Sonntag, 28. Mai 2017

Geschichten aus einer altehrwürdigen Stadt - Regensburg Marathon 2017

Bedenken und Vorsicht lenken meine Schritte durch Regensburg. Will nicht auf dem ersten Viertel der Strecke bereits verschwenden, was mich auf dem letzten antreiben soll. Solches Vorgehen weckt Erinnerungen an taktisches Kalkül der ersten Marathonjahre. Kein Detail überließ ich dem Zufall, maß allem und jedem beträchtliche Bedeutung bei. Von Marathon zu Marathon versuchte ich meine Bestzeit zu toppen. Wollte als Spätberufener wissen, wie dicht einer aus der Gruppe „Wir um die 50“ den wirklich schnellen Marathonis noch auf die Pelle rücken kann.

Es ist lange her, dass mich der Tanz ums goldene Kalb „PB“ - „persönliche Bestzeit“ - auf wenige Marathons pro Jahr beschränkte. Irgendwann hatte ich die Nase voll davon und „flüchtete“ auf Ultrastrecken. Hergang und Zeitpunkt dieser Absetzbewegung bilden eine Geschichte für sich. Eine Geschichte, deren finales Kapitel sich just im Regensburg des Jahres 2006 zutrug. Damals, als ich Regensburg erstmals auf marathonlangem Weg durchmaß …

An diesem strahlendblauen, letzten Maisonntag 2017 entspringen Bedenken und Vorsicht ganz anderen Ursachen und Absichten. Marathon laufe ich seit Langem ausschließlich zu Trainingszwecken (und natürlich um Spaß zu haben). Dementsprechend zurückhaltend gestaltete ich vorhin den Auftakt. „Laufend ankommen“ lautet die Vorgabe heute, was in einer Zeit von viereinviertel Stunden, mithin in einem Tempo von 6 min/km, möglich sein sollte.

Tempozurückhaltung kann verschiedene Ursachen haben. In meinem Fall und heute ist sie unterstellten subjektiven Limits geschuldet. Wer vor drei Tagen 63 km weit lief und dabei knapp 2.000 Höhenmeter überwand, wundert sich nicht über von Beginn an müde Beine. Außerdem plagen mich seit nun vier Monaten eine Achillessehnenentzündung und ein Zipperlein im Oberschenkel. Beide Wehwehchen begnügen sich inzwischen zwar mit leichtem Zwicken - dann und wann -, neuerliche Eruptionen beider Vulkane will ich jedoch nicht riskieren. Am wenigsten kratzt mich, wovor sich vermutlich die meisten der schätzungsweise knapp 4.000 Mitläufer heute fürchten: Hitze. Zwischen 25 und 30°C sind in der Tagesspitze vorhergesagt. Pure Wonne, wenn ihr mich fragt!

Auf den ersten zwei (im Rahmen von Stadtrundfahrten verzichtbaren) Kilometern floss der Schweiß in Strömen. Kaum Schatten und zur Startzeit 8:30 Uhr regte sich noch kein Lüftchen. Als belastend empfand ich den Auftakt dennoch nicht. Dann passierte ich das „Jakobstor“, die westliche Pforte zur Altstadt und suchte reichlich vorhandenen Schatten in engen Gassen. Für eine Viertelstunde hatte meine Linse reichlich Arbeit, dann lag der bis dato einzig sehenswerte Teil der Strecke auch schon wieder hinter mir: Leben und Treiben auf dem „Bismarckplatz“, reichlich altes Gemäuer entlang der „Gesandtenstraße“, das schöne Fachwerk des „Teehauses“, die sakrale Imposanz des „Regensburger Doms“ natürlich, schlussendlich ein Schnipsel Donauufer …

Sightseeing war und wird später wieder sein, weitere zwei Kilometer, auf dem Rückweg zum Halbmarathonziel. Der Rest ist … Straße. Zuweilen schmal, meistens breit und in Sonne gebadet. Und hier trabe ich nun, unterwegs in östlicher Richtung, im nach wie vor dichten Strom gut gelaunt schwitzender „Thonis“ - 2.877 Halbmara-, 185 Dreiviertelmara- und 652 Vollmara-Thonis (gesamt 3.714). Zumindest ist damit die Zahl der Läuferinnen und Läufern beziffert, deren Anwesenheit die spätere Finisher-Liste bezeugen wird. Wie viele Laufenthusiasten sich tatsächlich auf den Weg machten, wie viele MitläuferInnen folglich bereits aufgaben oder noch aufgeben müssen, überlasse ich deinen spekulativen Fähigkeiten. Einige mehr als üblich dürften es unter wolkenlosem Himmel schon noch werden.

