Montag, 1. Mai 2017

Hundstage im Frühling  -  Teil zwei:  Bärenfelslauf 2017

oder: Läufer in roter Jacke

Ultraläufer, die sich vom Aufwand einer Reise nicht abschrecken lassen, entdecken nach und nach unbekannte Flecken in Deutschland. Mit den Jahren erschloss ich mir laufend traumhaft schöne Landschaften, von deren Vorhandensein ich vorher nicht einmal gehört hatte. Heute fiele es dir schwer, uns - meine Hündin Roxi und mich - zu finden. Wir bewegen uns beidseits einer innerdeutschen, also unsichtbaren Grenze. Auf recht begrenztem Areal zwar, dafür aber meist versteckt im Wald. Auf mehr als neun Zehntel der Strecke berühren unsere Füße saarländischen Boden, den Rest verbringen wir in Rheinland-Pfalz.

Kaum jemand dürfte diesen Landstrich kennen, darum gebe ich dir Anhaltspunkte: Die rheinland-pfälzischen Städtchen Birkenfeld und Idar-Oberstein liegen nur ein paar Kilometer nördlich von hier, das saarländische St. Wendel ungefähr 12 km südlich und mit ihrem Nordrand touchiert die Strecke die Autobahn A62. Vom „Bärenpfad“, einem kurzen Rundwanderweg von etwa 11 km Länge, entlehnt der „Bärenfelslauf“ seinen Namen. Um die mir zugefügte, kleine Enttäuschung gleich vorwegzunehmen: Nach besagtem „Bärenfelsen“ halte ich vergeblich Ausschau. Zwar gibt es den „Bärenfelsen“ laut Wanderwegbeschreibung auf dem „Bärenpfad“, aber eben nicht auf dem vom Wettkampf genutzten Teil.

Damit stehe ich vor der schwierigen Aufgabe meinem Leser die Strecke zu beschreiben. Eine Runde umfasst 12,3 Kilometer. Etwa 50 LäuferInnen begnügen sich mit dieser Distanz. Weitere 35 wollen gleich mir ultraweit laufen, reihen hierzu vier Runden hintereinander. Das Ziel befindet sich direkt neben der Autobahn, genauer gesagt vor einer Unterführung. Hier beginnt ein schmaler Trampelpfad, zunächst parallel zur Schnellstraße verlaufend, auf dem Überholmanöver ausgeschlossen sind. Deshalb wurde der Start um 200 Meter Radweg zurückverlegt. Der kurze (asphaltierte) Aufgalopp dient dem „Sortieren“: Schnelle Läufer kämpfen um die Spitze, „Genussläufer“ reihen sich hinten ein. Genau diese Vokabel - „Genussläufer“ - bemüht der Veranstalter bei seiner mit Witz, unter mehrfach beifälligem Lachen des startbereiten Feldes vorgetragenen Einweisung. Salvenweise zischen Humorraketen in den Morgenhimmel des kalten, regenschwangeren 1. Mai - möglicherweise entgeht mir im Spaßfeuerwerk die gar nicht mal so feine Ironie der Wortwahl - „Genussläufer“!

Abgelenkt von Roxis „Unbeherrschtheiten“ lausche ich zudem nur leidlich aufmerksam dem Vortrag. Wir warten etwa 20 Meter hinterm Feld auf das Startkommando. Muss ja nicht jeder mitbekommen, dass ich meinen Hund gelegentlich warnend anknurre. Völlig stressfrei geht es nicht ab, allerdings hält sich Roxis übliches Vorstart-Ausrasten auf diese Weise in Grenzen. - „Alles klar? Dann los!“ - nach solcherart diffusem Startkommando beginnt unser Bärenpfad-Abenteuer (ein paar Minuten nach 10 Uhr). Augenblicklich vollzieht sich die gewohnte Selbststrangulation meines Vierbeiners im Halsband. Wir röcheln und keuchen am Ziel vorbei, bilden das Schlusslicht einer dicht an dicht tippelnden Läuferschlange. Mein Bangen bezüglich der Wirkungskette „Nasses Gras - nasse Schuhe - nasse Füße - ergibt: Blasen!“ erweist sich als unbegründet. 2 x 85 Sohlen walzen vor uns pfadbreit jegliche Flora nieder.

