Samstag, 10. Juni 2017

Schlaflos in Bayern - ein Marathondoppel der heftigen Art

Episode eins:    Bei Nacht ist mit Dunkelheit zu rechnen - Iller Marathon 2017

Wie üblich chronologisch schildern, was mir marathonweit widerfuhr, mich innerlich bewegte? - Nö, diesmal nicht, keine Lust. Nicht bei einem Marathon mit lichtlosem Zwei-Stunden-Loch, in dem gefangen ich wenig mehr als die Wiedergabe einer fußnahen Schattenwelt anzubieten hätte. Stattdessen bediene ich mich einer eher szenischen Erzählweise, um Eindrücke und Erlebnisse beim Dämmer-, Abend-, Nachtmarathon - wie auch immer - an der „Iller“ festzuhalten.

Ohne Sinn aber mit Verstand

Heute Abendmarathon von Immenstadt nach Kempten, morgen früh „Frankenweg-Lauf“, gleichfalls 42,195 km weit. Dazwischen eine Autofahrt und kein Schlaf. Bis heute ließ sich der Laufgott nicht dazu herab, mir den tieferen Sinn solchen und anderen „läufigen Irrsinns“ zu offenbaren. Was ich mir von derlei exzessivem Training erhoffe, kann ich dagegen meist ziemlich genau beschreiben. In den letzten Wochen der Vorbereitung auf mein Saisonziel - 10 Marathons in 10 Tagen - brauche ich vor allem zweierlei: Hohe Wochenumfänge und wenig lauffreie Tage. Zwei Marathonläufe hintereinander ergeben schon mal 84, zusammen mit den vier Trainingseinheiten von Dienstag bis Freitag bringe ich es damit auf über 150 Wochenkilometer.

Von verrückten und normalen Menschen

Damit ist schon mal klar, dass ich alles andere als ausgeruht zum „Iller Marathon“ antrete. Weshalb ich auf dem Weg entlang der „Iller“ mit angezogener Handbremse laufen will, dürfte nun gleichfalls jedermann einleuchten. Bekanntermaßen tummeln sich neben mir etliche andere Verrückte in der Manege des Laufzirkus. Aktuell befinde ich mich in äußerst „schlechter“ Gesellschaft: Der Steiermärker „Crazy Kraxi“ reitet mit mir durch Nacht und Wind, später auch auf der Fahrt ins Frankenland. Und vorm Start in Immenstadt treffen wir auf einen der derzeit ausgeflipptesten Vertreter im Ultralauf-Business, den „rasenden Roland“. Es kann nicht mehr lange dauern, bis es Roland gelingt zwei Läufe zur selben Zeit zu absolvieren. Gerade kommt er aus Biel, wo er 100 km abgerissen hat. War heute Morgen im Ziel, blieb folglich so gut wie schlaflos. Und nun noch eine kleine Trainingseinheit am Abend, zum Auslaufen sozusagen. Ach ja: Abschließend noch ein Beitrag zur Rubrik „Hat sie der noch alle?“: Heute Nacht will uns Roland ins Frankenland verfolgen, um danach - zum zweiten Mal schlaflos geblieben - durch die Sächsische Schweiz zu rennen … Wie man sieht, wird Schlaf vom überwiegenden Teil der Bevölkerung, den so genannten „normalen Menschen“, völlig überbewertet.

Die Strecke

Den Namen „Illermarathon“ verdient sich die Veranstaltung redlich. Ungefähr 90 Prozent der Strecke schmiegen sich ans Flussufer, oft mit freier Sicht zum Wasser - jedenfalls bis es dunkel wird. Zum Auftakt eine Stadionrunde, dann ein kurzer Zubringer. Mittendrin, etwa von Kilometer 24 bis 27 und damit für die meisten Läufer ohnehin im Finstern, schneidet die Route eine Flussschleife über Straßen ab. Damit ist übrigens auch der Ort der einzigen markanten, jedoch mäßigen Steigung beschrieben. Kurz vor und in Kempten flieht der Kurs noch einmal für 1,5 Kilometer vom Flussufer auf Vorortstraßen.

