Kilometer: Knochenhart in mehreren Anstiegen, landschaftlich von einem Liebreiz, von dem man unwillkürlich meint: Nicht mehr zu toppen! Besonders der himmelstürmende, über gesicherte Stufen führende Aufstieg in einem Tälchen hat es mir angetan. Ein Bach plätschert über steinerne Kaskaden talwärts, die wie Sinterterrassen wirken. Grüne Sinterterrassen, was am dichten, das Sonnenlicht filternden Blätterdach über mir liegen kann. Fels- und Waldboden wechseln sich ab. Mit anderen Worten: Steine oder Wurzeln, manchmal beides, angeln häufig nach den Füßen …

Als ich auf die vormalige Route nahe „Streitberg“ treffe, ist der Kopf schon voller Eindrücke. Und meine Beine fühlen sich bereits „matschig“ an. Ich ahne, welche Tortur mir heute bevorsteht. Zumal es heiß werden soll, angeblich knapp unter 30°C. Hitze mag ich zwar, fühle mich in ihr pudelwohl, unterliege physiologisch aber denselben Einschränkungen wie alle Menschen. Die Charakteristik des „Frankenwegs“ wird uns allerdings ein bisschen aus der Patsche helfen: Meist verläuft er in dichtem Laubwald. Oft so dicht, dass man schon genau hinsehen muss, um Bodenunebenheiten zu erkennen …

Bodenunebenheiten - ein Wort das entschieden zu harmlos klingt. Ich kenne nicht die richtigen Wörter, so es sie denn gibt, um die reale Wegbeschaffenheit des „Frankenwegs“ vorstellbar zu beschreiben. Auf- und abwärts, selten ein paar Meter in der Horizontalen, will jeder Schritt überlegt sein. Auf, neben, vor oder hinter aufragendem Knubbel den Fuß aufsetzen, wo der Fels blank liegt? Wo zwischen losen Brocken, die den Pfad zum tückischen „Minenfeld“ umgestalten? Hat sich die Sehnsucht nach ein paar Metern unschwierigen Pfades erfüllt, folgt die nächste Stolperstrecke postwendend. Immer wieder hohe Tritte, die ich nicht im üblichen Steppschritt bewältigen kann. Da ich sie im Laufschritt nehme, schuften Herz und Lunge gewaltig. Zum Glück bleiben im fränkischen Land die Anstiege kurz, werden jeweils nach erträglicher Spanne von erholsamen Stücken abgelöst.

Je länger ich unterwegs bin, umso mehr hadere ich mit meiner Erinnerung. Wie kann es sein, dass ich mir nicht mehr bewusst war, wie schwierig, wie hart, wie fordernd dieser Weg ist??? Wunderschön ist er, das hatte ich nicht vergessen. Weder als Gesamteindruck, noch hinsichtlich einiger, spektakulärer Ansichten, die ich wiedererkenne. Wahrscheinlich liegt genau hierin eine Ursache für meine Erinnerungslücken: Meine damalige Begeisterung muss alles Unangenehme übertüncht haben. Und natürlich war ich damals ausgeschlafen, hatte obendrein nicht tags zuvor bereits einen Marathon absolviert.

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Seit mehr als drei Stunden arbeite ich mich nun schon im steten Rauf und Runter des Wanderpfades ab. Kraxi blieb gottlob „verschollen“ und ich hoffe inständig ihn erst im Ziel wiederzusehen. Ich stehe auf einer Brücke im engen, tief eingeschnittenen Tal der „Wiesent“ und fotografiere den Wasserlauf. Ein paar Paddelboote treiben flussabwärts. Pralles, nach Sommer duftendes Grün allüberall. Stünde ich nicht im Wahren und Echten, ich müsste die überbordende, üppige Natur als Postkarten-Kitsch empfinden. Kaum zu glauben, dass hinter diesem und den Naturwundern der letzten Stunden nicht mehr als erdgeschichtliche Langzeitprozesse und Gesetze der Evolution stecken sollen. Wenn man hier steht und schaut, setzt ein Hauch von Verstehen ein, warum Menschen an mehr als rein irdisch Diesseitiges glauben …

Erdgeschichtlich Gewaltiges liegt bereits hinter mir. Zuletzt, im Abstieg, in der steilen Uferflanke oberhalb der „Wiesent“ erlebte ich zum zweiten Mal die so genannte „Versturzhöhle“. Die wissenschaftliche Bezeichnung für dieses imposante Loch, einer teilweise eingestürzten Höhle, in der ein mehrstöckiges Haus Platz fände, vermag das mystisch Schauerliche des Ortes in keinster Weise zu transportieren. Obwohl ich die Höhle kannte, bin ich von den Dimensionen aufs Neue überwältigt. Allein für jene drei, vier Minuten, die man vom oberen Felsentor, bis zum unteren Ende, knapp über dem Talgrund, braucht, hat sich die neuerliche Teilnahme an diesem Marathon gelohnt. Unbeschreiblich! Absolut fantastisch!