Wie wird sich das Wetter entwickeln? Als ich aufstand begann es zu nieseln, später tröpfelte es eine Stunde ergiebiger. Vorm Start hörte die Beregnung auf. Angesichts eines wahren Wolkenkonklomerats, dessen zerrissene Unterseite gelegentlich knapp über und durch die bewaldeten Kuppen streicht, rechne ich allerdings mit weiteren Niederschlägen. Was bleibt mir also anderes übrig, als einmal mehr dümmlich unter verhasster Schildkappe hervor auf meine Füße zu blicken. Gegenwärtig auf die Füße, um Roxi im mehrfach stockenden Gänsemarsch nicht auf die Pfoten zu latschen. Hundert Meter bis zum ersten Buckel. Die vielen Menschenleiber vor mir kaschieren die grausame Wahrheit: 30 Meter Eigernordwand, für die das Prädikat „steil“ eine lächerliche Untertreibung darstellt. Natürlich gehen alle da rauf. Alle, bis auf einen. Meine Taktik: Warten bis die Schlange zwei, drei Meter freigibt, hinterher steppen, stehen bleiben und wieder warten … „Oben“ angekommen blicke ich zurück und schaudere: ‚Diese Unmöglichkeit von einem Hang weitere dreimal?’ Links neben mir, hinterm Wildschutzzaun und am unteren Ende der Böschung, donnern Autos auf der A62 vorbei. Vor mir erhebt sich die nächste Heimsuchung: Zum Glück nicht mehr ganz so steil und ich nehme sie mit derselben Taktik wie zuvor.

Parallel zum Wildschutzzaun auf knubbeligem Pfad, jedoch erholsam eben, voran. Eine stressfreie Minute und dann … Um es zu glauben muss man es mit eigenen Augen sehen, um es zu beweisen im Bild festhalten: Fünfzehn Meter Böschung gilt es in beinahe Falllinie zu überwinden. Laufen unmöglich, Gehen gleichfalls. Wie alle anderen bezwinge ich das Hindernis in einer Mischung aus Kriechen und Klettern. Und wie einige meiner Vorderleute begreife ich auf weichem, rutschigem Untergrund die Bedeutung des Wortes „Falllinie“. In diesen Momenten hasse ich mit Inbrunst, was ich tue. Frage mich zudem entgeistert: „Was soll der Blödsinn?“ Oder: „Was hat dieser Krampf noch mit Laufen zu tun?“

Nach meiner festen Überzeugung absolut nichts. Ebenso wenig wie die alsbald folgende, höchst überflüssige Mutprobe. Stell dir einen Pfad mit extremem Gefälle vor. Streue auf deine Imagination loses Geröll unterschiedlicher Körnung, das selbst tastend, also vorsichtig Fuß unter Fuß platzierend, nachgibt, dir keinen sicheren Stand erlaubt, dich in jeder Sekunde den nahen Sturz befürchten lässt. Dreißig Meter höchstens, zum allseitigen Glück, dann geht es einigermaßen kontrolliert in Serpentinen runter und die aufgestellten Nackenhaare legen sich wieder.

Unmissverständlich: Dergleichen halte ich für groben Unfug, vorsätzlich und ohne Notwendigkeit einer an sich schon nicht einfachen Strecke aufgepfropft. Warum? - Darüber zu spekulieren erspare ich dir. Wie grob der Unfug tatsächlich ist, wirst du weiter unten erfahren, anlässlich massiver Erschütterungen meines bislang so festen Glaubens an das Gute in der Läuferwelt …

Der Veranstalter steht am Streckenrand und kommentiert unseren Vorbeitrab mit den Worten: „Na, hat der Hund seinen Zweck erfüllt und dich hochgezogen?“ - Keine Ahnung hat der. Roxis Ungestüm legte sich bereits vor der Eigernordwand. Stehende Läufer gelten ihr nun mal nicht als Zeichen, dass die Jagd tatsächlich begonnen hat. Zum Glück gebärdete sie sich auf- und vor allem im sturzgefährdeten Hang abwärts äußerst gesittet, ließ sich mit einschlägigen Kommandos willig lenken.

Veranstalter am Streckenrand? - Weit können wir uns folglich nicht vom Startbereich entfernt haben, auch wenn ich auf dieser ersten Runde die Streckenführung noch nicht durchschaue. Hund führen, eigene Füße sicher setzen, durch Bäume und Dickicht sichtbehindert - Orientierung einstweilen unmöglich. Das gilt auch für den ersten Teil des Bärenpfades, auf dem wir uns nun zweifelsfrei bewegen. Die Beschilderung und der abrupte Übergang zu einer mit optischen Reizen nicht geizenden Naturkulisse legen es nahe. Lichter Wald ringsumher, sich selbst überlassen. Ein dreidimensionaler Trail, in stetem Auf und Ab der hügeligen, gelegentlich von Rinnsalen durchzogenen Landschaft und mit tausend Windungen kaum Raum gewinnend. Ein Weg der schöne Natur präsentieren will, sich nicht durch reines Vorwärtskommen entehrt. Ein schmaler, wunderschöner Pfad, meist gut zu belaufen, der anfänglichen Frust binnen Minuten ins Gegenteil verkehrt.

