Samstag, 29. April 2017

Hundstage im Frühling  -  Teil eins:  Harzquerung 2017

Ein kalter, mäßig sonniger Spätaprilmorgen in Wernigerode am Fuß des Harzes. Hitze kann folglich bei der Titelzeile nicht Pate gestanden haben. Dann schon eher unsere Hündin „Roxi“, die mich auf den zwei geplanten Wettkämpfen dieses langen Wochenendes begleiten wird. Heute die Harzquerung, übermorgen, am 1. Mai, der Bärenfelslauf im Saarland. Doch auch das ist nicht des Pudels - pardon: Roxis - Kern. Das Rätsel um die „Hundstage“ auflösen hieße viel vorwegzunehmen, also bitte ich zwei Laufberichte lang um Geduld …

Mike wird es mir nachsehen, dass ich es zunächst „hundeln“ und erst jetzt „menscheln“ lasse. Mike und ich wollen die Harzquerung 2017 gemeinsam erleben, so jedenfalls ist es abgesprochen. Für Mike bedeutet das, sich einen Klotz ans Bein zu binden, weil er gut austrainiert auf die Strecke geht. Seiner Ausdauer könnte ich selbst dann nicht das Wasser reichen, wenn mein Formaufbau normal verlaufen und nicht durch Rückschläge verzögert wäre. Außerdem ist da noch Roxi: Mit Hund laufen heißt zurückstecken. Ein „laufender Hundeführer“ muss Wohl und Wehe des Vierbeiners über eigene Belange und seinen Ehrgeiz stellen. Das erfordert Konzentration, Mühe und Zeit. Vor allem, wenn das Mensch-Hund-Duo überwiegend leinenfrei die Strecke genießen will.

Obschon mein läuferisches Ist merklich hinterm erträumten Soll herhinkt - in einem durchaus wahren Sinn des Wortes -, werde ich im Harz alles geben; nicht ganz so verhalten beginnen, als wären Roxi und ich allein unterwegs. Mikes Fußfessel soll ihn nicht zu sehr behindern. Mit Ernst und Nachdruck habe ich den Freund aufgefordert solo weiterzulaufen, sobald unser Tempo ihm keinen Trainingsnutzen mehr bringt. Immerhin ist die Harzquerung Mikes letzter Aufbauwettkampf vor der gewaltigen Herausforderung des „Euchidios Hyper-Athlos“, am 12. Mai in Griechenland, 215 (!) Kilometer von Delphi nach Plataea und wieder zurück …

Ein Mensch vor großer Aufgabe, ein anderer bemüht endlich Anschluss an die Vorjahresform zu gewinnen - ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt zunächst jedoch der Hund. Roxi im Wettkampffieber, mit Adrenalin gesättigt, das ihre Wildheit, das Wölfisch-Kämpferische Oberhand gewinnen lässt. Da ist nur noch die befellte Hülle übrig vom lammfrommen, stets um meine Enkelinnen besorgten, gehorsamen Familienhund. Willig und gutmütig lässt sie sich daheim von den schutzbefohlenen „Menschenwelpen“ durch die Gegend schleifen. Und hier, vorm Wettkampf im Harz, zerrt sie rabiat, nur notdürftg beherrschbar, an der Leine. Laufen ist ihre Leidenschaft! Zusammen mit Zweibeinern jagen, die ungestüme Hatz im vielbeinigen Rudel über Stock und Stein. Nicht zu wissen, was wir jagen, das „Wild“ weder riechen, noch sehen zu können, tut ihren Instinkten keinen Abbruch. Ebenso wenig wie der unbefriedigende Umstand, dass ihr Rudelführer weit, weit hinten in der Jagdgesellschaft rangiert, mutmaßlich also von der ersehnten Beute nichts abbekommen wird.

Ein dem Hundewahnsinn nahes Tier also. Allerdings, wenn ich Vergleiche mit früheren Wettkämpfen anstelle, dann wohnt ihr heute weniger „Explosivität“ inne. Das kann nur am fortgeschrittenen Hundealter liegen, das mein Menschenalter inzwischen mindestens eingeholt hat. Im Grunde gehe ich mit einer Hundeoma an den Start, die im Sommer zehn Erdenjahre vollenden wird. Seit Langem behalte ich sie bei langen Trainingsläufen kritisch im Auge. Anzeichen der Überforderung waren jedoch nie erkennbar.

