Sonntag, 4. Juni 2017

 Auf neuen Wegen   -   Sommeralm Marathon 2017 

Manches im (Läufer-) Leben möchte man ändern, von anderem hofft man, es möge als Fixpunkt bleiben wie es ist. Ausdauernder wäre ich gerne und orthopädisch robuster. Beides auf einem Niveau, das zu erreichen und zu halten nicht zuletzt eine Frage des Alters ist. Die Umstände, unter denen ich trainiere und wetteifere, sind ganz okay, gemessen an Rahmenbedingungen von Freunden und Bekannten vermutlich sogar paradiesisch. Auch sie verdanke ich schlussendlich meinem vorgerückten Alter, das mir erlaubte berufliche Fesseln abzuwerfen.

Woran ich seit der ersten Ausschreibung begeistert festhalte und noch lange festhalten möchte, das ist die jährliche Teilnahme am „Sommeralm Marathon“ in der Steiermark. Die Gründe dafür beschrieb ich bereits sechsmal, denn so oft stand ich in Winzendorf (Pöllau, Nähe Graz) bereits am Start. Sie werden sich dir auch in diesem Bericht Zeile um Zeile erschließen. Vom Reiz einer traumhaft schönen Landschaft abgesehen, überzeugt mich jedes Jahr aufs Neue die Arbeit des „OrgaTeams“, bestehend aus zwei - und ich verwende das Wort ohne Funken Ironie - Lichtgestalten des Laufsports: Hannes (genannt: Kraxi) und Barbara Kranixfeld. Er: Einer der besten Ultraläufer Österreichs, fairer und liebenswürdiger Sportsmann durch und durch. Sie: Kraxis größter Fan und die Seele von allem. Von Hannes’ langer Erfolgsliste ebenso, wie vom „Sommeralm Marathon“. Wer mich kennt, weiß, Lobhudelei ist meine Sache nicht. Skeptiker, die erstmals teilnahmen, fuhren jedoch allesamt mit einem glücklichen Lächeln wieder heim. - Man möge mir verzeihen, wenn ich das Fazit an den Anfang des Berichts rücke. Der „Sommeralm Marathon 2017“ ist aber gerade erst passé und mein Läuferherz fließt noch über …

Was mir ebendieses Herz ein bisschen schwer macht, hat auch mit dem Alter zu tun. Nicht nur mit meinem, auch mit demjenigen meiner sechsmaligen Begleiterin zur Sommeralm, mit Roxi, unserer Hündin. Im Sommer wird sie bereits 10 Jahre alt. Wie oft werden wir noch gemeinsam gegen steirische Höhen anlaufen können?

---

Nichts ist beständiger als der Wandel: Kraxi überdachte die Route des „Sommeralm Marathons“ und fand abschnittsweise bessere Alternativen. „Besser“ im Hinblick auf die Sicherheit der Läufer, „besser“ auch, um einen von Beginn an schwelenden Konflikt mit einem Waldnutzer zu umgehen. „Besser“ aber auch in meinem Sinne? Will heißen: Füßen und Augen schmeichelnd? - Es wird sich zeigen. Erste sichtbare Konsequenz: Die Startlinie verläuft in diesem Jahr etwa 50 Meter hinter der bisherigen. Auswirkung: Keine. So oder so steigt das Sträßchen vom Start weg sofort und allmählich an, reißt meinen wie in jedem Jahr noch schläfrigen Stoffwechsel aus letzten Träumen. Wären die ersten Schritte aussagekräftig für die verbleibenden, ich hätte nicht den Hauch einer Chance es auf die „Sommeralm“ zu schaffen …

Roxi kennt keine Anlaufschwierigkeiten. Es ist besonders diese eine, ihrer vielen guten Eigenschaften, um die ich sie beneide: Wachwerden, sich strecken und sofort über hundert Prozent Leistung verfügen. Mit dem Startkommando ließ ich sie wie üblich „von der Kette“, wonach sie sich sofort mit adrenalin-induziertem Sprint an die Spitze setzte. Nun pendelt sie eine Weile voraus und zurück, baut Erregung ab und stellt für jedermann augenfällig klar, wer von uns beiden mehr „Power“ in den Beinen hat …