Dagegen fällt die eine halbe Stunde zuvor durchquerte, vollständig unterm dichten Blätterdach verborgene „Oswaldhöhle“ fast schon ab. Dreißig, vierzig lichtlose Meter, die laufend nicht zu machen sind. Bücken muss ich mich, da und dort horizontal oder vertikal vorspringendem Fels ausweichen, der nur mit vorgestreckten Händen und zögernd gesetzten Schritten zu tasten ist. Die am Eingang wachende Feuerwehr hat ein paar Lampen in der Höhle verteilt. Schwache Funzeln nur, die allenfalls grob die Richtung weisen. Ich denke an mein Zuhause, an Helligkeit, Wärme im Winter, Sauberkeit, fließendes Wasser - mit einem Wort: Komfort. Dem stelle ich gedanklich diese Höhle gegenüber. Vor tausenden Jahren ganz sicher Unterschlupf für eine Sippe unserer Vorfahren. Die Erkenntnis, dass sie die Sicherheit dieses unschönen, rauen Ortes als „behaglich“ empfunden haben müssen, macht mich demütig und dankbar.

Ich verlasse die Brücke und wende mich dem schattigen Uferpfad zu. Von diesem Moment an behalte ich die Fluten der „Wiesent“ ständig im Blick. Flach ist der Weg, überwiegend unschwierig, enthält zudem kaum Buckel. Ich trabe dennoch sehr langsam. Das ständige Halbdunkel verbirgt Unebenheiten, außerdem bin ich müde. Ich spare Körner und gebe meinem Stoffwechsel Gelegenheit ein wenig zu regenerieren. Orientieren war bisher kein Problem, ist aktuell keins und wird bis ins Ziel keines werden. Dennoch verlaufe ich mich. Vorhin kurz, für 2 x 50 Meter, hin und zurück, weil ich nicht aufmerksam genug war. Hier am Ufer neuerlich, weil ich zu aufmerksam bin. Nach zwei-, dreihundert Metern ohne braunen Sprühpfeil des Veranstalters oder Wanderwegplakette bin ich überzeugt einen Abzweig verpasst zu haben. Also kehre ich um und halte Ausschau. Wanderer, auf die ich schließlich treffe, schicken mich postwendend zurück, versichern glaubhaft der „Frankenweg“ folge immer dem Ufer der „Wiesent“ … Verlust? Vielleicht ein halber Kilometer, plus, minus.

Ich erwische mich im unerfüllbaren Tagtraum dieses angenehme Dahintippeln am schattigen Ufer bis ins Ziel beizubehalten. Einerseits, weil ich müde bin. Aber auch der bezaubernden Eindrücke wegen, die ich Minute um Minute einsammele. Bäume, deren Äste sich wie ein Schirm über die „Wiesent“ spannen. Himmel und Grün, spiegelbildlich im Wasser. Knorrige Reste eines Baumstamms, längst von Moos besiedeltes Totholz. Hier eine Auwiese, dort eine ehemalige Mühle, zur Gaststätte umgewidmet. Zahllose Vogelstimmen begleiten mich, nur selten von menschlichen unterbrochen, die von irgendwelchen wassertüchtigen Nussschalen zu mir her dringen. Ich fühle mich ziemlich „ausgelutscht“, täte dennoch nichts lieber als durch diese malerische Aulandschaft zu laufen. - Na ja, ein zwei Dinge gäb’s da schon, wenn ich ganz ehrlich bin: In einem der Biergärten hocken und köstlich kühlen Gerstensaft trinken oder mich irgendwo unter Bäumen zum Schlafen legen - am besten beides, in genau dieser Reihenfolge.