Gegenseitige Wünsche für einen guten und erlebnisreichen Lauf. Mit brechendem Startschuss setzen wir uns in Bewegung. Roxi wirft sich ins Geschirr, als wollte sie mich am Feld vorbei den Berg hochziehen. Womit eine Eigentümlichkeit der Strecke gleich erwähnt wäre: Sofort, wenn auch sanft, bergan. Dicht an dicht trabt das Feld der knapp 600 LäuferInnen. Zunächst noch als breiter Mahlstrom, vom immer enger werdenden „Trichter“ des Wanderpfades allerdings rasch kanalisiert. Unmittelbar vor der Hundenase keilen ständig Fersen aus, was Roxis mörderischen Zug auf die Leine überraschend schnell lockert. Früher hätte sie trotz Vorderleuten nicht vom Versuch gelassen, sich im Halsband zu erwürgen …

Als Exoten auf sechs Beinen ziehen Roxi und ich bei Laufveranstaltungen stets die Blicke auf uns, treffen jedoch auch Gleichgesinnte. Gerade überholt uns ein Mitläufer mit seinem gertenschlanken, kurzfelligen Jagdhund (Ein „Weimaraner“ vielleicht? Also der Hund, nicht der Mensch.). Roxi nimmt vom Artgenossen ebenso wenig Notiz, wie der von ihr. Alles hat seine Zeit, auch für Hunde. Jetzt ist Laufen angesagt, Beschnüffeln und Kennenlernen von Artgenossen muss da hinten anstehen. Welche „Daten“ die beiden en passant austauschen (für menschliche Sinne unsichtbar, vor allem über Duftstoffe in höchst sensiblen Hundenasen), darüber lässt sich nur spekulieren. Vermutlich „riechen“ sie zumindest das Fehlen jeglichen Aggressionspotenzials beim anderen …

Stetig aufwärts unter hohen Bäumen, mal langsam, mal etwas schneller, bisweilen auch stockend, für ein paar Wimpernschläge verharrend. Eine dieser Verzögerungen nutzt „Kerkermeister“ - dieses Pseudonym nutzt er im Läuferforum -, um mich anzusprechen. „Vorstellen“ möchte er sich. Ich vermag das von dieser Wortwahl ausgehende seltsame Empfinden im ungeordneten Auftakt des Wettkampfs nicht festzuhalten, geschweige denn in Worte zu fassen. Im Nachhinein komme ich mir schon ein bisschen wie ein Fossil vor. Es hat was von: Der Jüngling stellt sich dem alten, Respekt einflößenden Vater seiner Angebeteten vor … Dabei ist „Kerkermeister“ ein reifer und erfahrener Läufer. Und ich strahle hoffentlich alles andere als elitäre Unnahbarkeit aus. Man sieht: Ich sorge mich ein wenig um mich. Großes verändert den Menschen. Und der „Spartathlon“ war zweifelsfrei das Größte, was ich sportlich je auf die Reihe bekam. Der „Spartathlon“ formte definitiv einen „etwas“ anderen Läufer aus mir. Beispielsweise dämmte er meinen zuvor mit heißer Flamme brennenden Ehrgeiz nachhaltig ein … Und wenn ein Lauferlebnis das zuwege bringt - wer weiß, was es sonst noch anrichtete?

Mal steiler, mal flacher, immer unter Bäumen. Intermezzo auf ein paar Metern Asphalt, dann wieder zurück auf einen Trail. Langsam und weiterhin stockend voran, nicht unwillkommen, weil es meine Kraftreserven schont. Fast bin ich sicher eine Streckenänderung habe die Stelle umgangen, dann ist es doch noch soweit: Megastau vorm steilen Hohlweg. Vor sechs Jahren querten Roxi und ich den Harz schon einmal auf dieser Route. Erstaunlich, was auch ein Mensch mit gutem „Landschafts- und Streckengedächtnis“, für den ich mich halte, alles vergessen kann. Kurz nach dem Hohlweg entließ ich seinerzeit Roxi in die Freiheit. Heute scheint mir das noch zu gewagt, das Feld zu kompakt und die Wege zu schmal. Als laufender Hundeführer muss ich nicht nur das Wohl meines Vierbeiners, sondern eben auch jenes der anderen Zweibeiner im Auge behalten.