Mensch und Natur

Auf den ersten 8,5 Kilometern laufe ich flussaufwärts, also mit Blickrichtung Allgäuer Berge. Wer sich davon das ganz große, von der untergehenden Sonne wildromantisch inszenierte Gebirgspanorama verspricht, wird enttäuscht. Schuld ist der Mensch, wer sonst. Dem unberechenbaren, bisweilen tosenden Bergfluss raubte er seinen Charakter, deichte ein, schützte sich mit Verbauungen vor Uferfraß. Übrig blieb ein Torso, kanalisiertes Wasser, das nur stellenweise frühere Wildheit ahnen lässt. Menschen, die an den Ufern leben, schützen die Bollwerke vor Überflutungen. Die meisten scheint die Verstümmelung auch optisch nicht zu stören. Immerhin reihen sich flussaufwärts Kleingärten aneinander, wie Perlen einer Kette. Mir nehmen sie die Sicht auf die Berge, was das Lauferlebnis zusätzlich schmälert.

(K-) Ein Bad im Fluss?

Ein regulierter Fluss taugt eher nicht zum Baden. Schon gar nicht für Kinder. Vielleicht häufen sich deshalb Badeseen in Ufernähe. Zwei Wasserflächen passiere ich noch vor der Wende in Sonthofen, auf dem Illerdamm, der beim zweiten See als Doppelufer fungiert: Rechts stehendes, links fließendes Gewässer. Drei Kilometer weiter, am anderen Flussufer, also unterdessen in Gegenrichtung laufend, lädt eine noch größere Wasserfläche zu allem ein, was man am und im Wasser tun kann. Mich verleitet sie kurz stehenzubleiben und den in schwaches Abendrot getauchten See samt markant klotzigem Berg im Hintergrund abzulichten. Der Berg hat einen Namen: „Grünten“, mehr als 1.800 m hoch. Die exakte Höhe kenne ich nicht. Wieder antrabend wallt Erinnerung auf. An die Zeit, Anfang des Jahrtausends, als ich ein paar Wochen dienstlich in Sonthofen anlässlich eines Lehrgangs verbrachte. An einem der Nachmittage musste der „Grünten“ herhalten, um meinen Bewegungsdrang zu befriedigen: Rasch rauf, schauen und wieder runter …

71 Höhenmeter

Vorm Start studierten wir die aushängende Streckenkarte. Irgendwer legte beruhigenden Balsam um Kraxis und meine vom bevorstehenden Doppeldecker etwas bekümmerte Seele: „Flacher Kurs, nur 71 Höhenmeter“. 71 Höhenmeter? Das ist wenig mehr als nichts, wenn du dir am Wochenende zuvor 1.800 Meter vertikal erschwitzt hast. Um es kurz zu machen: Wer auch immer diese Zahl in die Welt setzte, er macht sich und anderen etwas vor. Über viele Kilometer geht es tatsächlich flach dahin. Zudem liegt das Ziel, so man einem Fließgewässer folgt, notwendigerweise tiefer als der Start. Ein paar Anstiege verlegen dem Marathoni dennoch den Weg. Wie schon beschrieben ein sanft ansteigender „Hügel“ etwa zur Streckenmitte. Völlig harmlos, überdies auf asphaltierten Wegen. Weit unangenehmer empfinde ich die vielen kurzen Buckel im letzten Viertel der Strecke. Unablässig rauf und wieder runter. Nie mehr als ein paar Meter, aber auch Kleinvieh macht Mist. Ein Pfad am Ufer der „Iller“, unterhalb des steil abfallenden Ufers, wo sich der Fluss tief in die Landschaft gegraben hat. Der Abschnitt zehrt aus, wovon die vielen Geher Zeugnis ablegen, die ich dort einen nach dem anderen einsammele. Verglichen mit ernsthaft profilierten Strecken sind die Knubbel natürlich kaum der Rede wert. Was mich angeht, sorgen sie jedoch dafür, dass ich weniger gut „erhalten“ den Zielstrich quere als erhofft.

Wie dem auch sei: 71 Höhenmeter sind Lug oder Trug. Die wahre Zahl kennt wahrscheinlich niemand, sie liegt jedoch eindeutig über hundert.

Vom Wollen und Können

Vom Körpergefühl vorm Start auf den physischen und mentalen Verlauf eines Wettkampfs zu schließen - diese Versuche habe ich vor längerer Zeit eingestellt. Erstens fühle ich mich davor meist „unausgeruht“, nicht wirklich bereit. Übrigens davon unabhängig, ob ich - so wie heute - mit unvollständiger Regeneration antrete oder nach regelgerecht praktiziertem „Tapering“ voll aufgeladen. Darüber hinaus stellt ein vorab empfundenes Gefühl der Stärke keine Gewähr für einen gedeihlichen Wettkampf dar.