Dunkler Tann nach zwei Minuten, jäher Geländeeinschnitt, über ein paar Wurzeln abwärts. Am tiefsten Punkt per Steg über einen Bach, wieder rauf und ins Licht. Ins Licht einer Obstwiese, auf die ein paar Meter Sträßchen folgen …

Licht! Mit anderen Worten: Die Sonne scheint! Mein Wetter! Das bordeigene Kühlsystem bekämpft die schwüle, stehende Luft von der ersten Minute an mit Schweiß, sehr viel Schweiß. Nachdem eine anfängliche Waldpassage, hinunter ins Pöllautal, hinter uns liegt, kleben Trikot und Hose bereits an meiner Haut. Ich bekräftige in Gedanken die simple Verpflegungstaktik für diesen Tag: Trinken, trinken, trinken. Mehr als um meinen, mache ich mir allerdings um Roxis Wasserhaushalt Gedanken. Noch mehr um eine drohende Überhitzung meiner schwarzfelligen Laufpartnerin. Ihre schon jetzt handbreit raushängende Zunge spricht Bände. Auch wenn das meine Laufzeit verlängert: Ich werde ihre „Wolle“ an jeder Verpflegungsstelle neu befeuchten müssen!

Zwischen den Feldern am Grund der flachen Wanne des Pöllautals perlen bunte Punkte, wie verschiedenfarbige Edelsteine auf grünem Samt. Wieder fand eine erkleckliche Zahl leistungsstarker Läufer den Weg ins steirische Land. 51 EinzelläuferInnen und 8 Staffeln wird das Klassement später auflisten. Ein paar Abbrecher werden die Statistik trüben, zugleich verdeutlichen, wie arg Witterung und Höhenmeter schuftenden Körpern zusetzte. Meiner bildet da keine Ausnahme. Allerdings steht mir ein mentaler Vorteil zur Seite: Ich mag Wärme und Hitze, empfinde ihre physischen Konsequenzen nicht als unangenehm, im Gegenteil.

Der flache Talkilometer hilft mir auf Touren zu kommen. Dringend erforderlich vorm beginnenden Anstieg auf neuer Route. Inmitten eines idyllischen Fleckerlteppichs aus Feldern, Wiesen und schattigen Hainen erobern wir den Hang. Dann und wann ein Wohnhaus an der Strecke, hier ein Bildstock, als Indiz für den in der Gegend tief verwurzelten Katholizismus. An Obstplantagen traben wir vorbei, vor geflügelten Räubern mit fein gesponnenen Netzen geschützt. Früher als auf der alten Strecke wird der Blick frei, hangelt sich hangwärts empor oder verliert sich auf jenseitiger Talseite über den Höhen der Oststeiermark.

Schweiß rinnt unablässig und mein „Scheibenwischer“ steht auf Dauerbetrieb. Ich fühle mich so gut wie selten in diesem Laufjahr. Asphalt unter den Füßen, Sonne auf der Haut, reizvolle Bilder für die Augen. Zutaten, die mir fast immer ein beglückendes Lauferlebnis schenkten. - Erste Labe, betreut von zwei Jungs, Kevin mit Freund (Kevin ist einer der beiden Söhne des Veranstalterpaares). Mehrere Becher Iso für meinen Bauch, ein Becher Wasser für Roxi. Den gieße ich ihr unter reibenden Bewegungen vorsichtig über Kopf und Nacken. Obwohl sie die Prozedur hasst, lässt sie mich gewähren, als kapierte sie die Notwendigkeit des unschönen Akts.