„Das ist doch der Udo!?“ - Lange sechs oder sieben Kilometer durfte ich heute unerkannt laufen, nun renne ich dem „rasenden Reporter“ von marathon4you vors Kamerarohr. Wer Anton Lautner nicht begegnen will, sollte Laufveranstaltungen in Süddeutschland und im angrenzenden Österreich meiden. Anton ist Teil meiner ganz persönlichen Marathongeschichte, weil ich unsere Begegnungen inzwischen nicht mehr zählen kann. Wie es sich bei ihm verhält, weiß ich nicht, mir fiel sein Charakterkopf jedoch schon auf, lange bevor wir das erste Wort miteinander wechselten. Ein Bild hat sich dabei unauslöschlich in mein Laufgedächtnis eingebrannt: Anton vor einem Weidezaun verharrend, wo er mit Hingabe eine Gruppe Wiederkäuer ablichtete. Lange her, 2008 war das, beim Illermarathon in Immenstadt … Die Szene kommt mir jedes Mal in den Sinn, wenn ich Anton treffe. Warum ausgerechnet dieser, an sich völlig belanglose Moment gegenseitigen Aufeinandertreffens in meinem Gedächtnis dauerpräsent blieb, vermag ich nicht zu sagen. Vielleicht fand ich es seinerzeit noch kurios, den „Flow“ eigener Schritte zu unterbrechen, nur um ein paar pralle Euter in den Kameraspeicher zu laden …

Die Umgebung gibt so gut wie nichts Sehenswertes her. Also vertreibe ich mir die Zeit mit ein paar Fotoexperimenten. Mehrfach schieße ich mit der Digicam aus der Hüfte nach hinten. Was dabei entsteht schaue ich mir nicht an, will mich anlässlich späterer Betrachtungen davon überraschen lassen. Ich nähere mich dem nächsten „Schlachtfeld“, einem Meer aus leeren, teils platt getretenen Trinkbechern. Nass glänzt der Asphalt rings um die Wasser-Iso-Cola-Quelle, kündet von eiligen und deshalb misslungenen oder nur teilweise vollzogenen Trinkversuchen. Ich lasse mir stehend Zeit, leere mehrere Becher und verschwende keinen Tropfen. Gegenwärtig empfinde ich meine Umwelt zwar als höchst angenehm temperiert und mich selbst als ausreichend hydriert. Beides kann sich in den verbleibenden drei Stunden aber noch ändern …

Um mich her wird heftig geschwitzt, geschnauft, gekeucht und geröchelt. Vielen ist anzumerken, dass sie längst am Limit laufen, vermutlich demnächst ein paar Gänge zurückschalten müssen. Mir fällt das eingeschlagene Tempo zunehmend leichter. Offenbar ist es mir gelungen die unmittelbaren Folgen des Über-Drüber-Ultralaufes vom Donnerstag abzuschütteln. Kein Grund schneller zu werden, einfach weiter so. Anfangs war ich tatsächlich mit 6 min/km unterwegs, dann folgten wohl zwei, drei langsamere Kilometer. Also legte ich wieder einen Zahn zu und halte jetzt die Pace. Dass das 42 Kilometer weit so bleiben wird, halte ich für möglich. Und wenn nicht, werde ich mein Siechtum mannhaft ertragen.

Es folgt der langweiligste, von vielen deshalb sicher als „zäh“ empfundene Teil der Strecke: Rechts abbiegen und geradeaus weiter bis Wende eins, von dort ein paar hundert Meter zurück und neuerlich rechts abbiegen aufs Firmengelände des Reifenherstellers Continental. Bevor es für mich so weit ist, beantworte ich Rolands Gruß, der mir auf der Gegenseite entgegen kommt. Roland hat Wende und „Continentalschikane“ schon hinter sich. Im Startbereich verpassten wir uns heute morgen, was niemanden Wunder nimmt, der je mit der eigenen Anonymität inmitten mehrerer tausend Läufer konfrontiert wurde. Nun chronologisch: Vorrücken in Richtung Wende, Matten der Zeitmessung überlaufen (10 km in 1:00:11 h) und ein paar Schritte weiter die Kehrtwendung vollziehen. Wieder zurück, zwei, drei Minuten geradeaus und schon wende ich mich nach rechts.