Dass ich mit Kraxi auf einer Bank vorm Stadion schlaff abhänge, während wir auf den Start warten, bedeutet demnach gar nichts. Auch wenn mich der Bergmarathon mit 1.800 Höhenmetern am letzten Sonntag ziemlich rangenommen hat. Und obwohl ich seitdem schon wieder mehr als 70 Trainingskilometer sammelte. Ein Muss, wenn man Ziele ansteuert, wie ich sie mir vornehme. Wenn ich morgen Nachmittag in Franken das Ziel erreiche, werde ich die geplanten über 150 Wochenkilometer gepackt haben …

Durch die Auftaktrunde im Stadion stampfe ich mit unrundem Fahrwerk und ziemlich müde. Abwarten und Einlaufen. Beinahe jedes Training beginnt mit ähnlichen Empfindungen, die eher zum Aufhören als Weitermachen raten. Auf dem Illerdamm lässt das Knirschen im Räderwerk alsbald nach. Keine Beschwerden. Vielleicht ein kurzes „He! Schon wieder laufen? Muss das sein?“ von diesem oder jenem motzigen Matrosen im Maschinenraum. Wirklich kaum des Schreibens wert. Die Unfrische hält sich dagegen hartnäckig. Im Aufgalopp blieb ich noch eindeutig unter der Tempomarke 6 min/km, an der ich mich in diesem Jahr meist orientiere. Ab Kilometer 3 schleiche ich dann mit ein paar Sekunden „Verspätung“ dahin, vermag die Schallmauer einstweilen nicht zu durchbrechen.

Sei’s drum: Für heute habe ich mir jedweden Zielzeit-Ehrgeiz mit Nachdruck untersagt. Egal, was entlang der „Iller“ als Zielzeit rauskommt, ich werde mich damit zufrieden geben. Also Laufen nach Gefühl, irgendwie „reinrollen“, Rhythmus finden, möglichst ungeschoren die Laufnacht überstehen.

Wie in jüngerer Zeit mehrmals erlebt, geschieht auch heute Erstaunliches: Nach etwa einer Stunde geht es besser. Fühle mich weniger angestrengt, laufe flüssiger. Natürlich bildet sich das in den Zwischenzeiten ab. Teilweise setze ich bereits nach etwa 5:45 min einen Haken hinter den gerade beendeten Kilometer. Zu schnell? - Ich entscheide mich für eine „Laufpolitik der Nichteinmischung“. Lasse die Beine machen. Sie werden wissen, wie sie die 42,195 Kilometer mit geringstem Verschleiß und Raubbau an Kräften überstehen können. Flüssiges, rundes Laufen.

Dann wird es nach und nach dunkler und zunächst scheint sich meine Laune anzupassen. Vielleicht will mich ein innerer „Nervzwerg“ auch nur daran erinnern, dass ich nächtlichen Blindflug eigentlich hasse. Du siehst nix, rennst mehr oder weniger stumpfsinnig auf ein Portal zu, von dem du hoffst, es möge sich so rasch wie möglich vor dir aus dem Dunkel schälen und den Quatsch beenden. Letztlich stabilisiere ich meine mentale Befindlichkeit aber auf „brauchbarem“ Niveau. Die laaaaaange Übergangszeit von hell auf dunkel infolge wolkenfreien Himmels mag dabei helfen. Noch gegen 22:30 Uhr kann ich meine Umgebung schemenhaft erkennen. Der für eine Weile von ausbleichendem Feuerrot über lila bis hin zu nachtblau bepinselte Horizont tut ein Übriges. Dass mich nach längerer Laufzeit nichts - rein gar nichts! - orthopädisch belästigt, nicht mal die seit Monaten nervige Achillessehne (Juhu!), gibt dann den Ausschlag. Das und scheinbar ermüdungsfrei dahinzutraben.