Ein paar Minuten später ist Roxis Stunde gekommen. Das Feld weist inzwischen große Lücken auf und die Trails wurden zu breiten Forstwegen. Ich leine Roxi ab, lasse sie noch eine Minute an meiner Seite tippeln, dann hört sie ihr Lieblingskommando: „Lauf!“ Wie ein „geölter Blitz“ schießt sie davon, um die restlichen Kilometer der Harzquerung nun im stets gleichen Schema abzuarbeiten: 20, 30 Meter voraus laufen, bemerken, dass ihr lahmer Rudelführer zurückblieb, umkehren und zurücktrotten, dabei jeden Läufer anvisieren, bis sie mich schlussendlich identifiziert hat; sodann neuerlich kehrtmachen und wieder ihrer neugierigen Nase hinterher jagen. Auf diese Weise wird Roxi deutlich mehr als die eigentlich verlangten 51 Kilometer Harz abmessen, meint Mike. Im Grundsatz ist das richtig. Allerdings werden „Hub“ und „Frequenz“ ihrer „Ziehharmonika-Taktik“ mit der Wettkampfdauer abflauen.

Düster, beinahe drohend wirkt der stille Spiegel des Wassers unter grauen Wolken, wie ein See aus flüssigem Blei, der gegen die Staumauer drückt. Kein Vergleich zu meiner farbenfrohen Erinnerung. Hoffnungen auf Wärme und Sonnenschein, noch vor einer Stunde vom überwiegend blauen Himmel genährt, wollen sich nicht erfüllen. Einstweilen jagt mir der kalte Morgen immer wieder Schauer über die Haut.

Hie und da eine Bemerkung zur Umgebung, zum Wetter oder dem Laufgeschehen - mehr Dialog entspinnt sich nicht zwischen Mike und mir. Zum einen wissen wir mittlerweile sehr viel mehr vom anderen, als noch im letzten Jahr, im September, anlässlich der gemeinsamen Umrundung der Müritz. Zum anderen gilt es immer wieder konzentriert auf Hindernisse zu achten oder einfach still die Waldnatur des Harzes in sich aufzunehmen. Schauen, hören, riechen, spüren … atmen, laufen. Etwas Entscheidendes ist bei diesem Lauf gleichfalls anders, als weiland an der Müritz - mir gebricht es an der „unerträglichen Leichtigkeit des Seins“. Um die Müritz joggen, damals, im Bewusstsein eigener Stärke, fühlte sich eher wie Schweben an. Zwar laufe ich nach knapp 10 km längst nicht am Limit. Doch das eingeschlagene Tempo kostet mehr Körner als ich wahrhaben will.

Erster Verpflegungspunkt, Kilometer 11. Zunächst biete ich Roxi den nahen Bach als Tränke an - wie erwartet kühlt sie sich nur die Füße, schlabberte da und dort bereits aus Pfützen. Ich „parke“ sie ein paar Meter abseits - „Sitz!“ - und „verpflege“ mich: Wasser und sonst nichts. Habe lediglich drei Gels an Bord, die für Kilometer 20, 30 und 40 vorgesehen sind. Auch Roxi geht leer aus, die beiden Kaustangen unterm Saum meiner Kompressionsstulpen muss sie sich erst verdienen …

Keinen Kilometer nach dem Verpflegungspunkt kreuzen wir erstmals eine Straße. Ich bin dankbar für die Streckenkenntnis. Sie erlaubt mir Roxi frühzeitig an meine Seite zu holen. Am Fuß über die von Streckenposten gesicherte Straße und: „Roxi lauf!“ - Mit Hund unterwegs zu sein zeitigt die komplette Skala von Läuferreaktionen, von Entzücken über Wohlwollen bis Ablehnung oder gar Angst. Letzteres zum Glück selten, wiewohl ich in solchen Fällen Roxi herbei zitiere. - „Er“ findet uns als Gespann jedenfalls toll und teilt mir das auch mit. Zuspruch dieser Art weckt Stolz in mir - obschon Roxis Ausbildung überwiegend auf Frauchen Ines’ Konto geht -, vor allem jedoch Dankbarkeit. Was für ein wunderbarer Hund! Wie oft war Roxi schon mein einziger Lichtblick im ansonsten finsteren Trainingsgeschehen, wenn sich zwischen Öffnen und Schließen der Haustür ausschließlich Widriges ereignete. Roxi! Ich fürchte mich vor dem Tag, an dem meine treue Laufpartnerin mich nicht mehr wird begleiten können …