Es bleibt eine Minute „Vorlauf“, um mich mental auf etwas vorzubereiten, was - so man es als Geschichte erzählte -, mit der Titelzeile „Rätselhafte Tristesse“ treffend überschrieben wäre. Mehr Rätsel aufgebend als trist bei der ersten Begegnung, weil man sich natürlich Gedanken über Nutzung und Beschaffenheit der Teststrecke macht. Ist man zum zweiten Mal hier, stellt sich allerdings auf den ersten Metern flugs der Wunsch nach den letzten ein. Noch grässlicher und hässlicher kann eine Laufstrecke kaum sein, zumal ihr gleich zwei parallel geführte Hochspannungsleitungen samt Masten einen herrlich dekorativen Hut aufsetzen. Aus dem Nähkästchen des erfahrenen 6/12/24-Stundenläufers geplaudert: Ich habe schon diverse Beispiele für „Rundlauf“ überlebt, die Depressionen bis hin zum Suizid nicht unbedingt ausschlossen. Doch dieses „Contidrom von Regensburg“ schlägt an Scheußlichkeit alles mir Bekannte.

Die Teststrecke des Reifenherstellers Continental wurde als Oval mit einer Längenausdehnung von etwa 600 m angelegt. Vor der nördlichen Kehre besitzt der Kurs eine leichte Einschnürung, die Kurven weisen minimale Überhöhung auf. Welchem Zweck das Rund einst diente, ist klar: Reifen testen. Was hier gegenwärtig - an den 364 Nicht-Marathon-Tagen - geschieht, eher nicht. Kein einziger Bremsstreifen, nicht mal ein dunkler Fleck „adelt“ den Asphalt. Nichts, was als belastbares Indiz für Bremstests herhalten könnte. Dafür überzieht ein unscharfes Geflecht brauner Verfärbungen die augenscheinlich kaum genutzte Straßendecke. Also was passiert hier in unseren Tagen? - Sohlentest nach etwa 1,5 Kilometern abgeschlossen. Ich schnappe mir noch zwei Becher Trinkbares an einer Verpflegungsstelle und kehre dem „Contidrom“ den Rücken. Wenig erhebend die Aussicht, dieses Karussell in zwei Stunden für eine weitere Runde besteigen zu müssen …

Unzweifelhaft wollen die beiden Schwarzgekleideten der (Läufer-) Welt eine Geschichte erzählen. Vielleicht die kürzeste, je niedergeschriebene Geschichte!? Mit nur zwei Wörtern offenbaren sie ihre enge Beziehung. Mehr noch: Wie wichtig es ihnen offensichtlich ist, diesen Lauf gemeinsam zu erleben. „Mutter“ steht in großen Lettern auf dem Trikot der kleinen, älteren Frau. „Söhnchen“ auf dem Rücken des hoch gewachsenen Filius zu ihrer Rechten. Die Positionen der beiden sind fix, damit der Wortwitz auch bei flüchtigem Hinsehen funktioniert. So viele Läuferleben sind angefüllt mit eindrucksvollen Erfolgen oder zigfach wiederholten sportlichen Leistungen. Doch wer kann sich schon damit schmücken einen (Halb-) Marathon Seite an Seite mit Mutter oder Vater gelaufen zu sein? - Für mich eine wunderbare Geschichte, von der das Duo „Mutter-Söhnchen“ berichtet!