Weiter aufwärts, nun fast ständig Fernblicke genießend, schlussendlich und überraschend wieder runter. Rasant und mehr als einen Kilometer abschüssig, einen Einschnitt im Hang gewinnend. Die frühzeitige Schussfahrt ist neu, erklärt schon hier, wieso es die Neuauflage des „Sommeralm Marathons“ nun auf gut und gerne 1.800 Höhenmeter bringt. Mal mehr, mal weniger steil arbeiten wir uns aus dem „Loch“ empor. Mit „wir“ meine ich natürlich mich und Roxi, aber auch eine Handvoll Mitläufer im selben Tempo. An erwarteter Stelle mündet von rechts die alte Strecke ein. Obstplantagen und ein paar Häuser säumen den letzten Kilometer bis Labe zwei.

Hier kümmert sich Babsi Kranixfeld höchstselbst ums Läuferwohl, schenkt ein, bietet Hilfe an. Wie gehabt: Iso in meinen Bauch, Wasser über Roxis Fell, diesmal sogar eine ganze Flasche voll. Schließlich zurück auf die Straße, der bekannten, wunderschönen Route überm Pöllautal folgend …

Inzwischen zwickt meine Sehne ein bisschen. Die höhere Spannung am Berg scheint ihr nicht zu schmecken. Sorgen mache ich mir deswegen nicht, kann mich eines gedanklichen Stoßseufzers aber auch nicht erwehren: Wär’ das eine Wohltat, mal einen Wettkampf lang nicht von diesem Körperteil behelligt zu werden!

Roxi verbringt die meiste Zeit an meiner Seite. Fahrzeuge tuckern zwar nur selten vorbei, doch wenn, dann oft überraschend hinter einer Kurve oder einem Buckel auftauchend. Nie werde ich meine Panik in einem der Vorjahre vergessen, als sie sich freilaufend unvermittelt einem Milchlaster gegenübersah. Auch per Kommando an mich gekettet tippelt sie ganz zufrieden und mit wippender Zunge einher. Hinter der dritten Labe, auf einem Feldweg und anschließend im Wald, darf sie auf zwei Kilometern ihre hündische Natur ausleben: Voraus laufen, schnüffeln hier, schnüffeln da, zuweilen eine Duftmarke setzen: „Roxi was here!“

Im unübersichtlichen Hanggelände bekomme ich kaum noch Mitläufer zu Gesicht. Erst recht niemanden, den ich kenne. Auch meine Mitreisenden verlor ich schon ein paar Minuten nach dem Start aus den Augen. Zu sechst in gottlob geräumiger Limousine fuhren wir von Süddeutschland bis in die Steiermark. Vier Menschen und zwei Hunde. Eckard „Rumläufer“, der heute seinen dritten „Sommeralm Marathon“ finishen wird, ist mit von der Partie. Sein Sommeralm-Debüt gibt Roland alias „runners.high“. Selbstverständlich Roland, denn der lässt in diesem Jahr keine „Laufparty“ von Marathonlänge oder weiter aus. In der sechsmal gewonnenen Sonderwertung „Mensch-Hund“ erwächst uns heute Konkurrenz durch Susi, die ihrem Weimaraner-Rüden Arthur deutlich hurtiger ins Almenland zu folgen vermag, als ich meiner Roxi. Alle längst enteilt und ich bin gespannt, wie sie sich schlagen …

Pfingstsonntägliche Ruhe liegt überm Tal. Heute arbeitet nur, wer muss. Selbst Bauern beschränken sich aufs Nötigste, die Versorgung des Viehs. Kaum Verkehr, nirgendwo Traktoren oder Landmaschinen, kein Hämmern, noch Sägen. Nichts stört das Konzert der Grillen, das mir aus jeder nicht gemähten Wiese entgegenschlägt - Wärme für die Ohren! Häuser und Höfe stehen wie verlassen am Hang, nur selten lassen sich Bewohner blicken. Eine Frau mit Kleinkind auf erhöhter Terrasse. Beide lächeln mir zu. Häufiger als Menschen begegnen wir bedächtig grasenden oder gemütlich wiederkäuenden Rindviechern auf ihren Weiden. Unstet mein Schauen, hier hin, da hin, von nah auf fern, von fern auf nah. Suche alles zu erfassen, will es mir bewahren. Fühle mich auf seltsame Weise „sesshaft“, selbst wenn es mich unablässig vorwärts treibt. So vertraut alles. War ich wirklich ein Jahr lang nicht mehr hier?