Laubgehölze hier, Lichtungen da, ein paar Meter dunkler Tann. Mal über Wurzeln, dann wieder eben und fest, auf Holzplanken diverse Gräben überwinden. Optisch und lauftechnisch kurzweilig, aber natürlich nur unscharf in Worte zu fassen. - Roxi tippelt noch immer an der Leine neben mir her. Auf dem engen Pfad und mit noch einigen LäuferInnen im Blickfeld wagte ich nicht sie abzuleinen. Inzwischen, nach fast einer halben Stunde, erkunden wir den „Bärenpfad“ so gut wie alleine: „Roxi lauf!“

Es macht Spaß hier zu joggen, auch wenn es mich anstrengt. Immer wieder kurze Aufschwünge, durchaus auch mal steil, aber eben nur für ein paar Meter. Nie entmutigend lange und nie den Wunsch zu gehen weckend. Instinktiv - vielleicht auch gewarnt vom unbotmäßigen Auftakt - weiß ich, dass es so nicht bleiben wird. Von hinten nähert sich ein „Konkurrenzgespann“, Mann mit Hund, über Geschirr und Laufleine miteinander verbunden. Eine ziemliche Weile halten wir dem „Angriff“ Stand, dann warte ich mit Roxi am Fuß und lasse die beiden ziehen.

Bisher ein überwiegend unschwierig zu belaufender Trail, maßvoll anstrengend. Und nun, nachdem wir den Waldrand kurzzeitig hinter uns lassen, auch noch eben, alsbald in einen breiten Fahrweg mündend. Der zieht sich hin, bietet den vom Auftakt und gehäuften „Buckelattacken“ angegriffenen Beinen Gelegenheit sich zu erholen. Über einen Kilometer weit und unterm Strich bergab.

Kurz nachdem mein GPS den fünften Kilometer meldet, schlagen wir uns seitlich - nein, nicht in die Büsche - auf einen wenig genutzten, mit welkem Laub bedeckten Weg. Ein paar Schritte später stehen wir vorm nächsten Wegweiser. Der schickt uns nach links und ohne Verzug bergauf. Was hier beginnt, wird mich im weiteren Verlauf des Wettkampfs zur Strecke bringen. Davon bin ich auf nur einem Drittel der Höhe überzeugt, als hinter einer Sichtkante der nächste, noch steilere Aufschwung auftaucht. Nachdem ich auch den heftig schnaufend bezwungen habe, schließt sich, zuvor von einer Kurve der Sicht entzogen, ein weiterer an. Insgesamt ein halber Kilometer ohne Unterbrechung fordernd steil bergan. ‚Irgendwie werd ich’s schon schaffen!’ denke ich halb optimistisch, halb schicksalsergeben, angesichts der Aussicht diesen „Mörderhang“ weitere dreimal besiegen zu müssen.

Auf wachsweichen Beinen und zögerlich biege ich auf einen Forstweg ab. Die Beschilderung an dieser Stelle irritiert auf den ersten Blick. Mit dem zweiten wird klar, dass wir später aus der Gegenrichtung kommend, auf den gerade bewältigten Hang einschwenken und talwärts laufen werden. Freut euch Oberschenkel! Für exzentrische Muskelarbeit und eventuell einen netten späteren Muskelkater ist gesorgt. - Der Forstweg steigt weiter an, ungleichmäßig, doch nie mehr als moderat. Ein Kilometer Waldweg, irgendwann der Übergang zu leichtem Gefälle, dann schon zwei Kilometer und spätestens jetzt ist jedem klar, der sich um Orientierung müht, dass dieser Abschnitt nicht zum „Bärenpfad“ gehört. Ein kurzer, steiler Aufschwung noch, dann stehen wir vorm angekündigten Verpflegungsstand. Mein GPS, dem ich erstaunlicherweise trauen darf, wie sich alsbald herausstellen wird, meldet 7,8 km.

Freudig und zuvorkommend bedient uns die Dame hinterm „Gabentisch“, unterstützt von ihrer kleinen Tochter. Ich leere zwei Becher Cola und schenke Roxi einen halben Keks. Mit „Danke!“ und „Bis nachher!“ kehren wir auf den „Bärenpfad“ zurück, eine Plakette lässt darüber keinen Zweifel aufkommen. Er führt alsbald durch eine sumpfige Kuhle, die wir über einen hölzernen Steg trockenen Fußes überwinden. Ein bezaubernder Ort, vor allem jetzt im Frühjahr, da kräftiges Gelb blühender Sumpfdotterblumen die Augen einfängt. Steg Ende und übergangslos: Achtung Wurzeln! Massenweise Fußangeln auf den nächsten Metern, bevor wir uns über in Holz gefasste Erdstufen drei Meter höher hieven. Ein feuchtkaltes, ziemlich düsteres Fichtenwäldchen schließt sich an, in Schlangenlinien zu durchqueren.