Ein paar Minuten später holt mich eigene Marathonhistorie ein. „Das ist doch der Udo“ höre ich von einem der beiden Männer, als sie an mir vorbeitraben. Eine Schnur verbindet Roland mit Anton, denn Anton ist blind. Ich kenne beide. Roland begegnete ich in den nun 15 Jahren, in denen ich Marathon laufe, immer wieder auf bayerischen Laufstrecken. Zunächst begrüße ich Anton und hoffe, der Klang meiner Stimme in Verbindung mit dem ausgesprochenen „Udo“ möge Erinnerungen wecken. Oft sprachen wir noch nicht miteinander und nie lange. Aber man sagt Blinden ja außergewöhnlich entwickelte Hörfähigkeiten nach. - Erst wenn du Strecken wie die 100 km von Wuppertal („WHEW100“) oder die 100 Meilen von Berlin („Mauerweglauf“) selbst erlebt hast, kannst du ermessen, wie gewaltig die Leistung eines blinden Menschen auf derselben Route sein muss. Nicht zuletzt deshalb gehört Anton Luber zu den Läufern, die ich am meisten bewundere!

Es wird immer wärmer, für mich also immer angenehmer. Dass ich die steigenden Temperaturen überhaupt registriere, liegt an der Laufrichtung: Zurück in Richtung Innenstadt und Ziel, also gen Westen. Die bisher kühlende, morgendliche Brise, ein Hauch von Gegenwind, fällt damit weg. Also häufiger den Schweiß von Stirn und Schläfen wischen, damit er nicht in die Augen rinnt. Damit ist auch schon der einzige Wermutstropfen beim Laufen an warmen oder gar heißen Sonnentagen beschrieben. Als barhäuptiger, Brille tragender und stets eine Kamera mitführender Rechtshänder musste ich das Prozedere lästigen Wischens perfektionieren: Kamera in der rechten Handfläche geborgen, zwei Finger derselben lupfen die Brille, linke Handfläche wischt im Halbkreis - rechte Schläfe, Stirn, linke Schläfe -, nasse Hand an Trikot oder Hose abwischen - kommt drauf an welcher Fetzen noch trockener ist -, zugleich mit Rechts die Brille wieder aufsetzen …

In Höhe des „Ostentors“ - wie die Bezeichnung schon sagt, das östliche der Regensburger Stadttore -, nehme ich die Besichtigung der Altstadt wieder auf. Ein bisschen wurmt mich schon, nur wenigen Bauten und Mauern Namen oder Bedeutungen zuordnen zu können. Leider erlaubt die Frequenz, mit der ich Marathons und Ultras abhake, meist nicht mehr als oberflächliche Stippvisiten … Am Ende der „Ostengasse“, kurz vorm Einschwenken zum Donauufer, passieren wir einen „stimmlichen Wasserfall“. Mit dem Mikro in der Hand teilt der Sprecher den Strom vorbei fließender „Thonis“, um all die von ihm begrüßten Petras, Werners, Günthers, Tinas, … auch abklatschen zu können. Er unterbricht die endlose Liste ausgesprochener Vornamen nur für einpeitschende Durchhalte- und Gute-Laune-Parolen, die er seinen Klienten von Zeit zu Zeit angedeihen lässt …

Donauufer die Zweite: Auch in Gegenrichtung ist vom Fluss wenig zu sehen, noch weniger von der reizvollen, alten „Steinernen Brücke“. Einerseits, weil ihr Mittelteil wegen Sanierung eingerüstet ist. Zum anderen spart der Kurs sie aus. Anlässlich meines ersten Regensburg Marathons, dem der Abschied von der Sub3Stunden-Jagd folgte, durfte ich die „Steinere Brücke“, samt wunderschöner Donauinsel noch belaufen.

Malerisches, berühmtes Regensburg wird nun in rascher Folge abgehakt: Zunächst die „Wurstküche“, dann beim Einbiegen in die „Brückstraße“ der Blick zum „Brückenturm“, das Tor zur „Steinernen Brücke“. Nun aufs „Goliathhaus“ zu, ein zinnengekröntes Patrizierhaus, dessen mehrstöckige Fassade ein monumentales Gemälde der biblischen „David-gegen-Goliath-Szene“ schmückt. Davor rechts und durch die Fußgängerzone, über den „Kohlenmarkt“, vorbei am barocken „Alten Rathaus“ und dem „Reichssaal“. Hier warten Erfrischung und Labsal, denen ich, meiner nun erhöhten Schweißrate entsprechend, mit mehreren Bechern zuspreche.