Zu behaupten der andauernde nur selten von flachen oder gar abschüssigen Stücken unterbrochene Anstieg fiele mir leicht, wäre eine glatte Lüge. Alles schlaucht. Schritte, Witterung, Roxi mit Kommandos lenken. Man sieht es mir an und Fotos bezeugen es. Doch möchte ich woanders sein? Genau jetzt? Das Joch der Anstrengung abschütteln und es mir „gutgehen“ lassen? - Zweifelsfrei und mit Betonung gedacht: Nein!

Der vorläufig höchste Punkt ist überschritten, binnen Minuten hinab zur Einmündung des Sträßchens in die Bundesstraße. Hundetippeln an meiner Seite, menschliche Schritte hinter mir. Bleibe dicht am Straßenrand, um schnellen Fahrzeugen auszuweichen, die jedoch auch hier nicht in bereits erlebter Dichte vorbeizischen. Kaum belästigt überbrücken wir den halben, flachen Kilometer bis zum Sattel und zur freistehenden, mächtigen Linde. Unter dem zum Naturdenkmal erhobenen uralten Baum wartet weitere Labsal. Flüssiges, wie gehabt, dazu ein Stück Kaustange als Belohnung für Roxi*.

*) Zwei in Kunststoff verpackte Kaustangen habe ich mir unter die Kompressionsstulpen geschoben.

Die am Baum abzweigende, kaum frequentierte Nebenstraße verläuft zunächst flach und weithin einsehbar. Also gönne ich Roxi ein paar selbstbestimmte Minuten. Nächster Halt: Weidetrog. Roxi schlabbert vom kühlen Nass, wendet dabei Hang und Weide das Schwanzende zu. Aus diesem Grund entgeht ihr das spontane Interesse eines der Rindviecher. Mit welcher Absicht der Wiederkäuer herbei stapft, bleibt offen. Neugier? Angriff, um den Eindringling zu vertreiben? - Ein paar Sekunden warte ich noch, damit Roxi ihren Durst stillen kann. Bevor ich Alarm schlagen kann, wendet sie sich um, sieht den Aggressor und flüchtet auf die Straße …

Nächster Halt: Blumenwiese. Der liebe Gott hat Margeriten und andere Blumenschönheiten ganz bewusst an dieser Stelle wachsen lassen. Nach kurzer, harscher Steigung und mit klopfendem Herzen kommt mir der Fototermin ganz gelegen. Wiesen, in denen Blumen wachsen. Die gibt es bei mir zu Hause nicht mehr. Äcker dienen dort der Nahrungsmittelproduktion. Zur Ertragssteigerung wechselt die Bodennutzung, mal Feldfrüchte, mal Gras als Viehfutter. Deshalb sät man Wiesen an. Optimiertes Saatgut enthält jedoch nur Grassamen, keine Blumen. Die muss man gleichfalls sähen, um dem Darben von Insekten, insbesondere von Bienen, abzuhelfen. Oberflächlich betrachtet leben wir im grünen Paradies. In Wahrheit fehlt es unserer Welt an natürlicher Vielfalt. Auch deshalb bin ich gerne hier, in weitgehend intakter Umwelt.