Zwischen Saum des Fichtenwäldchens und Feld aufwärts. Auf dem nächsten halben Kilometer steht Fernsicht auf dem Programm. Mangels Sonne vermag ich leider die Himmelsrichtung nicht zu bestimmen. Erst nach heimischem Studium des GPS-Tracks steht fest: Ich blicke nach Süden über die saarländische Hügellandschaft. Im Zickzack zwischen teils unbestellten (?) Feldern hinan, schließlich zurück in den Wald. Eine Tafel erläutert dem Wanderer die der Natur an diesem Hang geschlagene Narbe, spricht von einer „Rhyolitgrube“. Dem Läufer bleibt keine Muße zu lesen, wozu das Mineral „Rhyolit“* einst an dieser Stelle abgebaut wurde. Der Pfad schlängelt sich am Hang empor, daran entlang und kurze Zeit später wieder abwärts, bis zum Waldrand und auf einen Feldweg. Vermutlich genau jener, den ich vor fünf Minuten wald- und bergwärts verließ (Welche Relevanz diese letzte Bemerkung hat? Abwarten, Erklärung folgt …).

*) Das an dieser Stelle abgebaute Gestein „Rhyolit“ wurde vormals der Keramikindustrie zugeführt. Wegen minderer Qualität des Materials stellte man den Abbau jedoch ein. Die zwischenzeitliche Weiternutzung der Grube bis in die 1970iger Jahre zur Gewinnung von Schüttgut diente dem Feldwegebau.

Im Wald, auf einer Art Hohlweg, für ein paar Minuten sanft bergan. Dann scharf rechts vor ein mit Steinen und Wurzeln durchsetztes Steilstück. Ich warte ein paar Sekunden, um einer Läuferin den Vortritt zu lassen. Kein selbstloser Akt, immerhin belebt sie die Fotoszene, verdeutlicht so, wie steil der Abschnitt tatsächlich ist. Dahinter kurzweilig in lichtem Hain, alsbald links auf einen mit groben Steinen übersäten, selten genutzten Waldweg. Weiter aufwärts … Was sonst? Inzwischen spüre ich bereits einen gewissen Grad der Ermüdung. Gestern erschreckte mich ein Läufer mit etwa 300 bis 400 Höhenmeter, die pro Runde zu bewältigen seien. Ich hoffte, er würde übertreiben. Seit über einer Stunde bröckelt meine Hoffnung, inzwischen ist sie tot.

Bergan, immer weiter bergan, minimal die Steigung, aber bergan. Dann kreuzt der „Bärenpfad“ eine Forststraße, setzt sich gegenüber fort. Uns schicken die gelben Schilder des „Bärenfelslaufes“ nach rechts und weitere 50 Meter hinan. Die letzten Meter „raufwärts“ übrigens, was ich zu diesem Zeitpunkt, bei Streckenkilometer 10,5, natürlich nicht wissen kann. Erholung auf ebenem Wirtschaftsweg, zuletzt nach rechts, einer abschüssigen Kurve folgend, schließlich erreiche ich den Punkt vormaliger Verwirrung. Nun kommen wir aus vorhergesagter Richtung und rauschen talwärts den „Mörderhang“ hinab.

Unten angekommen zieht es vernehmlich in den Oberschenkeln. Aber sie müssen durchhalten, denn nach der Schussfahrt auf bekanntem Weg, geht es weiter steil hinab. Unter anderem über eine durch hohe Erdstufen begehbar gemachte Mehrfachkombination von Hügelchen, die unwillkürlich Vorstellungen von Dreifachsprüngen samt Oxer im Springparcours aufkommen lassen. Mit Mühe über die Buckel, dann über einen von dünnen Buchenstämmen gesäumten Wall talwärts, bis vor eine Brückenkonstruktion, wie ich sie so in meiner Erinnerung nirgendwo finde. In der Mitte ein Geländer, rechts und links davon je eine Bohle zum Begehen. Wie dem auch sei: Balancierend und matschfreien Fußes erreiche ich die andere Seite.

Der Waldrand bleibt zurück. Querbeet und am Rand eines Wassergrabens eiere ich über eine Wiese. Roxi lässt sich die verlockende Pfoten-Schlammpackung im Wassergraben nicht entgehen, kostet überdies mit schlabbernder Zunge von der nassen Labsal. Sekunden später schließt sich der Kreis, denn nun passieren wir die Stelle, an der wir auf die Reise geschickt wurden. Noch 200 Meter Asphalt und erstmals ins Ziel.