Weiter über den großzügig angelegten „Haidplatz“ mit „Justitiabrunnen“ und schließlich durch die „Ludwigstraße“ auf den „Arnulfplatz“ zu. Dessen malerische Fassaden beenden die dichte Folge baugeschichtlicher Höhepunkte, der Kurs wendet sich wieder der Donau zu. Von der ist hinter Grünstreifen und Hochwasserdamm abermals wenig zu sehen. Wie auch die noch verbleibenden drei Kilometer von Runde eins keinerlei optische Höhepunkte mehr zu bieten haben.

Nach ständigem Schauen und Knipsen horche ich nun wieder aufmerksamer in mich rein. Erfreulich: Kein Zipperlein stört und Ausdauerenergie fließt stetig. Zeitweiliges Schielen Richtung Uhr nährte vorab bereits den Verdacht schneller geworden zu sein. Nicht durch vermehrte Anstrengung. Meine Schritte fühlen sich seit einiger Zeit zunehmend runder an. So, als hätte sich der Prozess des Einlaufens diesmal über einen Viertelmarathon und länger erstreckt.

Massenweise überhole ich inzwischen „havarierte“ Halbmarathonis. In Gesichtern und Haltung der Geher oder mit letzter Kraft Tippelnden steht geschrieben, wie weit 21 Kilometer tatsächlich sind, so man sie zu Fuß und laufend überstehen möchte. Den einen oder anderen, völlig derangiert wirkenden Kämpen mag wohl auch die belastende Witterung zur Strecke gebracht haben. Die immer wieder zu hörenden Signalhörner von Sanitätern und Notarzt sprechen in dieser Hinsicht eine eindeutige Sprache. Umso mehr Dankbarkeit empfinde ich, unter Sonne und Wärme nicht zu leiden. Nicht nur nicht zu leiden, sondern sogar von solchen Verhältnissen motiviert zu werden!

Gleich wird die Runde enden, Halbmarathonis werden rechts abbiegen, wir „Vollmatrosen“ geradeaus weiterlaufen. Zwar war ich halbwegs darauf vorbereitet Ines im Startbereich an der Strecke zu treffen, hätte sie dennoch verfehlt, hörte ich da nicht plötzlich am Streckenrand dieses „Juchhu!“ Stimmlich in einer Weise, wie nur meine Frau „Juchhu!“ rufen kann. Mein Kopf fliegt herum, wir grüßen uns flüchtig, dann nehme ich ihr Lächeln und eine Riesenportion Zuversicht mit auf die zweite Runde …

Ines wird um 11:30 Uhr zu ihrem Viertelmarathon aufbrechen. Auf der Strecke des Halbmarathons übrigens, die allerdings für die 10,5 km-Strecke hinterm „Ostentor“ abkürzt. Ines läuferische Ambitionen halten sich derzeit in Grenzen. Sie joggt mehrmals pro Woche, trainiert dabei nicht zielgerichtet, will lediglich ihre Ausdauerform erhalten und etwas für die Gesundheit tun. Wie üblich wird sie die Stimmung im Strom der Läufer und am Streckenrand genießen, sich die Schönheiten der Stadt ansehen und zufrieden das Ziel erreichen. So jedenfalls stelle ich mir in diesen Sekunden Ines’ Auftritt beim Viertelmarathon vor.

Meine Runde zwei beginnt mit dem Überlaufen der Halbmarathon-Zeitmessung, die mir gleich ein Rätsel aufgibt: Wo werden die fehlenden Meter der ausgesparten Zielgeraden nachgeholt? - Liegt es an der Begegnung mit Ines, am frischen, nun wieder das Gesicht kühlenden Lüftchen oder sind andere psychophysische, sich mir nicht erschließende Gründe maßgebend? - Wie dem auch sei, ich fühle mich nun kräftiger, leistungsfähiger als zu Beginn von Runde eins. Allein diese gedankliche Feststellung lässt mich ein wenig schneller werden. Ich spüre es und lasse es zu. Was soll schon passieren? Im schlimmsten Fall breche ich irgendwann ein und „leide“ die Runde zu Ende. Das ist die übelste von mehreren Alternativen, aber keine, die mich schrecken könnte.