Kilometer 13,5: Trail zwischen Fichten, matschiger Geländeeinschnitt. Am tiefsten Punkt ermöglicht eine bemooste Betonplanke sauberen Schuhs den Gegenanstieg zu beginnen. Einigermaßen steil bergan. Noch reicht meine Ausdauer, um den Abschnitt ausreichend flott zu bewältigen, auch wenn ich die Anstrengung bereits deutlich spüre. Um dem Verdacht „ewigen Wehklagens“ vorzubeugen, vermied ich bisher die noch immer nicht ausgestandenen Probleme mit Achillessehne und Oberschenkel hinten links zu erwähnen. Kurzes „Statement“: Seit den nicht gerade „knochenschonenden“ Trails zum Auftakt der Harzquerung meckern Sehne und Oberschenkel dann und wann „leise“. Insgesamt und über die Stunden, auch jenen die noch vor mir liegen, nichts, was mich ernsthaft behindert. Darum für heute: Thema durch!

Die meiste Abwechslung entlang dieses Abschnitts geht von den Wegen aus. Mal auf grasigen Pfaden voran, seltener auf Forstwegen, hin und wieder gilt es Hindernissen auszuweichen, rauf und wieder runter - selten steil -, zuweilen geleitet ein Steg uns auf die andere Bachseite. Ringsumher stets Fichtenwald, von alt und mächtig bis jung und Schonung. Du solltest Wald lieben, willst du die Harzquerung mit einem Maximum an Laufspaß unter die Füße nehmen!

Zweite Straßenquerung im Tal der „Warmen Bode“. Roxi wird alsbald wieder in die Freiheit entlassen, zischt über die Fußgängerbrücke und erkundet lange vor Mike und mir die andere Seite des Flüsschens. Hundert mit einer Unzahl knorriger Wurzeln gespickte Meter „Uferpromenade“ erwarten uns dort. Wessen Blick sich vom glucksenden Wasseridyll einfangen lässt, wird gleich mir unweigerlich stolpern. Mit viel Glück und Mühe vermag ich den eigentlich fälligen Sturz gerade noch abzufangen …

Bäche fließen in Tälern. Also wieder hinauf. Langsam, mit dosiertem Krafteinsatz. Wie immer möchte ich auch heute jeden Streckenmeter laufend zurücklegen. Wie ich Mike beneide! Leichtfüßig tippelt er den Hang empor, erarbeitet sich einen Vorsprung, verschwindet alsbald aus meinem Sichtfeld. Ich erlebe es mit gemischten Gefühlen, vor allem, weil ich weiß, dass er „oben“ auf mich warten wird. ‚Er wollte es so …’ rede ich mir zu, was die Bedenken jedoch nicht völlig verstummen lässt.

Wieder gemeinsam weiter, ausnahmsweise sogar auf fein geschotterter Piste, schließlich über ein Hochplateau, das ich nur halbwegs wiedererkenne. Halbwegs, weil die Fichtenschonung zu meiner Rechten in sechs Jahren enorm an Höhe zulegte. Damals konnte man die nächste Verpflegungsstation bereits über die Wipfel der Bäumchen hinweg anvisieren, heute erst als wir den Wald verlassen. - Roxi sitzt neben der Tränke und mampft ihre erste Kaustange. Für mich gibt’s ein Gel und Wasser. - 20 Kilometer lese ich kurz nach dem Verpflegungspunkt ab, Mikes GPS meldet rund 200 Meter weniger.