Leere Versprechungen

Scheinbar ermüdungsfrei. Es kommt dann doch ein bisschen anders. - In der Ausschreibung steht: „Gel an den Versorgungsstellen 10, 20, 30 km“. Danach richte ich meine Verpflegungsplanung aus. Da nichts im Laufgeschäft sicher ist, am wenigsten versprochene Gels, habe ich ein eigenes dabei. Tatsächlich ergattere ich bei Km 10 ein Tütchen Energie. Vielleicht half das meinem bis dahin „untoten“ Energiestoffwechsel auf die Sprünge. Kann sein, möglicherweise, eventuell, weiß nicht.

Flott und frohgemut einher trabend finde ich dann ein gel-loses 20 km-Buffet vor. Alles von den Vorgängern und den Teilehmern am Traillauf* weggenascht. Ziemlich doofe Sache und ich hätte dem Herrn Veranstalter schon ein paar unfreundliche Worte in dieser Kausa zu sagen. Aber der ist nicht hier und die Helfer haben keine Schuld am Planungsversagen. Energieriegel gibt’s noch. Ich schiebe mir ein Stück davon in den Mund: Knochenhart bis klebrig zäh verbacken, unkaubar, völlig ungenießbar. Wer produziert einen solchen Mist? Und wer bietet ihn Läufern an, die sich im Vorbeilaufen, -gehen, allenfalls kurz Stehenbleiben verpflegen wollen? Dass der Tisch noch von Riegelschnipseln überquillt, obwohl ich ziemlich weit am Schluss des Feldes laufe, zeigt, wie ungenießbar das Zeug ist. Klar, dass es kein Gel mehr gibt … Ich spucke den Müll in den Müllsack, pfeife mir stattdessen ein Stückchen Banane rein. Das bringt zwar nichts, bewahrt aber einen Rest von Einbildung mit etwas Brennstoff im Bauch von hinnen zu ziehen …

*) Der „Traillauf“ nutzt dieselbe Route, verzichtet jedoch auf die anfängliche Schleife über Sonthofen. Distanz somit 25 km, Start eine halbe Stunde nach dem Marathon.

Dann widerfährt mir der sanfte Anstieg und ich beschließe mein mitgeführtes Beutelchen an der nächsten Station (ungefähr Km 25) zu verzehren. Bei Kilometer 30 - da war ich vorweg schon ziemlich sicher - wiederholt sich das böse Spiel: Pampig Hartes und Bananen auf dem Tisch aber kein Gel. Okay, dann ist das eben so. Dafür schütte ich mich mit Cola zu. Enthält zwar nur zehn Prozent Zucker, außerdem wird es eine Weile dauern bis der in den Brennkammern meiner Muskeln ankommt. Aber besser als nichts. Das Koffein in der Cola interessiert mich nicht. Leider hänge ich nicht dem (Aber-) Glauben an, demzufolge Spuren von Koffein in ein paar Schlucken Cola gegen Ende eines Marathons Wunder wirken.

Bedauerlicherweise (halbwegs aber auch erwartet) entfaltet der Cola-Zucker nicht die gewünschte Wirkung, zumal mir, wie geschildert, ausgerechnet auf den finalen Kilometern Buckliges den Weg verlegt. Meine Pace sinkt und ich nehme es widerstandslos hin. Selbstverständlich! Meine Beine bestimmen heute selbst, welchen Takt sie schlagen wollen und können. Morgen im Frankenland werde ich ihnen Gewalt antun müssen. Morgen. Heute nicht.

Vielleicht klingen die Zeilen meiner körperlichen Entwicklung über 42 Illerkilometer zu undramatisch. So, als wäre es ein Spaziergang für mich. Dieser etwaige Eindruck ist falsch. Ein Marathon nimmt einen immer ran. Dieser auch, infolge Tempomäßigung und wenig Höhenmetern allerdings gebremst, so dass ich meine Chancen wahre die morgigen über 1.000 Höhenmeter auf nicht ganz einfachen Pfaden auch noch zu überstehen.

Bei Einbruch der Nacht ist mit Dunkelheit zu rechnen

Diese bedeutungsschwere Formulierung soll einst in einer „zentralen Dienstvorschrift“ der Bundeswehr gestanden haben. Lasst mich bitte weiterhin im Glauben, ein böswilliger Ersatzdienstleistender habe die Mär vom Vorschriftenstumpfsinn in Umlauf gebracht. Wie dem auch sei: Den Nachweis, dass der Satz stimmt, führe ich seit einiger Zeit. Himmel und Erde sind längst in Unsichtbarkeit verschmolzen. Sterne lassen ahnen, wo die Trennlinie zwischen fest und gasförmig verläuft. Aber nur wenige und sehr helle Sterne. Dich am Band der Milchstraße romantisch aufzuladen gelingt dir nämlich auch nicht, wenn du geblendet hinterm grellen Lichtkegel deiner Stirnlampe herläufst. Deine Welt schrumpft auf ein paar Kubikmeter ausgeleuchteten Raumes. Und so wenig Welt ist mir nicht genug.