Nun steil auf ruppigen Wegen im dunklen Fichtenwald bergab, ohne erwähnenswerten Gegenanstieg, fast 400 Höhenmeter in die Tiefe - so habe ich die Passage in Erinnerung. Die zweite von zwei großen Streckenänderungen meint es allerdings besser mit mir. Viel besser: Nach kurzer dunkler Schussfahrt weichen wir vom bisher gültigen Kurs ab, geben die Höhe zunächst nur „häppchenweise“ preis. Kurz ebenerdig - mehr erdig als eben übrigens - ein von Holzeinschlagarbeiten gebeuteltes Wegstück nutzend. Hundert „weiche“ Meter, auf denen ich hin und her hüpfe, wie einst Zebulon auf seiner Sprungfeder (Wetten, dass sich keiner meiner Leser an die Zeichentrickfigur aus den 1960ger Jahren erinnert?). Dank fußakrobatischer Einlage überwinde ich ein weiteres Gefällestück in sauberen Schuhen. Spannung macht sich breit, empfinde mich ein klein wenig als Entdecker.

Was ich entdecke gefällt mir: Der Wald bleibt zurück und für ein paar Minuten schweift mein Blick neuerlich über nahe ländliche Idylle und ferne Höhen. Dann wieder Wald und wieder Wiese, diesmal steil am Hang. Steil auch für uns im kurzen Gegenanstieg auf Asphalt. Das Sträßchen war nur Intermezzo, abrupt der Wechsel in eine Wiese, wo wir abwärts Fahrspuren folgen, die sich mehr und mehr verlieren. Roxi flitzt voraus, heftet sich an die Hacken eines Mitläufers. Mit jedem Schritt wächst mein Entzücken, explodiert in einem Sturm der Begeisterung: Was für ein Anblick! Wie gemalt! Grüntöne von dunkel bis leuchtend hell grundieren die Leinwand, Waldsaum und Weg zeichnen weiche Schwünge ins Bild, entferntere Flanken und Höhenzüge vermitteln dem Betrachter die Tiefe des Raums. Wunderwunderschön!

Offenbar ein bisschen zu schön und zu Unachtsamkeit verführend. Kurz vorm Waldrand stolpere ich über einen Stein, strauchele, wäre um ein Haar lang hingeschlagen. Glück gehabt! Im Wald verlieren wir weiter an Höhe. Das Röhren und Dröhnen aus der Tiefe, von der im Tal verlaufenden Bundesstraße, wird mit jedem Schritt aufdringlicher. Deshalb hätte es der vor Autoverkehr warnenden Tafel wahrhaft nicht bedurft. Zumal sich einer der Helfer der jenseits aufgebauten Verpflegungsstelle einem nahenden Auto mit Handzeichen in den Weg stellt.

Geflügeltes Wort unter Marathonläufern: Erst bei Kilometer 30 beginnt ein Marathon „richtig“. Ob die Kräfte auf dem finalen Abschnitt tatsächlich schwinden, hängt allerdings von Tempogestaltung und Trainingszustand ab. Der „Sommeralm Marathon“ duldet kein Wenn und Aber. Er beginnt für jeden Läufer genau hier „richtig“, hinter der Labe im Tal, bei Streckenkilometer 27,5. Sein Profil schafft Fakten! Die „Sommeralm“ liegt etwa 850 Meter höher als mein gegenwärtiger Standort. Der Aufstieg ist nur einmal, für gut drei Kilometer, von kurzen „Aufs“ und „Abs“ unterbrochen. Ansonsten kennt die Route ab jetzt nur noch eine Höhenorientierung: Rauf! Wie in jedem Jahr, will ich diese Herausforderung zur Gänze laufend bewältigen, was mich stets an meine Grenzen brachte. Und nicht in jedem Jahr war es so warm und schwül wie heute …

Doch Bangemachen gilt nicht. Ich will und ich kann. Und heute will ich besonders gerne können, weil ein letztes Stück Neuland wartet. Es beginnt mit dem Weiler „Koglhof“, mit in den Hang gebauten Häusern im alpenländischen Stil, überragt vom Kirchturm und seiner Zwiebelhaube. Bereits hier startet die Straße ihren Zermürbungskrieg, gibt sich mal steiler, mal weniger steil, steigt jedoch unentwegt an. Ich pariere die Attacken mit variierten Schrittlängen; scheine in Steilstücken auf der Stelle zu treten, komme auf moderater Schräge etwas zügiger voran. Vor mir geht einer. Ich schließe zu ihm auf, tippele schließlich vorbei. Das Manöver spornt mich an, weil es Stärke suggeriert, wo im Grunde keine ist. Schweißtreibend himmelwärts durch zwei Kurven innerorts, schließlich wieder Wiesen und weniger Steigungsprozente.