Der grüne Tunnel endet nach vier Kilometern in der Ortschaft „Behringersmühle“, wo ich im Schatten hoher Uferbäume auf den erwarteten Verpflegungspunkt treffe. Nicht mehr weit und der heftigste Anstieg, bis hinauf nach Ort und Burg „Gößweinstein“, wird beginnen. Also nasche ich eins von vier im Hüftgürtel mitgeführten Gels. Zugleich signalisiert mein schlaffer „Body“, dass ich gut und gerne die doppelte Menge hätte mitnehmen müssen, wollte ich ausreichend versorgt sein. Ein Dank an die Helfer und schon folge ich wieder der „Wiesent“, für weitere anderthalb Kilometer, bei doppeltem Genuss: Kräfteschonender Asphalt für die Füße und ständig reizvolle Flussansichten in dem ab hier etwas breiteren Tal. Wie vor drei Jahren stehen die alten, reichlich verrotteten Waggons der Schmalspurbahn jenseits des Flusses auf totem Gleis. Zwar keiner der besagten Waggons, die Schmalspurbahn an sich fährt jedoch immer noch. Offensichtlich nicht heute oder zumindest nicht jetzt. Doch anlässlich des „Fränkische Schweiz Marathons“, dessen Strecke von Forchheim aus der „Wiesent“ flussaufwärts folgt, musste ich mich bereits von der vergnüglich pfeifenden Dampfeisenbahn überholen lassen …

Es ist so weit und ich fokussiere mich auf den bevorstehenden Gewaltakt. Wieder steil bergan und auf einem typischen Wanderpfad. Typisch steht für … ? - Richtig! Steine und Wurzeln, wenig mehr als begehbar gemachte Unwegsamkeit … Ich ringe um jeden Meter am Hang. Immer wieder kurze Pausen, damit Atem und Puls sich erholen. Weiter. Ich brauche kein Mantra und keine Sprüche, um mich vorwärts zu treiben. Unerbittlich der Berg, aber Alternativen gibt es nicht. Ich muss da rauf! Ich will da rauf!! Schritt um Schritt, bis mir schließlich Felsen den Weg verlegen. Mächtige, senkrecht abfallende, hohe Felsen. Hohe Felsen, doch allesamt beschirmt von haushohen Buchen. Nur an wenigen Stellen und nie ausgedehnt erreicht die Sonne den Boden. Schweiß rinnt dennoch in die Augen, meine Poren produzieren jetzt Unmengen davon. Kletterer hängen im Fels, von einem Kameraden am Boden gesichert. Die Holztreppe! Einzige Möglichkeit das Felsmassiv auf sicherem, zugleich kühnem Weg zu überwinden. Jenseits neuerlich hinab, einem Wandfuß folgend und wieder hinan. Ein kleines Felstor und mein überlasteter Körper verlangen ein Selfie. Darauf erkennt man einen müden, ganz und gar verschwitzten, dennoch begeisterten Kerl. Der entdeckt ein paar herzfrequenzsteigernde Meter weiter und höher seinen damaligen Fehler. Der Pfeil auf dem kleinen, mit gesenktem Kopf leicht zu übersehenden Täfelchen zeigt nach rechts, wo ich ehedem geradeaus weiter hastete.

Heute korrekt und deshalb alsbald mit einstweilen letzter Kraft in die Sonne und vor die „Burg Gößweinstein“. Burgen stehen am höchsten Punkt, also darf ich mich nun wieder auf abschüssigem Terrain erholen. Rasch erreiche ich die malerischen Gassen der bekannten Touristenhochburg. Gastgärten laden zum Verweilen ein, die nahe Basilika zur Besichtigung. Das an vergangene Zeiten gemahnende Gemäuer erfreut mein Auge, am meisten genieße ich allerdings mich bergab erholen zu können. Sonne pur auf diesen Metern. Hitze? - Alle werden später dieses Wort gebrauchen. Vielleicht bin ich in dieser Hinsicht nicht normal, aber für mich käme allenfalls ein „endlich angenehm temperiert“ in Frage.

Verpflegungspunkt vorm nächsten Anstieg, knapp nach der Halbmarathonmarke: Da streicht einer die Segel, gibt unumwunden zu Protokoll keine Kraft mehr zu haben, fragt nach Transport, der aber nicht vorgesehen ist. Nicht grundsätzlich und offiziell vorgesehen ist. Eine Helferin bietet ihm jedoch an ihn mitzunehmen, wenn er ein bisschen wartet …

Unspektakulär und trotzdem schön - der Weg über die Hügelkuppe und wieder runter in ein anderes Tal. Vorbei an einem Pferdehof, an Wiesen und Feldern und für eine Weile genieße ich die Sonne. Bis ich nach etwa einem Kilometer wieder im Wald abtauche. Wald, der in dieser Region zu Urzeiten sicher nicht die winzigste Lücke aufwies. Alsbald setze ich auf meiner Checkliste der Erinnerungen einen weiteren Haken hinter dem ansichtskartenreif mit einer Felsformation verschmelzenden Dorf „Tüchersfeld“.