Neben dem Verpflegungsstand, unterm Dach eines Partyzelts, verwahre ich meine Habseligkeiten in regendichter Kunststofftüte. Unter anderem drei Gels, nach jeder Runde eines. Für Roxi liegen mehrere Kaustangen bereit, die ich jedoch zunächst nicht brauche: Der Veranstalter belohnt Roxi mit Leckerlis. - Soll ich die dämliche Schildkappe hier lassen? Nach mehrmaligem, unergiebigem Nieseln zu Beginn der Runde fiel seit Längerem kein Tropfen mehr aus dem grauen Leinentuch über unseren Köpfen. Lieber nicht! Der Trail verlangt an manchen Stellen absolut klare Brillensicht, die mir schon ein kurzer Schauer nehmen würde …

Mit den ersten Schritten der zweiten Runde nehme ich die Zeit und erschrecke ein bisschen: 1:40 h! Dass ich diesen Trail nicht unter sechs Stunden würde abschließen können, war klar. Nun sieht es ganz danach aus, als sollte ich mehr als sieben brauchen. 4 x 1:40 h ergibt schon mal 6:40 h und ich bin sicher, auf jeder weiteren Runde langsamer zu werden …

Über Gras und unterdessen von Läuferfüßen blank getretene, glitschige Erde weiter. Bloß nicht abrutschen auf stark hängendem Pfad, sonst lande ich daneben im eisigen Wasser eines Bachs. Am Fuß der Eigernordwand verharre ich kurz für ein Foto, auf mittlerer Höhe ein zweites Mal. Dabei fällt mein Blick zehn Meter nach rechts, exakt zu jener Stelle, wo ich - wenn ich es überlebe - in ein paar Minuten wieder runterkommen werde. Erst brachial bis unlaufbar aufwärts, dann gefährlich driftend wieder runter und gerade mal zehn Meter Geländegewinn. Ein Streckenabschnitt von etwa 600 Metern, lediglich als „Running Gag“ addiert, um exaltierten Wühlern im Läuferfeld ein paar Höchstschwierigkeiten zu servieren. Und dann ist sie einfach so im Kopf präsent, die Erkenntnis. Auf keinem von mehreren tausend Wettkampfkilometern vorher wurde mein Kopf von ähnlich widerlichen Gedanken belästigt. Wie einfach es doch wäre hier zehn Meter abzukürzen und sich den groben Unfug zu ersparen!

Schon der Gedanke macht mir ein schlechtes Gewissen, handeln könnte ich nie danach. Dann schon eher aufgeben. Das ist zwar auch unmöglich, aber betrügen ist um Potenzen unmöglicher. Stück für Stück wuchte ich mich rauf, stehe Minuten später mit bleischweren Beinen vor der Rutschbahn. Halb driftend, halb gehend, stets kurz vorm Verlust von Kontrolle und Gleichgewicht, taste ich mich runter … Überlebt, zum zweiten Mal!

Neuerlich verfliegt der Ärger auf der Berg- und Talfahrt des naturbelassenen „Bärenpfades“. Roxi und ich verbringen Runde zwei weitgehend alleine. Vorne hat man sich abgesetzt, von hinten wird mir niemand folgen können und für Überrundungen ist es zu früh. „Menschliches Leben“ begegnet mir erst wieder auf dem ersten Drittel des „Mörderhangs“, als meine Pumpsysteme bereits stampfen, wie die Aggregate im Maschinenraum eines alten Raddampfers. Eine flotte, sehr junge Amazone schießt mir, einer Kanonenkugel nicht unähnlich, abwärts entgegen. Nur ansatzweise berühren ihre Füßchen die Erde. Leichtfüßiger Nachweis, dass sich menschliche Gene von jenen einer Gazelle nur marginal unterscheiden. Als mich das junge Fräulein auch noch huldvoll anlächelt attackiert mich ein Gedanke spontan und hemmungslos: ‚Warum tue ich mir sowas in meinem Alter eigentlich noch an?’

Nach zwei kurzen Zwischenstopps, um von Schnappatmung wieder in Normalatemmodus zurückzuschalten und auf extrem müden Beinen lasse ich den Steilanstieg hinter mir. Die Harzquerung lässt grüßen. Sollte ich daran gezweifelt haben, so steht nun fest: Ein Tag Erholung reicht nicht, um 50 Kilometer Harzberge wegzustecken. Es liegt keine Resignation in der Frage. Ich stelle sie mir schlicht, um eine Lösung zu finden: Wie soll ich diesen Hang und all die anderen Anstiege ein drittes und viertes Mal bezwingen?