Im Wald unterwegs, ohne nennenswerte Höhenunterschiede. Zwei im Laufweg verlegte Holzbohlen erleichtern die Überwindung eines sumpfigen Grabens. Ich versuche die Ansichten vorbei ziehenden Waldes mit den Bildern in meinem Kopf zur Deckung zu bringen. Irgendwo hier muss es gewesen sein! Ein von plötzlich einsetzenden Rückenschmerzen attackierter Läufer musste von zwei anderen beidseits gestützt werden. Allein die Vorstellung mir könnte Ähnliches widerfahren jagt mir Schauer über den Rücken …

Am Waldrand entlang mit unbegrenztem Blick über ausgedehnte Wiesen. Auch diesen Ausschnitt der Harzlandschaft erkenne ich wieder, wenngleich die Regentschaft der Wolken nur eine Art Schwarz-Weiß-Kopie meines Kopfkinos zulässt. Dennoch ein reizvoller Anblick, den Mike mit einem „wunderschön!“ quittiert. Eigentlich kenne ich die Landschaften des „Unterharzes“ lediglich von zwei Laufveranstaltungen, Harzquerung und Ottonenlauf. Riesige, baumfreie Areale gelten mir trotz dieser Einschränkung als typisch für die hiesige Kulturlandschaft. Von gelegentlichen Windböen belästigt traben wir über die freie Hochfläche, nähern uns schlussendlich der Ortschaft Trautenstein, die sich in eins der nicht allzu tief eingeschnittenen Harztäler duckt. Zunächst sanft abwärts am Rand einer Hangwiese, dann etwas steiler unter knorrigen Eichen …

Drei Minuten Straßen, Häuser, samstägliche Aktivitäten im Dorf, Sicht- und Hörkontakt zu einer Handvoll Menschen, mehrheitlich solche in Funktion als Strecken- und Sicherungsposten. Anerkennend freundlicher Beifall. Dann bleibt die Ansiedlung zurück und Stille umfängt uns wieder. Unterbrochen lediglich von Vogelstimmen, vielleicht dem Säuseln des Windes im Geäst, nichts sonst. Gedämpftes Getrappel oder Scharren der Füße muss ich mir bewusst machen, sonst bleibt es seiner Selbstverständlichkeit wegen ausgeblendet. Wieder legt ein Wiesenbach hundert Schlingen in grüner Au. Ein Anblick, dessen Ursprünglichkeit mich noch immer faszinierte. Ganz gleich wie müde ich auch gewesen sein mochte. Und müde bin ich bereits, wenngleich diese Tatsache meine Schritte noch nicht lähmt.

Einmal mehr empor, das Tal auf schmalem Pfad verlassen, zwischen Fichtenstämmen untertauchen. Sanftes Auf und Ab zunächst, bis jener Abgrund erreicht ist, der mir schon vor Jahren Adrenalinschübe durch die Adern jagte: Sehr steil hinab, bisweilen über Geröll, dann und wann blanke Erde, nicht ungefährlich. Ich finde meinen Eindruck von damals bestätigt: Diesen Hang möchte ich nicht bei Regen überstehen müssen! Einige tasten sich schrittweise hinab, andere kommen schneller voran, doch alle kämpfen mit diesem Pfad. Alle bis auf Roxi. Sie genießt ihren Vorteil auf vier Beinen, Allradantrieb sozusagen, unterstützt von sensibler Bar-Pfötigkeit.

Unten angekommen auf schmalem Steg über einen Bach und am Gegenhang neuerlich bergauf. Ich kommandiere Roxi zu mir her. Gleich werden wir die Trasse einer Schmalspurbahn queren. Anders als beim letzten Mal höre ich zwar kein Pfeifen der Dampfeisenbahn, will aber nichts riskieren. Ein paar anstrengend steile Schritte, dann weit gesetzte über Schienen und schließlich auf gutem Waldweg weiter hinan.

Wieder bleibt der Forst zugunsten ausgedehnter Wiesen zurück. Ursprünglich stand hier sich nicht mehr als ein Einödhof, der Name des Weilers - „Sophienhof“ - ist mir Indiz genug. 30 km liegen nun hinter und die dritte Verpflegungsstation vor uns. Eingespieltes Ritual: Roxi parken und mit Leckerem versorgen, mich selbst mit Gel und Wasser stärken, Roxi herbeirufen, Mike im Pulk der Läufer finden und wieder Fahrt aufnehmen. Mit Roxi am Fuß queren wir die Ortschaft. Zwischen Dorfweiher und Schafsanger bereite ich mich auf einen scharfen „Ritt zu Tale“ vor. Auf schmalem Pfad hinab, immer in der Flanke eines jäh abfallenden Geländeeinschnitts. Unter hohen, noch laubfreien Bäumen gilt es auf jeden Schritt zu achten, hie und da einer zuschnappenden Wurzel oder einer heimtückischen Stolperkante auszuweichen.