Zum zweiten Mal durchs Jakobstor, zum zweiten Mal über den Bismarckplatz, als Glied einer sehr losen Kette verbliebener Dreiviertel- und Voll-Marathonis. Etwa vier Fünftel der LäuferInnen fehlen nun, ein Umstand der meine Fotorate pro Kilometer drastisch senkt. Nur selten erhascht ein Blick noch läuferbelebte Ansichten, die zu speichern sich lohnen würde. Durch die Altstadt, am Dom vorbei und dann ostwärts, den jüngeren Stadtteilen zu. Auf diesen Kilometern berausche ich mich ein klein wenig an mir selbst. Natürlich kann ich heute keine Bäume ausreißen. Dazu ist meine Form in diesem Jahr grundsätzlich zu schlecht. Und die Regeneration nach dem „Über-Drüber“ wäre erst in ein paar Tagen abgeschlossen. Trotzdem bin ich jetzt deutlich schneller unterwegs und fühle mich gut dabei. Mal sehen, wie lange der Rausch anhält …

Rätsel in erwarteter Weise gelöst: Wende 2 erfolgt ein ganzes Stück später, als vorhin Wende 1, damit sind die „verlorenen“ Meter nachgeholt. - „Contidrom“ die Zweite. Öde, abstoßend, langweilig - muss man einfach hinter sich bringen. Zurück auf der Straße, Kilometer 32, dann 33. In den Außenbezirken wirkt die Stadt abschnittsweise leblos; ein bisschen wie evakuiert, als wären wir Läufer die letzten verbliebenen Einwohner und auf der Flucht vor nahendem Unheil. Umso mehr beschäftige ich mich mit mir selbst. Ohne kühlende Gegenbrise und mit sengender Sonne von oben würde ich nun nicht mehr widersprechen, wenn jemand das Wort „Hitze“ gebrauchte. Was nicht heißt, dass es mich stört. Im Gegenteil. Ich bin verrückt nach Wärme, vor allem nachdem sie mich in diesem Frühjahr so schmählich im Stich ließ.

Meine persönliche Marathongeschichte, so weit sie sich mit Regensburg verbindet, geht mir immer wieder durch den Kopf: Mein elfter Marathon führte mich 2006 zum ersten Mal in diese Stadt. Damals platzte zum wiederholten Mal der Traum vom Marathon unter drei Stunden. Zwei Wochen vorher, in Prag, war ich mit 3:01:50 h am nächsten dran. Nur leider war’s für persönliche Spitzenleistungen ein paar Grad zu warm. In Regensburg versuchte ich mich erneut an der Marke. Ob es unter besseren Bedingungen möglich gewesen wäre, wird auf ewig ungeklärt bleiben. Ein Halbmarathon weit Rücken- und anschließend genauso lange Gegenwind* ließen mir jedoch von vorneherein keine Chance. Nach langer Vorbereitung in jenem Frühjahr und zwei vergeblichen Anläufen war ich ziemlich enttäuscht. Es war keine endgültige Abkehr vom Sub3h-Traum beabsichtigt, als ich mich aus Frust längerer Strecken besann, noch im Herbst den ersten 6h-Lauf absolvierte und im Folgejahr die 100 km in Biel. Dass ich nie wieder versuchte meine persönliche Bestzeit zu toppen, ergab sich umständehalber: Spaß an Ultras, fortschreitendes Alter, Umbau der Physis, wenn man viel Strecke zu Lasten schnellerer Läufe macht und irgendwann auch Widerwillen gegen harte Tempotrainings.

*) 2006 wurde der Regensburg Marathon noch auf einer Runde absolviert, die im Wesentlichen vom heutigen Start-/Zielbereich durch die Altstadt, danach in östlicher Richtung über Land führte. Nach dem Halbmarathon ging’s in umgekehrter Richtung zurück.

Zurück in der Altstadt, ich besichtige sie nun zum letzten Mal. Um mich her unterdessen wieder eine wachsende Zahl von Läufern und Läuferinnen. Solche, die um einiges langsamer als ich unterwegs sind. Es dauert ein paar Minuten bis mir bewusst wird, dass ich dabei bin das Feld des Viertelmarathons von hinten aufzurollen. Hin und wieder muss ich mich sogar in Schlangenlinien an schwatzenden wie schwitzenden „Viertel-Thonis“ vorbei mogeln. Im Grundsatz lästig, augenblicklich aber willkommen, denn von jedem Überholten springt ein kleiner Funke Motivation auf mich über. Dringend erforderlich, denn mittlerweile kämpfe ich hart, um mein Tempo auf dem finalen Abschnitt halten zu können.