Irgendwie geht es, irgendwie komme ich vorwärts. Auf die Zeit achte ich nicht, wozu auch. Ich trachte danach zu keinem Zeitpunkt die unsichtbare Linie verträglicher Anstrengung zu überschreiten. Sollte mir das passieren, müsste ich den überwiegenden Rest aller Anstiege auf dem Zahnfleisch gehend bewältigen. Ansonsten erfreue ich mich an Erfreulichem, das zu finden ich mich nicht mal anstrengen muss. Es begegnet mir im Detail wie in grünen Panoramen, manchmal nah, dann wieder etwas weiter entfernt …

… und schließlich gibt es da noch Roxi! Immer wieder Roxi! Sie hat Spaß an diesem Trail und versteht diese Erlebensfreude auf mich zu übertragen. Nun kann ich es gestehen: Ich hatte Bedenken Roxi mit zwei 50 km-Läufen in drei Tagen zu viel zuzumuten. Fast 10 Erdenjahre sind nicht wenig für einen Hund. Gestern suchte ich den ganzen Tag über nach Anzeichen von Müdigkeit und Überforderung, fand jedoch keine. Und jetzt, da sie gerade mal wieder einen Hügel hochzischt, unbedingt wissen will, was es da oben zu entdecken gibt, zerstreut sie jede Sorge. Was für ein wunderbarer Hund!

Runde zwei neigt sich dem Ende entgegen. Roxi trailt munter vor mir her über die Wiese, vorbei am Wassergraben, ich eiere müde hinter ihr her. Längst habe ich wieder den Punkt erreicht, an dem mich - in Gedanken an das, was noch vor mir liegt - unweigerlich Panik überwältigen müsste. Einzig die Tatsache eben diesen Zustand schon häufiger überstanden zu haben sagt mir, dass es irgendwie Schritt für Schritt bis zum (bitteren?) Ende weitergehen wird. Also stumpf weiterstelzen, leiden und nicht lamentieren.

Labsal am Ende von Runde zwei: Gel, Wasser und Cola. Für Roxi eine Kaustange. Kurz bevor ich aufbreche, erreicht ein Läufer in roter Jacke das Ziel. Ich hatte ihn vorzeiten überholt, weil er bergauf immer wieder zum Krafttanken stehen blieb. Seinen unglücklichen Gesichtsausdruck empfinde ich als eine Art Blick in den Spiegel …

Nachdem es bisher trocken blieb, verordne ich mir Marscherleichterung und stopfe die doofe Kappe in die Tüte. Fotos habe ich auch genug geschossen, also bleibt auch die Kamera zurück. Blick zur Uhr und weiter. Erstaunlicherweise brauchte ich für Runde zwei nur etwa zwei Minuten länger. Hochrechnungen untersage ich mir. Was für einen Sinn hätten die, angesichts fortschreitender Ermüdung?

Runde 3: Quälen ist angesagt. Quälen in der Eigernordwand, Abschnitt eins, zwei und drei. Dann ist Zittern angesagt. Zittern am Schüttguthang in der Absicht mir nicht den Hals zu brechen. Zum dritten Mal überlebt, vielleicht gelingt es mir auch ein viertes Mal!? Kaum trailen wir wieder auf dem „Bärenpfad“ kehrt die Freude zurück. Okay, die Freude am Laufen nun nicht mehr, zumindest aber die am Grün der Natur. - Kennst du das Gefühl, wenn positive Gefühle urplötzlich von Erstaunen, sodann von Ärger verdrängt werden? Genau das geschieht mir in dem Moment, da ich den Läufer in roter Jacke wiedersehe und erkenne. Ja, genau der! Vorhin blieb er an der Verpflegungsstelle zurück und nun joggt er ein gutes Stück voraus. Bleibt manchmal stehen, verschnauft, rennt aber weiter, wenn ich ihm auf die Pelle rücke. Die in diesem Universum gültigen Gesetze der Physik lassen für die Position des Läufers in roter Jacke genau eine Erklärung zu: Der hat abgekürzt! Wo ihm das auf einfachste, superkraftsparende Weise möglich war, ist klar. Er ersparte sich den anfänglichen Schnörkel, Eigernordwand und die anschließende Rutschbahn.