Hohe Gräser, Büsche, Bäume huschen schemenhaft vorbei. Jeglicher Farbe beraubt. Zäune, Viehweiden, gerade noch zu ahnen. Sonst ist da nur der Weg. Und zwei Kröten im Abstand von ein paar Kilometern, die niemand vor der Gefahr warnte, die heute Nacht von aberhundert Läufersohlen droht. Zum Glück gelingt es mir die Tiere unversehrt zu lassen. Für diesen oder jenen schwierig nachzuvollziehen, aber es stürzte mich in ernsthafte Trauer, würde ich so einer Kreatur Leid zufügen. Und nur, weil ich mich hier zu einer Zeit rumtreibe, wo der Weg nun mal den Kröten gehört. In Sachen Tierwohl empfinde ich schon tagsüber als Weichei. Erst recht nächtens, wenn ich tausend bessere Plätze für mich wüsste, als einen Uferweg entlang der „Iller“.

Ach ja, die „Iller“. Die fließt nebenan. Okay, na und? Ich sehe sie nicht, also könnte ich genauso gut auf dem Mond laufen, gäb’s dort oben Luft und ausreichend Schwerkraft. Apropos Mond: Erst ist er noch nicht aufgegangen, dann steht er nur handbreit überm südöstlichen Horizont, hat folglich über vier Stunden kaum Erhellendes beizusteuern. Der Mond mag mich sowieso nicht. Hielt sich immer verborgen, wenn ich mich auf nächtliches Laufen einließ. Man stelle sich vor: Da fährt einer 200 Kilometer weit, um an einem „Supervollmond Marathon“ teilzunehmen, schlägt sich dafür eine saukalte Novembernacht um die Ohren. Und was macht der treulose Mondgesellle? Schiebt sich böse kichernd undurchdringliche Wolken vors Gesicht. Gemein oder? So geschehen anno Domini 2016 …

Optisch also „tote Hose“ um mich her, für beinahe zwei Stunden, bis kurz nach Mitternacht. Dann spitze ich eben die Ohren. Afrikanische Savannennächte haben akustisch einiges zu bieten. Hab‘s schon erlebt. Zikaden surren ihr monotones Lied, dann und wann Laute von Tieren. Und hier? - Die Iller-Savanne unterhält mit nichts dergleichen. Nicht mal Grillen zirpen, kein einziger tierischer Laut. Da gibt es nur meine Atmenzüge und Schritte, beides ausgeblendet. Ansonsten mal ein Zug, der irgendwo vorbei rattert, dann und wann Fahrzeuggeräusche in der Ferne. Ich will mir einbilden auch ein paar Gluckser der „Iller“ vernommen zu haben. Allein schon, um es hier zu erwähnen und mit Fug und Recht behaupten zu können: „Ich lief am Fluss entlang“ …

Auch meine Nase hat wenig zu tun. Äußerst selten schwacher Heuduft. Um diese Jahreszeit und im Allgäu hatte ich mir häufigen und sehr intensiven Heuduft an der Strecke versprochen. War wohl nix. Hin und wieder kitzelt ein bisschen Blütenduft von Büschen oder unbekannten Kräutern in der Nase. Alles nicht weltbewegend.