Etwa vier Kilometer schlängelt sich der Pfad von hier ein schmales Tal empor bis nach „Pottenstein“, dem Startort für den 15 km-Lauf. Dem Wanderweg bleibt oft nur der Hang. Den schmalen Talgrund teilen Bach und Bundesstraße untereinander auf. Ersteres belohnt meine Augen Mal um Mal mit Bildern, die mich erfreuen. Und Letztere straft meine unschuldigen Ohren. Massenhaft Autos verkehren im Tal, deren Fahrgeräusch man durchaus noch überhören könnte. Aber die Sonne brennt vom Himmel, es ist Juni, Sonntag, und die Strecke strotzt nur so vor Kurven. Diese Mischung lockt Motorradfahrer an, wie ein Misthaufen die Fliegen. Ausnahmsweise wähle ich diesen unziemlichen Vergleich und stehe auch dazu. Die rücksichtsvollen, vernünftigen Biker, deren Abgase einen verträglich leisen Weg in die Atmosphäre finden, mögen sich bei jenen beschweren, die ihre Leidenschaft durch idiotischen, vollkommen überflüssigen Radau dem Rest der Menschheit aufdrängen …

Auf und ab im Wald, am Hang, parallel zur Straße. Ein Buckel folgt auf den anderen. Insgesamt gewinne ich an Höhe. Einmal mehr stehe - pardon: jogge! - ich fassungslos vor der Tatsache den Anspruch dieses Trails vergessen zu haben. Der Pfad gibt mir Saures, saugt Kräfte ab, schlingt Wurzeln um meine Füße, sucht mit steinernen Schwellen nun endlich meinen Sturz zu erzwingen. Zwei-, dreimal müssen mich meine Reflexe retten. Stur kämpfe ich mich vorwärts, verhöhnt vom Grinsen des Entfernungsmessers, wenn ich der Versuchung erliege und doch einmal die kaum veränderte Anzeige checke. Wieder Felswände, wieder Kletterer. „Klasse, super, toll!“ ruft mir einer zu, der sich gerade ins Seil bindet, um seinen Aufstieg vorzubereiten. „Selber toll!“ entgegne ich, als Grußadresse von Sportler zu Sportler.

Ich sehne „Pottenstein“ herbei. Keine Ahnung wieso, schließlich bedeutet der Ort nicht mehr als ein Etappenziel und nicht das Ende des Leidens. Vielleicht, weil ich mir erhoffe, dass der Weg dann einfacher wird, weniger beschwerlich. Vielleicht auch, weil dann „nur noch“ 15 Kilometer vor mir liegen. Bis es so weit ist, geht der Kampf weiter, rauf und runter, ständig den sicheren Tritt zwischen Wurzeln oder Steinen suchend. Eine spektakuläre Felsformation lenkt mich für eine Weile ab: Schmale Galerien, enge Tore, sogar ein kleiner Tunnel. Intermezzo vorbei, die Schlacht tobt unvermindert heftig weiter. Jedes einzelne Heben eines Fußes kostet Überwindung. Schlurfen - die natürliche Fortbewegungsart, wenn man so müde ist wie ich und sich trotzdem zwingt zu laufen - steht in diesem Gelände nicht zur Verfügung. Gelegentliche Wanderer auf Gegenkurs weichen automatisch zur Seite. Will hoffen aus Respekt vor der Leistung des Läufers oder purer Höflichkeit und nicht aus Mitleid, ob des erbarmungswürdigen Eindrucks den ich auf sie mache …

„Pottenstein“. Ein paar Meter Asphalt, dann wieder Wanderweg, einige Zeit am Bach entlang. Nacheinander passiere ich Einrichtungen, die Touristen und Ausflügler anlocken sollen. Eine Sommerrodelbahn. Danach einen glasklaren, schmalen See, auf dem sich quietschbunte, in Tretboote verwandelte Fantasiefiguren tummeln. Schließlich den Eingang zur „Teufelshöhle“, dessen Schlund gerade wieder ein paar Erlebnishungrige verschluckt. Ist der Weg jetzt unschwieriger? Zeitweise ja, zuweilen schlägt er aber mit bekannter Härte und den immer gleichen Schwierigkeiten zu. Im Weiler „Schüttersmühle“ (laut Wikipedia 17 Einwohner) verabschiede ich mich vom zuletzt starken Strom der Spaziergänger und - was für eine Wohltat - vom Verkehrslärm.