Rasch „arbeite“ ich die Sehenswürdigkeiten zum zweiten Mal ab, schenke ihnen unter Strömen von Schweiß und bei höherer Atemfrequenz allerdings kaum mehr Aufmerksamkeit. Fußgängerzone und wieder raus, runter zur Donau, die letzten drei Kilometer. Harte Kilometer, die mir aber eher positive Empfindungen vermitteln. Dazu trägt auch die zu erwartende Zielzeit bei. Mit 4:15 h oder gar etwas länger hatte ich gerechnet und wäre ich auch zufrieden gewesen. Nun werde ich deutlich unter 4:10 h finishen. Meine Bäume wachsen dieses Jahr zwar nicht in den Himmel, aber immerhin wachsen sie!

Das „Tatü-Tata“ der Martinshörner reißt nicht ab. Ich kann nur ahnen, wie es sich anfühlt, wenn einen Hitze ernsthaft lähmt oder gar niederstreckt. Mir hilft sie. Tausendmal lieber laufe ich bei schwülen 30°C als irgendwo in der Nähe des Gefrierpunktes. Gleich werde ich rechts in Richtung Ziel abbiegen. Das Spalier der Zuschauer steht hier dichter, Beifall und anfeuernde Zurufe werden lauter. Ich schaue noch einmal zur Uhr und kalkuliere kurz die Reststrecke: Es bleibt dabei, ich werde sogar unter 2:09 h meinen Fuß über die Ziellinie setzen. Jetzt nach rechts und mit dem Ziel vor Augen werde ich sogar noch etwas schneller …

Ergebnis: 4:08:36 h (1. HM: 2:05:57 h, 2. HM: 2:02:39 h)

 

Ines’ Viertelmarathon

Für Ines lief es ausgesprochen gut, obwohl sie derzeit kein zielgerichtetes Training praktiziert. Drei- bis viermal pro Woche läuft sie rein zu Genuss- und Gesundheitszwecken, erhält sich damit ihre Form. Ambitionen sich für irgendwelche Laufziele zu schinden, weist sie derzeit weit von sich. Was meine Frau jedoch an diesem wunderschönen Maisonntag nicht daran hindert ziemlich flott durch Regensburg zu wetzen. Stimmung und Strecke liegen ihr offensichtlich und die Tagesform scheint auch zu stimmen. Nur so erklärt sich die vergleichsweise tolle Zeit für 10,5 km von 1:00:23 h. Damit wurde sie in ihrer Altersklasse sechste von immerhin 39 Starterinnen. Im gesamten Feld belegte sie Platz 79 von 444 Damen.

Ein paar Minuten vor mir kommt sie im Zielbereich an, wo wir uns dann treffen, zufrieden umarmen und glücklich ablichten lassen.

 

Fazit zur Veranstaltung

Organisation und Durchführung des professionell gemanagten Stadtmarathons waren nach meiner Beobachtung frei von Fehlern. Ver- und Umsorgung der Läufer hinterließ bei mir einen guten Eindruck.

Die aktuelle Strecke verläuft auf einer von zig tausend alternativen Routen, ganz sicher jedoch nicht auf der reizvollsten - um es vorsichtig zu formulieren. Vermutlich ist die Streckenführung großen finanziellen Einschränkungen unterworfen, als Kompromiss deshalb akzeptabel. Dennoch bleibt der Veranstalter aufgerufen über Streckenänderungen nachzudenken. Zum Beispiel sollten Donauinsel und „Steinerne Brücke“ auf jeden Fall in den Kurs aufgenommen werden.

 


Bildnachweis:

Fotos, auf denen Udo abgebildet ist (außer Foto mit Ines): Anton Lautner

Alle anderen Fotos: Udo & Ines Pitsch

 

Wir über uns Gästebuch Trekkingseiten Ines' Seite Haftung
logo-links logo-rechts

zum Seitenanfang