Meistert man Schwierigkeiten leichter, wenn man sich detailliert an sie erinnert? Oder ist es zumindest mental von Vorteil, nicht so genau zu wissen, was einen erwartet? - Nach Vereinigung von alter mit neuer Strecke, kenne ich die Verhältnisse ziemlich genau und versuche durch geschickte Kräfteeinteilung Nutzen daraus zu ziehen. Noch bevor das Steilste im Steilen beginnt, verkürze ich meine Schritte und spare Puste. Teils beschattet im Wald, teils himmlischer Glut schutzlos ausgeliefert schnaufe und schwitze ich hinan. Obschon brutal anstrengend, geht es. Immer wieder stelle ich mir vor, statt köstlich glatten Asphalts einen holprigen Bergpfad unter den Füßen zu haben. Die Vorstellung relativiert mein Leiden und das hilft. Halber Kilometer, ganzer, anderhalb … dann dürfen wir durchatmen.

Vor der Ortschaft „Sallegg“ flacht die Route ab, ein paar hundert Meter zum Regenerieren. „Sallegg“ darf man unzweifelhaft als den am reizvollsten gelegenen Weiler der Sommeralm-Route bezeichnen. Die wenigen Höfe und Behausungen thronen auf einem Bergrücken. In Laufrichtung rechts hat man von hier oben eine wundervolle Aussicht über die steirischen Höhen im Nordosten. Linker Hand fällt der Hang in Form eines vertikal halbierten Trichters jäh in ein Tal ab. Jäh und so tief, das man den Grund, in den Wiesen und Waldstreifen abstürzen, nicht erkennen kann … Gegenüber, am oberen Rand des „halben Trichters“, erfasst das Auge des Sommeralm-Mehrfachtäters ein Sträßchen. In zwanzig Minuten werde ich dort sein - eine Labe später, zwei Kilometer weiter und vielleicht 200 Meter höher. Alles in allem einer der bezauberndsten Orte auf der Strecke, auch wenn er weiteres Schuften verheißt …

An der Labe in „Sallegg“ wird einmal mehr die immense Unterstützung offenbar, die der Hauptsponsor, die Firma „SMB Anlagenbau“, der Veranstaltung angedeihen lässt. Das Engagement erschöpft sich weder in umfangreichen Sachleistungen, noch begnügt man sich damit etliche Fahrzeuge für Material- und Personentransport bereitzustellen. Was den Beitrag der Firma heraushebt, sind mehrere Mitarbeiter, die sich unentgeltlich in den Dienst der Sache stellen. Allen voran der Chef der nahegelegenen Niederlassung, der unter anderem hier in „Sallegg“ Zwischenzeiten notiert. An Roxi und mir hat er offensichtlich einen Narren gefressen. Mit viel Lob bedacht und mehrfach abgelichtet machen wir uns wieder auf den Weg.

Meine Stimmung zeigt eine zur Wetterentwicklung konträre Tendenz. Ich bin gut drauf, weil ich längst weiß, dass nichts meinen Erfolg infragestellen wird. Spüre, was ich noch zu geben habe und kenne das Maß an Energie, das mir der Berg noch abfordern wird, beides ist deckungsgleich. Der Himmel wird sich an der Siegesfeier nicht beteiligen. Seit geraumer Zeit ballen sich Wolken über dem Sommeralm-Massiv. Es wird kommen, wie mehrmals zuvor und wie es ein unkender Udo angesichts Schwülwetterlage bereits gestern vorhersagte: Am Spätvormittag entwickeln sich Wolken, kumulieren mittags, fangen sich alsbald am Berg und früher oder später regnen sie ab. Angesichts der sich rapide verfinsternden Sonne wird ein trockenes Finish immer unwahrscheinlicher.