Nach etlichen Bechern Trinkbarem an der hiesigen Verpflegungsstation wende ich mich dem „Klumpertal“ zu. Schmal, schattig, felsenreich, Weg einstweilen erfreulich einfach und ohne nennenswerten Anstieg. Vorm Gebäude einer alten Mühle begegne ich einer älteren Spaziergängerin. Mitleid bewegt ihr Gesicht, während sie mir im Vorbeijoggen ein „Und das bei der Hitze!“ zuruft. Ich bleibe stumm. Nicht der Hitze wegen, von der weiß ich nichts. Noch immer gilt für mich: „Angenehm temperiert“. Aber wenn ich redete, dann müsste ich erklären, mehrere Sätze bilden und woher soll ich die Kraft dafür nehmen?

Und woher soll ich die Kraft nehmen, um meine erschöpften Massen nun aus dem „Klumpertal“ empor zu hieven? Märchenhaft schön ist dieser Anstieg zwischen bemoosten und mit Farnen bewachsenen Felsen, aber auch entsetzlich auszehrend. Stufen gilt es zu erklimmen, jede einzelne so hoch wie der Eiffelturm. Das geht nur mit eisernem Willen, der noch die letzten Funken Energie aus beinahe leeren Batterien quetscht …

Zum Ende hin wird’s leichter. Auch daran erinnere ich mich. Breite, ebene Feld- und Waldwege, wenig Höhenmeter. Einstweilen auch wenig Schatten. Aber den brauche ich nicht. Ich genieße es den Dämon „lähmende Müdigkeit“ für eine Weile mit geringem Krafteinsatz besänftigen zu können. Schlurfen, traben, schlurfen … Seit dem „Klumpertal“ liefere ich mir ein Duell mit einer lockigen Rothaarigen. Die oder der gerade am wenigsten Erschöpfte von uns beiden liegt jeweils um ein paar Längen vorn. Auf der bemoosten Stiege lief sie mir davon, anschließend schloss ich auf, nun zwingen mich verführerisch leuchtende Blumen zum Fotostopp. Danach hat sie einen veritablen Vorsprung, scheint auf Nimmerwiedersehen zu enteilen.

Langer staubiger, in Sonne gebadeter Feldweg, Steigung minimal. Ich füge dem GPS-Zählwerk einen weiteren Kilometer hinzu und nähere mich einem Dorf. Im Dorf die vorletzte Verpflegungsstelle, an der ich die Rothaarige wieder einhole. Neun bis zehn Kilometer sollen angeblich noch vor uns liegen. Ach lasst mich einfach daran glauben, dass nur noch neun fehlen!

Auch vergessen: Kilometer um Kilometer breite Waldwege und keinerlei Schwierigkeiten. Da gibt es nicht mal den Schatten einer Erinnerung, der bestätigen würde, dass ich schon einmal hier vorbei lief. Ist ja auch nur „stinknormaler“ Wald. Keine Felsen, keine Höhle, rein gar nix für die Fotolinse. Wieso sollte dieser Abschnitt nach mannigfachen großen und kleinen Sensationen, die der Frankenweg bisher erschloss, Echos im Kopf hinterlassen? Egal, denn nun freue ich mich über dieses Streckengeschenk wie ein Kind über ein leckeres, ihm unerwartet von Mama spendiertes Eis. Herrlich einfach und vergleichsweise rasch voran - nicht mehr weit, gar nicht mehr so weit …