Ich komme dem mutmaßlichen Betrüger immer näher. Soll ich ihn ansprechen? Mir liegt sogar ein Satz auf der Zunge: „Ultras betrügen im Grunde nur sich selbst!“ Damit meine ich nicht einmal ausbleibende Freude und Befriedigung nach erschwindeltem Finish. Nicht einmal den Stolz zu missen, der sich für gewöhnlich nach ertragenen Härten einstellt. Im Innersten geht es um Selbstachtung, sich morgens im Spiegel in die Augen sehen zu können, frei von der Versuchung das Gegenüber mit Kraftausdrücken zu belegen …

Vielleicht hätte ich ihm mein Sprüchlein unter die Nase gerieben. Dass ich schweige, liegt vor allem an dem jungen Kerl, der im D-Zug-Tempo von hinten heran hechelt, mein Trikot identifiziert und ruft: „Ah! Ein Augsburger! Kennst du Christoph Lux?“ - Natürlich kenne ich meinen Vereinskameraden und Top-Ultraläufer Christoph Lux, auch wenn der seit Längerem gar nicht mehr in Augsburger Gefilden weilt. En passant stellt sich heraus, dass mich gerade sein Trainingspartner überholt, dem ich schlussendlich noch Grüße an Christoph auftrage. Und im Verlauf unseres kurzen Dialogs ziehen wir am mutmaßlichen Betrüger, dem Läufer in roter Jacke, vorbei …

Wie so ein Vorfall die Wahrnehmung beeinflusst! Bereits in Runde zwei hätte ich mehrere Stellen bezeichnen können, die zum Abkürzen geradezu einladen. Weil das Gelände zu unübersichtlich und das Teilnehmerfeld zu klein ist. Weil Kontrollen nicht stattfinden. Selbstverständlich nicht, denn wie gesagt: Wer bescheißt, bescheißt letztlich nur sich selbst. Und nun kreise ich zum dritten Mal und spekuliere, wo man überall im Busch abtauchen könnte. Wie lange man gegebenenfalls warten müsste, um nicht infolge unrealistischen Zeitgewinns aufzufliegen. Irgendwann hab ich die destruktiv schäbigen Gedanken satt und wende mich Wichtigerem zu. Zum Beispiel dem dritten Gefecht gegen meinen Feind den „Mörderhang“ … Als ich ihn hinter mir habe, füllt Pudding meine Beine aus, den Kopf dafür Befriedigung. Darüber, es mir nicht leicht zu machen, mich stattdessen zu quälen, mir das Finish auf ehrliche Weise zu verdienen. Und dann drohe ich. Nein, nicht dem Läufer in roter Jacke. In Richtung „Mörderhang“: „Du Sch…berg! Wirst mich auch nachher, im vierten und letzten Anlauf, nicht fertigmachen!“

Langer Forstweg, unschwer auf-, dann abwärts, zwei Kilometer, Minuten in denen ich in mich „reinspüre“. Nicht, um nach Ermüdung zu forschen, die ist allgegenwärtig. Horche auf Signale der noch immer nicht vollends auskurierten Blessuren an Achillessehne und Oberschenkel hinten, jeweils links. Wie schon in den Stunden zuvor keine relevanten Beschwerden. „Wir“ sind noch da, ruft man mir von „da unten“ aus zu, verhalten, offensichtlich ohne Absicht aufzubegehren. Das ist ebenso überraschend wie motivierend. Zwei fußverschleißende Ultrastrecken binnen dreier Tage und keine merklichen Beschwerden. So soll es bleiben!

Verpflegungspunkt, Sumpf mit Sumpfdotterblumen, Wurzelpassage, dunkles Wäldchen, zwischen Feldern aufwärts, Rhyolitgrube, aufwärts im Wald, rasant den Mörderhang runter, Buckelpassage und merkwürdiger Steg, zuletzt über die Wiese und zum dritten Mal durchs Ziel. Roxi: Zwei Kaustangen und ein Keks. Udo: Letztes Gel, Wasser, Cola und zwei Kekse. Blick zur Uhr: Noch einmal drei Minuten länger für die letzte Runde - erstaunlich, denn gefühlt war ich eindeutig länger unterwegs.

Runde vier: Schikanöse Eigernordwand. Mit Atempause rauf. Geröllhalde: Mit Glück, letzter Kraft und wohl auch einigem Geschick sturzfrei hinab. Viermal unfallfrei überstanden! „Bärenpfad“ erster Teil. Inzwischen ist mir auch die Schönheit von Mutter Natur ziemlich schnurz. Ich kämpfe mich stumpf voran. Jeder Schritt ist einer weniger vom Rest. Buckel rauf, Buckel runter, in hundert Kurven durchs Grüne. Weiter, immer weiter. Denke schon jetzt mit Schrecken an die letzte Prüfung. „Mörderhang!“. Einmal noch rauf. Wenn ich den gepackt habe, habe ich den Trail in der Tasche!