Je höher wir kommen, umso mehr gleicht die Landschaft ihrem Namen: „Steirisches Almenland“. Vereinzelt blicken noch Höfe von hier oben übers Land, ansonsten dominieren steile Almwiesen und Bergwald. Ein letzter harscher Aufschwung, dann dürfen Roxi und ich verschnaufen. Bisschen eben, bisschen rauf, überwiegend runter, jedoch nie fordernd. Schlussendlich stehen wir vor Connys und Roberts Verpflegungspunkt. Babsis Schwester Conny habe ich heute Morgen zwei Gels mitgegeben - ein Vorteil genauer Durchführungs- und Streckenkenntnis -, die sie mir jetzt aushändigt. Zwei Gels für die letzten rund fünf Kilometer. Klingt sicher übertrieben, vor allem aber nach zu später Anwendung. Allerdings werde ich für den finalen, harten Abschnitt eine weitere Dreiviertelstunde brauchen. Lange genug, um die Zuckermoleküle dort ankommen zu lassen, wo ich sie dringend brauche. In den ersten Jahren quälte ich mich auf diesem Schlussabschnitt entsetzlich. Inzwischen beuge ich mit besserer Kräfteeinteilung und einer Überdosis Zucker an Connys Labe solchem Unheil vor.

Betont zurückgenommen tippele ich den Kiesweg bergwärts. Der wird zwar nur allmählich steiler, schlussendlich aber von meinem Intimfeind abgelöst: Ein steiler Trail im Wald folgt, vielleicht drei, vier Minuten. Dahinter wartet ein ebenso steiler Wiesenpfad gleicher Länge. Ich steppe voran, langsam, stetig, nehme wurzelbewehrte Stufen, überwinde steinige Meter. Nach und nach schlage ich dem Drachen seine Köpfe ab und - oh Wunder! - es fällt mir leichter als in den Jahren zuvor. Auch die steile Wiese fährt mir weniger in die Glieder als erwartet. Habe ich mich zu sehr geschont? Verleitet gute Streckenkenntnis, die Erwartung von Härten, zu übertriebener Zurückhaltung?

Als ich wieder Asphalt unter den Füßen spüre, weist mein Herz diesen Verdacht kategorisch zurück, während es langsam seine Schlagfrequenz senkt. Die mäßig geneigte, am Hang verlaufende Straße bringt mich höher, erlaubt fast ständig wunderschöne Ausblicke gen Süden, über schroff eingeschnittene Täler des Almenlands. Schließlich „stranden“ wir vor der letzten Labe, die von Marcel, dem älteren Sohn des Veranstalterpaares, und einer Freundin betreut wird. Ganz „Macho“ hat sich Marcel auf eine Ruhebank „zurückgezogen“, lässt Vanessa „arbeiten“, huldigt selbstvergessen dem „Gott des Kommunikationszeitalters“. Welche Inkarnation der Gottheit ihn gerade in ihren Bann schlägt, bleibt sein Geheimnis. Ist’s „WhatsApp?“, ein „Game“ oder ähnlich Mystisches aus dem Cyberspace?

Die nächsten anderthalb Kilometer konnte ich noch nie leiden: Steile Straße mit viel Verkehr und null Aussicht. Ich bringe Roxi an meiner Seite auf dem Randstreifen in Sicherheit, während rechts unablässig Autos und Motorräder vorbeidonnern. Nix für die Augen, Saures für die Ohren und Abgasgestank in der Nase. Kopf gesenkt, kurzer Schritt, Kommando „Langsam!“* für Roxi von Zeit zu Zeit wiederholt. Der Abschnitt zieht sich in die Länge. Wie alles, was man nicht mag und einfach nur hinter sich bringen will. Dann ist es geschafft, ein Bergsattel gewährt für Minuten Durchatmen und unbegrenzten Ausblick nach Südwest und Nordost.