Mike zieht auf und davon, enteilt rasch hinter einer der zahlreichen Wegbiegungen. Ich kann und darf nicht schneller - bloß kein Risiko! Dafür laufe ich zu nah am Limit! Nach trotzdem wilder Hatz und einen Kilometer weiter unten spuckt mich der Pfad auf einen breiten Wirtschaftsweg. Nun sanft und sicher abwärts. Zunächst suche ich Deckung und erleichtere mich. Nach dieser Verzögerung wähne ich Mike weit voraus und hoffe um seinetwillen, er möge nicht warten. Ich bin müde. Sehr müde sogar. Hoffte mich bergab zu erholen, doch das brachiale Gefälle raubte mir Kräfte auf seine Art. Bedächtig weiter, entlang eines idyllisch zu Tal plätschernden Baches.

Vielleicht meint er den eindeutig schwächeren Laufpartner nicht im Stich lassen zu dürfen. Jedenfalls lässt Mike sich einholen. Meine Lahmheit, mehr noch, dass der Freund auf mich warten musste, nervt mich mehr als ich mir eingestehe. Wahrscheinlich erklärt dieser Umstand die rechtfertigend vorgebrachte Erklärung, derzufolge ich mich vorzeitig erschöpft fühle, den Wettkampf wohl zu forsch begonnen habe. Vielleicht liegt ein bisschen Resignation in meiner Stimme, vielleicht lösen meine Worte aber auch nur einen unter Läufern üblichen Reflex aus: „Du schaffst das!“

Auf brettflachem Weg im Talgrund voran, parallel zum Schienenstrang der Schmalspurbahn und endlich mal in der Sonne. Schweißperlen auf der Stirn, sonst lästig, heute willkommen. In ein paar Minuten erwartet mich die eigentliche Prüfung des Tages. Ein Berg. Der Berg. Längste, beinahe ununterbrochene, sehr fordernde Steigung der Harzquerung. Der „Poppenberg“ - keine Ahnung, ob er wirklich so heißt, den Namen verwendete vorhin ein Läufer im Gespräch. 300 Meter Höhe, vier Kilometer Weg. Und selbstverständlich will ich dieses Hindernis im Laufschritt nehmen, wenngleich die gegenwärtige Schwäche das auszuschließen scheint. - Touristisches am Fuß des Poppenberges: Ein Bahnhof der Harzbahn, dahinter die Anlagen einer alten Mine, deren dunkle Stollen vermutlich schaudernden Urlauber als Schaubergwerk zugänglich sind. Unmittelbar hinter dem letzten Gebäude vollführt der Weg eine Spitzkehre und steigt an …

Vor der Zeit „dope“ ich mich mit dem letztem Gel. Ob es den Beinen hilft ist fraglich, meinem Kopf rede ich es schlichtweg ein. Unter Laubbäumen mit stark verkürztem Schritt hinan … Viele gehen. ‚Irgendwie schaffst du das!’ versuche ich meinen Kampfgeist zu wecken. Komme langsam voran. Langsam aber stetig. Lunge, Herz, alle Systeme arbeiten angestrengt, von Volllast nicht weit entfernt. Schweiß rinnt, Beine werden schwer. Ein halber Kilometer, ein ganzer, noch lange kein Ende … Weniger steil jetzt: Nicht schneller, stattdessen erholen! Wieder mehr Steigung. Kurzer Fotostopp und weiter. Aufwärts tippeln, langsam, langsamer, am langsamsten … bisweilen der Eindruck auf der Stelle zu treten … Die GPS-Anzeige muss defekt sein! So lange für lächerliche hundert Meter … noch mal hundert … jetzt nur achtzig - protokolliertes Schneckentempo. Blut rauscht im Kopf … kann nicht mehr denken, aber leider noch fühlen … hart, so hart … will weiter, muss weiter, immer höher hinaus … Laufen, nicht gehen! … Laufen? - Lächerlich! - Na gut, dann eben Tippeln, Tapsen, Trotten, irgendwas, nur nicht gehen … Kurzes Verschnaufen für ein paar fast ebene Meter … alsbald erneut steil nach oben … wie lange noch? - Letzte Höhenmeter. Finaler Buckel. Schmaler Pfad. Erkenne ihn wieder.