Jeder war mal Kind, jeder hat mal ein Eis gegessen, also kennt jeder die Freude es in der Hand zu halten. Aber auch das Bedauern, wenn es dann weggelutscht ist, wenn nichts mehr von der angenehmen Süße übrig bleibt. - Härte löst relative Leichtigkeit ab: Zwei Buckel noch! Im Streckenprofil zwei hässliche Zacken und ich glaube mich sogar an sie zu erinnern. Zumindest an zwei markante Stellen. Also ein weiteres Mal empor, steil und mit mikroskopisch kleinen Schrittchen. Pfad so weit okay, keine besonderen Schwierigkeiten. Zu Beginn der Steigung hätte Frau Rothaar mich fast eingeholt, nun fällt sie wieder zurück. Weil ich den doofen Hügel tippelnd in Angriff nehme und nicht gehe. Gehen? So kurz vorm Erfolg absolut keine Option. Auch wenn ich mich einen Narren schelte, wie viele Male zuvor: Ich bin Läufer. Und Läufer laufen, die gehen nicht. Es sei denn der Drachen obsiegt. Aber so weit ist es noch nicht. Noch leistet Siegfried Widerstand. Vorwärts! Rauf da! - Wieder schiebt sich ein dekorativer, bemooster Felshaufen ins Sichtfeld. Sieht aus wie ein gewaltiger Haufen Kot - man möge mir den Vergleich verzeihen -, der auf seine Beseitigung durch einen Riesen mit Besen und Kehrschaufel zu warten scheint. An seinem Rand „schnecke“ ich empor, überwinde ein Joch, traile ein paar Meter hinab, verlasse den Wald, gewinne ein schmales asphaltiertes, dafür knackig steiles Sträßchen.

Vor einem Ausflugslokal ist es vollbracht und der vorletzte Buckel Geschichte. Hinab und nun nur noch drei Kilometer. Lächerliche drei Kilometer. Was soll da schon noch kommen. Runter, runter, runter und hinaus auf eine Lichtung im Wald. Beinahe eben jetzt, an Feldern vorbei. Vielleicht habe ich einen der beiden Hügel vorab schon überwunden, ohne es wirklich zu bemerken!? Was soll sich mir auf zwei Kilometern schon noch in den Weg stellen? - So einiges würde mir ein Ortskundiger antworten. Zum Beispiel der übelste Wurzeltrail des ganzen Marathons. Über und über beflastert mit knorrigen Schlingen. Unglaublich. Da muss jemand böswillig Extrawurzeln hinzu montiert haben. So dicht und kreuz wie quer lässt sie doch Mutter Natur nicht wachsen? Und bergan geht’s dabei obendrein. Nicht so barbarisch wie noch eben, dafür aber länger. Die Formulierung habe ich mir aufgespart, weil sie nirgendwo besser passt als für diese Ausgeburt eines Wurzeltrails: Der Weg scheint kein Ende zu nehmen!

Nimmt er letztendlich und selbstverständlich aber doch. Jenseits der Kuppe steil bergab und am Waldrand entlang. Drei Minuten später quer durch eine Wiese und am Ortsrand von „Obertrubach“ endlich - ENDLICH! - ins Ziel.

Meine Freude über das Finish ist groß und dass mich ein Kraxi mit wieder gesunder Gesichtsfarbe im Ziel begrüßt, macht die Sache zum Fest. „Getrennt marschieren, vereint schlagen!“ Gemeinsam haben wir das Abenteuer „Schlaflos in Bayern“ zu einem erfolgreichen und glücklichen Ende gebracht …

 

Ergebnisse:

Hannes Kranixfeld: 5:25:18 h

Udo Pitsch: 6:46:41 h

 

Fazit zum Wettkampf

Kleine aber feine Veranstaltung ohne Fehl und Tadel, die mehr Teilnehmer verdient hätte. Alles von liebenswerten Menschen bestens organisiert und ausgerichtet!

Die Strecke führt durch eine traumhaft schöne Landschaft, die - und das sollte jeden Landschaftsläufer aufhorchen lassen - es in dieser Art an keinem Ort der Welt ein zweites Mal gibt. Absolut grandiose erdgeschichtliche Zeugnisse und hübsche Orte an der Strecke. Passagen am Fluss und mehr als drei Viertel der Strecke in wunderschönem Laubwald. Muss man erlebt haben, kann man mit Worten nur unzulänglich wiedergeben.

Der Streckenanspruch ist allerdings gewaltig. Frankenweg-Lauf klingt viel zu harmlos. Das „Ding“ ist ein waschechter Trail-Marathon mit technisch anspruchsvollen Abschnitten. Mehr als 1.000 Höhenmeter gilt es obendrein zu überwinden.

Fazit: Unbedingt ein drittes Mal, so lange ich so anspruchsvolle Wege noch laufen kann!

 

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