*) „Langsam!“ versteht Roxi nicht im menschlichen Wortsinne. Es bedeutet „Lauf links neben mir!“.

„Ein letzter, sch…steiler Buckel noch!“ denke ich und peitsche mich mit dem Unwort voran. Gut ein halber Kilometer und zweimal über Weideroste, dann ist der letzte herbe Anstieg für dieses Jahr Vergangenheit. Rechtskurve und der Blick wird frei: Vor mir liegt in voller Wiesenpracht die Sommeralm, viele Hektar Almgebiet, teils schroff nach Süden hin abfallend. Voraus, winzig klein aber nur noch einen genussvollen, moderat ansteigenden Kilometer entfernt, das Ziel, die „Stoakogl Hütte“. Immer wieder geht der Blick gen Himmel: Als wollten sie mich in diesem Jahr verschonen, halten dunkle Wolken ihre Fluten weiterhin zurück. Schwer einzuschätzen, wann das Wetter endgültig zusammenbrechen wird. Dass es so kommen wird, gilt mir weiterhin als sicher*.

*) Kurz nachdem die letzten Läufer die Sommeralm erreicht hatten, begann es zu regnen. Leider wurden Babsi und die Crew des „Sommeralm Marathons“ beim Aufräumen nass. Später steigerte sich der Regen zum Unwetter, mit Starkregen und Gewitter.

Wie in extremer Zeitlupe rückt die Hütte auf mich zu. Blick zur Uhr: Ich werde unter 5:30 h das Ziel erreichen. Nicht übel in einem von Verletzungspech und Trainingsrückstand geprägten Jahr. Die letzten zweihundert Meter. Zeit für eine Tempoverschärfung. Nicht für die „Galerie“, ganz allein für mich, weil es mich „kickt“ es noch zu können. Zuletzt über die Straße und durchs hölzerne Gatter der Hüttenumfriedung, dann registriert die elektronische Zeitmessung unser siebtes Finish auf der Sommeralm.

 

Fazit zur Veranstaltung

Der „Sommeralm Marathon“ gehört zu jenen Dingen in meinem Läuferleben, von denen ich hoffe, dass sie sich nie ändern. Mein Dank gilt Hannes Kranixfeld, seiner Frau Babsi, seiner Familie, den vielen Bekannten und Helfern, die diesen Marathon mit Leben erfüllen. Unendlich viel Arbeit und noch mehr Liebe zum Laufsport stecken in Planung und fehlerfreier Umsetzung der Veranstaltung. Grandios auch die Siegerehrung: Nach gemeinsamem Drei-Gänge-Menü wird jeder Sportler geehrt. Nur recht und billig, denn wer auf der „Sommeralm“ ankommt, hat Aufmerksamkeit verdient. Welches Ansehen der Veranstalter als Sportler in seiner Region genießt, wird ganz zum Schluss noch einmal augenfällig: Schier endlos die Verlosung wertvoller Preise, die eine Armada von Sponsoren zur Verfügung stellte. Allen voran die Firma SMB Anlagenbau GmbH.

Die Strecke wirbt in meinem Bericht für sich selbst. Sie ist ein Traum in grün und bunt, den man sich Meter für Meter hart erkämpfen muss. Ein Traum, der einem aber weit mehr gibt als abfordert.

Note eins mit vielen Sternchen, wie in jedem Jahr. Und auch mit dieser Formulierung wiederhole ich mich: Wer den „Sommeralm Marathon“ läuferisch in den Beinen hat und zu Hause bleibt, bringt sich um ein einzigartiges Erlebnis!

Fazit: So oft und so lange möglich immer wieder!

 


Bildnachweis:

Einige Fotos wurden von der Sommeralm-Crew bzw. Mitarbeitern der Firma SMB Industrieanlagen GmbH geschossen (siehe Bildaufschrift)

Alle anderen Fotos: Udo Pitsch

 

Wir über uns Gästebuch Trekkingseiten Ines' Seite Haftung
logo-links logo-rechts

zum Seitenanfang