Was will ich eigentlich mit diesen launig finsteren Sätzen sagen? - Im Grunde gar nichts. Höchstens erläutern, weshalb ich nie verstehen werde, was Menschen daran begeistert in dunkler Nacht durch die Gegend zu rennen. Und es gibt sie, die Begeisterten. Wie könnte der Veranstalter sonst mit dem besonderen Erlebnis nächtlichen Laufens werben …

Event-öses …

… vorm Start: Läufer leiden gleichermaßen unter Reizüberflutung und Übersättigung wie der Rest der Gesellschaft. Sehr viele jedenfalls, so scheint es. Da glauben manche Veranstalter ihrem Lauf mit einigem Budenzauber erste, mehr und dauerhafte Aufmerksamkeit verschaffen zu müssen. Vorm Start im Auwaldstadion beschränkt sich der Aufwand noch auf salbungsvolle Lautsprecherdurchsagen, ein prall aufgepustetes Starttor und schmucke, blaue Reiter am Rand der Startbahn. Kraxi - wenn ich Haltung und Ansagen meines Freundes richtig interpretiere - und ich drehen nicht gerade euphorisch die Auftaktrunde im Stadion. Die gute, von der tief stehenden Sonne in warme Farben getauchte Stimmung im Läuferfeld steckt uns nicht an. Unterdessen schwant uns wohl beiden, dass das Vorhaben „Schlaflos in Bayern“ kein Zuckerschlecken werden wird …

… beim Zieleinlauf: Ich komme aus stundenlanger Dunkelheit, durchquerte zuletzt eine um Mitternacht einigermaßen ausgestorbene, ins diffuse Licht von Straßenlaternen getauchte Kemptner Innenstadt. Zumindest galt das für die Abschnitte entlang der „Iller“ und auf Nebenstraßen. Als ich kurz vorm Ziel die „Iller“ per Fußgängerbrücke überquere, reißt ein blau-weißes, quer zur Laufrichtung am Holzboden flirrendes Lauflicht meinen Sehnerv aus seinem Dämmerzustand. Irgendwie macht mich das Lichtspiel an - ich geb’s ja zu. Vor allem, weil’s allzu lange wenig an optischen Reizen zu genießen gab. Hingeben mag ich mich der Lichterorgie nicht. Auch nicht dem anschließenden Ehrengeleit dicht an dicht aufgepflanzter Fackeln. Grund: Verwirrung. Statt wie erwartet auf der anderen Illerseite im gleichnamigen Stadion einzulaufen, bewege ich mich nun weg davon, dennoch - vom Brimborium zweifelsfrei belegt - aufs Ziel zu. Das erreiche ich wenige Sekunden später, durch Nennung von Namen und Verein dem Dunkel und der Anonymität entrissen, nach genau vier Stunden, 12 Minuten und 51 Sekunden.

„Crazy Kraxi“ und den heute nach 100 km Warmlaufen nicht ganz so „rasenden Roland“ treffe ich in der sich anschließenden Halle, ehedem ein Maschinenhaus der Illerkraftwerke. Vor der unterwegs kaum verspürten Nachtkälte leidlich geschützt, tauschen wir am Läuferbuffet erste Erfahrungen aus …

Ergebnisse:

Hannes Kranixfeld: 3:36:28h, Platzierung: Gesamt: 42. (127), M40: 6. (12)

Roland Krauss: 4:11:42 h, Platzierung: Gesamt: 89. (127), M55: 7. (10)

Udo Pitsch: 4:12:51 h, Platzierung: 93. (127), M60: 3. (8)

 

Fazit zum Wettkampf

Wer gerne im Übergang vom Tag zur Nacht und stundenweise auch im Dunkeln läuft, für den dürfte die Route an der „Iller“ der ideale Ort für einen Marathon sein. Die Strecke ist vergleichsweise einfach zu laufen, da sie mit wenigen Höhenmetern (120?) fordert und über vorwiegend glatte Wege führt. „Komfort-reduzierend“ wirken sich die mitzuführende Stirnlampe und die vorgeschriebene Leuchtweste aus. Nach ein paar hundert Metern hat man sich allerdings an die Utensilien gewöhnt - so sie richtig passen.

Planung und Durchführung gaben nach meiner Beobachtung nur in einer Hinsicht Anlass zu negativer Kritik: Gel vorzuhalten und das auch in der Ausschreibung bekanntzumachen ist eine löbliche Dienstleistung. Das Präparat dann jedoch nicht in ausreichendem Maß bereitzuhalten, so dass auch später passierende Läufer darauf zugreifen können, ist jedoch inakzeptabel.

Hervorzuheben sind die vielen Helfer, deren Freundlichkeit ich zu schätzen wusste. Ohne ihr Engagement wären Läufe wie dieser nicht möglich. Immerhin opfern sie einen Samstagabend, um uns das Laufen zu ermöglichen. Danke!

Fazit: Schon mal wieder, weil ich nicht weit fahren muss.

 

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