Auf dem Gipfel eine Tränke. Hatte auf zuckersüße Cola gehofft. Aber die gibt es nur stark mit Wasser verdünnt. Drei Becher schwappen schon im Bauch. Brauche mehr Zuckermoleküle, schütte einen weiteren Becher hinterher. Rasch weiter, Mike und Roxi geben die Richtung vor, ich jogge hinterdrein. Nur noch 12 km bis zum Ziel in Nordhausen, davon die nächsten vier schon mal bergab. - Rollen lassen! In jedem Moment kontrolliert natürlich aber auch nicht zu defensiv. Dauerndes Bremsen, ständiges Arbeiten gegen die Schwerkraft, würde mich zusätzlich auslaugen.

Unter spärlich grünen Laubbäumen hinab in wechselndem Gefälle. Hin und wieder Lichtungen im Wald, einmal eine Wiese mit blühenden Bäumen. Just in diesen Minuten gibt die Sonne eines ihrer bisher kurzen Gastspiele, bringt die Blüten zum Leuchten, verschafft der eigentlichen Jahreszeit Geltung. Frühling! Immer weiter runter … Forstweg, Pfad, Forstweg, Pfad … Schließlich über den Waldrand hinaus und der Weg wird flacher. Malerisch liegt das Städtchen vor uns in der Senke - Neustadt im Harz. Alsbald durch einen Park, noch immer bergab und schließlich Richtung Zentrum. Torbogen? Stadttor? Turm einer früheren Stadtmauer? - Wir nutzen den Durchgang, lassen uns jenseits vom Applaus einer kleinen Zuschauerkolonie beflügeln. Ein paar Meter über einen Parkplatz noch, dann dürfen wir uns neuerlich am Läuferbuffet stärken …

Kein Gel mehr an Bord! Auf inzwischen schon wachsweichen Beinen greife ich, der Not gehorchend, nach Süßem. Am raschesten wird mein Verdauungstrakt den Zucker aus Keksen verwerten und natürlich in Cola gelösten. Auch Roxi bekommt einen Keks, dann nehmen wir den Kampf gegen die Strecke wieder auf.

Am Ortsausgang bergwärts, vorbei an vielen Gehern, einen Buchenhain durchquerend, zuletzt einen Grasbuckel erobernd, der sich rasch wieder talwärts neigt, geradeaus auf einen Feldweg zu. Das Bild dieser Geländeformation hat sich tief in meine Erinnerung gebrannt. Bereits vom höchsten Punkt des Hügels aus erspähte ich damals eine Ansammlung von Läufern auf dem Feldweg. Und heute meine ich sogar den gefährlich aufragenden Stein in der Fahrspur zu erkennen - es gibt nur diesen einen -, über den der Unglücksrabe damals stolperte. Seine Brille lag zerbrochen im Dreck, aus einer Platzwunde an der Schläfe blutete der Mann ergiebig. Es kostete die umstehenden Läufer viel Überredungskunst, den Verunfallten am Weiterlaufen zu hindern. Einer blieb bei ihm, um auf die Sanitäter zu warten, wir anderen setzten den Wettkampf fort - durchaus geschockt …

Vorletzter Anstieg am Waldrand, schließlich noch einmal für hundert Meter steil bergan im Wald. Dahinter wieder offenes Gelände, Wiesen und Felder. Hecken und Büsche, vor langer Zeit als Windschutz gepflanzt, säumen unseren Weg. Obschon nicht weniger fordernd, empfinde ich die Schlusskilometer als einfacher, mich selbst als sogar ein wenig erholt. Dem bisschen Zucker, vor nicht mal 20 Minuten genossen, ist diese Wirkung vermutlich nicht zuzurechnen. Das nahe Ziel, das Wissen auch diesen Lauf bald erfolgreich beenden zu können, setzt Kräfte frei. Wieder einmal finde ich bestätigt: Laufen, vor allem auf Ultradistanzen, ist Kopfsache!