Dann ist es so weit und ich kürze die Schritte auf Zentimeterlänge. 30 Meter hinan, dann geht mir die Luft aus. Ein paar Sekunden Pause, auf zur nächsten Etappe. Kämpfen! Durchhalten! Es ist das letzte Mal! Gib alles! Unbeugsam tippele ich empor. Ich würde ja aufgeben, wenn ich wüsste wie das geht. Wenn da nicht die Gewissheit wäre, mich anschließend hundsmiserabel zu fühlen. Mental meine ich. Physisch hundsmiserabel fühle ich mich hinterher sowieso. Das ist normal und nach ein paar Stunden Erholung überwunden. Mental hundsmiserabel nach Niederlage hält dagegen ewig … Ich will! Will da rauf! Will! Will! … Letzte kraftlos schlurfende Tippelschritte auf tonnenschweren Beinen und das Ringen nach Luft, dann - langsam, ganz langsam - fällt die Zentnerlast von mir ab. Ich habe ihn besiegt und lasse den Mörderhang meine Faust sehen. Gut, dass ich alleine bin, dass niemand des Erschöpften seltsames Gehabe mit Kopfschütteln quittieren kann …

Lange Forstwegpassage: Flotter als gedacht komme ich voran. Eigentlich sollte ich nun dahinsiechen, stattdessen trabe ich munterer einher als in der letzten Runde. Physisch nicht erklärbar, mental schon eher: Ultralaufen ist Kopfsache. Es geht dem Ziel entgegen und mein Kopf weiß das! - Verpflegungspunkt: Diesmal mit zwei Damen besetzt, die sich in Mundart unterhalten. Mein Saarländisch aus Kinder- und Jugendtagen ist eingerostet, dennoch rutschen mir Mundartbrocken einfach so raus. Zuletzt bedanke ich mich herzlich fürs Verpflegen und das Ausharren in der Kälte, schenke Roxi noch einen Keks und greife die finalen vier Kilometer an.

Ich hatte das kleine Mädchen, das anfangs Mama beim Einschenken und Verpflegen half, schon vermisst. Nun begegnet es mir im nahen Wald und blitzt mich aus schelmischen Augen an: „Nicht wundern, wenn da und dort was auf dem Boden liegt! Ich bereite nämlich eine Aufführung vor!“ Was immer sie auch im Schilde führen mag - ich schenke der Kleinen mein schönstes Lächeln und rufe ihr zu: „Alles klar! Und viel Spaß dabei!“

Alles zum letzten Mal: Fernsicht, Felder, Waldrand, Grube, dieser Steig und jener Trail. Dann rasant - wozu sich nun noch schonen? - den „Mörderhang“ hinab, zuletzt über die Wiese, 200 Meter Asphalt und ins Ziel. Mit 1:43 h kostete mich die letzte Runde nicht mehr Zeit als die dritte und sie dauerte nur unwesentlich länger als die ersten beiden. Völlig erschöpft stehe ich im Ziel und kapiere nicht, wie es möglich war vier annähernd gleich schnelle Runden zu laufen. „Harzquerung“ und „Bärenfelslauf“ mit Roxi. Tortur pur, Hundstage im Frühling. Auch im Hochsommer, an den tatsächlichen Hundstagen, werde ich kaum mehr Schweiß vergießen können!

Ergebnis: 6:44:02 h

 

Fazit zur Veranstaltung

Rein organisatorisch gibt es nur ein Manko zu vermelden: Obwohl auf der Internetseite angekündigt, war die Abholung der Startnummer am Tag vor dem Lauf nicht möglich. Auf telefonische Nachfrage hin hieß es, dass das anlässlich der Maiauflage des „Bärenfelslaufes“ nicht vorgesehen sei. Wieso steht diese Info nicht online? Hellsehen gehört nicht zum Leistungsspektrum von Läufern.

Die Versorgung an den zwei Verpflegungspunkten war hervorragend, der Empfang jeweils superfreundlich und hilfsbereit. Verlaufen scheint mir angesichts der unmissverständlichen Beschilderung ausgeschlossen. Obwohl nicht ortskundig und meist allein unterwegs, geriet ich nie in Gefahr mich zu verlaufen.

Die Strecke ist reizvoll und reiht einige Naturschönheiten aneinander. Für den Auftakt allerdings, das unsinnige Steilstück an der Autobahn und die gefährliche Rutschpartie im Steilhang, gibt es keine Rechtfertigung. Mit Laufen hat das nichts mehr zu tun. Stattdessen hätte man den Rest des „Bärenpfades“, der gemäß Wandererbeschreibung schöne Aussichten gewährt und auch den namensgebenden „Bärenfels“ präsentiert, in die Strecke einbauen können und sollen.

Fazit: Wiederholung eher unwahrscheinlich!

 

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