Asphalt-Intermezzo, ein geschenkter Kilometer. Wir laufen in bäuerlich geprägter Umgebung, erfreuten uns eben schon an zwei Pferden auf ihrer Koppel, passieren nun eine Kuhherde. Wenig erwähnenswert die Tatsache an sich, dafür die unbekannte Rasse mit langen, seltsam gebogenen Hörnern. Runter von der Straße, Feldweg, letzter Verpflegungsstand. Roxi kann’s nicht fassen: Herrchen macht keine Trinkpause, greift sich keinen Keks, rennt einfach weiter … Keine Belohnung nach inzwischen mehr als 46 Kilometern … Letzter Anstieg! Erst durch einen Hain, zuletzt über Gras und zwischen blühenden Bäumen, hinter denen man Nordhausen bereits erkennen kann. Nur noch zwei, drei Kilometer und nun ausschließlich bergab.

Der Pfad am Feldrand erfordert noch einmal volle Konzentration, um nicht in eins der zahlreichen Löcher zu treten oder auf einem Knubbel umzuknicken. Abwärts, immer weiter abwärts. Wir biegen in einen breiten Wirtschaftsweg ein und halten auf die Stadt zu - Roxi voraus, Mike und ich nun Seite an Seite. Der letzte Kilometer. Wer die Harzquerung zum ersten Mal unter seinen Füßen hat, wähnt sich noch weiter vom Ziel entfernt. Erstens, weil er die Stadt bis zum Zielstrich im Stadion nicht sehen kann. Zweitens meldet sein GPS bis hierher nicht einmal 49 Kilometer. Wer schon mal hier war, weiß, dass die offiziell angegebenen 51 Kilometer nicht stimmen können. In Wirklichkeit betritt man das Stadion etwa bei Kilometer 49,5 und läuft hundert Meter später unter munterem Beifall über die Ziellinie. So, wie nun wir, Mike, ich und Roxi, als Trio nebeneinander …

Ein erlebnisreicher Ultrawettkampf ist zu Ende. Wir beglückwünschen uns gegenseitig, verbunden mit dem Dank für die Begleitung. Für Mike die letzte Station vor Delphi, für mich der erste von zwei Trainingsläufen an diesem langen Wochenende.

Ergebnis: 5:52:45 h

(zum Vergleich mein Ergebnis aus 2011: 5:28:52 h)

 

Fazit zur Veranstaltung

Die Strecke ist ebenso schön wie anspruchsvoll. Sie verlangt stundenlange Ausdauer und die Fähigkeit Trails (ca. ein Viertel bis ein Drittel der Strecke) zu laufen. Leichtsinn, insbesondere in Abwärtspassagen, wird bestraft. Bei Regen halte ich den Kurs abschnittsweise für gefährlich. Bei der Harzquerung sollte man das Erleben in den Mittelpunkt stellen und nicht den Wettkampf. Jederzeit kontrolliertes Tempo und Kraftreserven bis zum Schluss bieten größtmöglichen Schutz gegen Stürze.

Manches an der Organisation der Harzquerung wirkt veraltet und improvisiert. So lange in allen Bereichen die Mindestanforderungen erfüllt werden, was nach meiner Beobachtung der Fall war, sollte man mit einem dankbaren Lächeln darüber hinweg sehen. Immerhin stellen sich viele Menschen ohne jeden persönlichen Vorteil in den Dienst einer wunderbaren Sache. Auch die erstaunlich niedrige Startgebühr spricht in dieser Hinsicht Bände.

Gut bestückte Verpflegungsstände (Ausnahme: Poppenberg) luden zur Stärkung ein. Ein Dank an die ausnahmlos agilen und superfreundlichen Helfer!

Fazit: Immer wieder!

Hinweis: Mein Fazit von 2011 wertet deftiger. Aus heutiger Sicht und mit der Erfahrung aus diversen Landschaftsläufen mit Crosscharakter und Ultralänge, empfinde ich die Strecke der Harzquerung weniger kritisch als damals.

 

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