Sonntag, 18. September 2016

Marathon-Double Teil zwei:

Überleben oder erleben?   -   Seenlandmarathon 2016

Ziemlich defensiv bin ich seit drei Minuten auf sanft ansteigender Straße unterwegs. So spurlos, wie zunächst erhofft, scheint der gestrige Marathon am Bodensee nicht an mir, genauer gesagt: an meinem Bewegungsapparat, vorbei gegangen zu sein. Gestern Abend hing ich ziemlich groggy auf der Couch ab und suchte mein Heil in erholsamem Schlaf. Nach dem Aufstehen fühlte ich mich zwar lediglich ein wenig ungelenk und matt, wie üblich nach einem Marathon/Ultra, nahm mir dennoch vor die 42,195 Kilometer vorsichtiger als gestern anzugehen. 4:30 Stunden genügen dem Trainingszweck gleichfalls, schonen aber meine Knochen. Also „schleiche“ ich diesen ersten Anstieg hoch und schaue anderen beim Überholen zu …

Hinter dem Hügel hinab ins Tal, das vor lauter Wald in seinen Dimensionen nicht abzuschätzen ist. Um einiges tiefer hinab als zuvor rauf, was letztendlich nur eines bedeuten kann - auch weniger erfahrene Läufer kennen die Wahrheit: Demnächst fordernd bergauf! Zunächst gilt es Idyllisches „abzuhaken“: Erst die „Mandlesmühle“, in unseren Tagen ein Infozentrum des fränkischen Seenlandes, danach ein paar stille Weiher, einer sogar mit Schwan. Sagte ich „idyllisch“? Heute wohl eher trist in Ermangelung von Sonne. So auch das Bild des dunklen, unbewegten Wassers mit einsamem Schwan und dem im Hintergrund finster drohenden Waldsaum - wie ein Bühnenbild aus „Lohengrin“. Über mir hängen fette graue Schwaden, aus denen es vor nicht allzu langer Zeit noch regnete. Heute wird mir die gestrige Gnade unerwarteten Sonnenscheins nicht noch einmal gewährt werden. Und das bringt mich zu einem ärgerlichen Detail, …

… über das ich mich selbstkritisch ergehe, um Marathonaspiranten zu verdeutlichen, dass selbst geballte Erfahrung aus 177. Marathons/Ultras blöde Fehler nicht ausschließt. - Ich bin Brillenträger, brauche daher bei Regen eine Schirmkappe. Ich „glaubte“ sie eingepackt zu haben. Tatsächlich kann es sein, dass sie im Kofferraum meines Autos ein Nickerchen macht, weil ich sie versehentlich mit Bekleidung und Utensilien, die erst beim/nach dem Duschen gebraucht werden, aussortierte. Möglicherweise weint sie sich aber auch zu Hause die Augen aus, weil ich sie schmählich im Stich ließ. Und nun? - Ganz einfach: Ich habe beschlossen, dass es nicht regnen wird!

Vor mir baut sich eine gewaltige, stufenweise abgeschrägte und mit Gras bewachsene Wand auf: Der Staudamm des „Großen Brombachsees“. Die Dammkrone liegt gut und gerne 30 Meter höher. Um dort rauf zu gelangen folgt der Kurs zunächst einem asphaltierten Radweg parallel zum Dammfuß, von Beginn mit geringer Steigung. Die macht mir allerdings viel weniger zu schaffen, als das misstönende Quartett - zwei Bläser und zwei Trommeln -, knapp unterhalb der Dammkrone postiert, und „Muss i denn, muss i denn, zum Städtele hinaus“ zum Schlechtesten gebend ... Grauenhaft! Erinnere dich an Jericho! Manche der Töne liegen so dissonant daneben, dass man das Einstürzen Dammes befürchten muss …

Gottlob hält der Damm, dafür wird der Weg steiler und steiler. Vorsorglich nehme ich noch mehr Fahrt raus, lasse mich neuerlich überholen. Überholvorgänge am Berg dauern. Da kommt es vor, dass du „Sachen“ mithören musst, die inneren Widerspruch erregen. Einer von Zweien spricht übers Altern. Altern als Läufer: „Ich sage immer: Wenn man älter wird, da hat man keine Ziele mehr. Man ist sozusagen froh, wenn man irgendwie überlebt!“ - Meint der das wirklich ernst? Ich zweifle. Das klingt, als kehrte er jeden Tag ein paar Stunden auf dem Nordfriedhof zum Probeliegen ein. Probeliegen für die Ewigkeit! - Ich altere auch und das nicht zu knapp. Jeden Tag einen weiteren Tag, jedes Jahr ein weiteres Jahr, läuferisch nach fünf Jahren um eine Altersklasse. Und deswegen sollte ich keine Ziele mehr haben? Gleich mehrere könnte ich ohne Bedenkzeit aufzählen. Ich will keineswegs nur überleben! Ich will noch so vieles erleben!

Langsam folge ich dem „Todgeweihten“ samt Laufpartner bis hoch zur Dammkrone. Laaaaangsam übrigens, sehr laaaangsam, auf dem mehr als einen Kilometer langen Damm alsbald wieder flotter. - Zum besseren Verständnis eine kurze Streckenbeschreibung: Auch heute sind zwei Runden zu absolvieren, grob gesagt rund um den „Großen Brombachsee“. Da so eine Seerunde nur etwa 13 bis 14 Kilometer misst, wurde sie um eine Wendestrecke ergänzt, entlang eines Uferabschnitts des „Kleinen Brombachsees“. Dieser „Wurmfortsatz“ ist ziemlich genau zwei Kilometer lang, ergibt also viermal gelaufen weitere 8 Kilometer. Die fehlende Distanz ergibt sich aus dem bereits geschilderten Zuweg plus dem davon abweichenden Rückweg nach „Pleinfeld“*. Einige Buckel und Steigungen sind auf den zwei Runden zu überwinden, in der Summe und „en détail“ allerdings nichts Dramatisches.

*) Pleinfeld liegt in der Nähe von Weißenburg und dem vom Ironman Triathlon bekannten fränkischen Städtchen Roth, also südlich der Städte Nürnberg und Fürth.

Vom Wasser her zieht es kalt herüber und ich bin froh auf Armlinge nicht verzichtet zu haben. Trotz Schweißperlen auf der Stirn kann ich mich eines Fröstelns nicht erwehren. Rechts, tief unter mir, am Fuß des Staudamms tippeln die letzten Marathonis in Richtung Anstieg. Und vor mir jault das Blech, wummern die Trommeln. S-c-h-a-u-e-r-l-i-c-h ! Hören die sich eigentlich nie selbst zu? Musikunterricht und Üben könnten eine Lösung sein, bevor ihr mit dem Lärm anderen auf den Wecker geht! Ein kurzer Impuls, eine zugegebenermaßen böse Idee aus einer Dunkelkammer meiner Seele, die sich höchst selten öffnet: Wie wär’s wenn ich die „Musikanten“ in den nahen See schubste?

Lärm wandert Achtern aus, ich nähere mich dem Ende des Damms. Von dort dringt gleichfalls Melodiöses an mein Ohr, das ich noch nicht erkenne. Am Dammende nach links und bis auf weiteres - damit ich es nur bei Abweichungen erwähnen muss - dem Ufer folgend. Was da aus dem Lautsprecher dringt, ist Country-Musik. Der Mann am Keybord leiert gerade seine Version von „Jambalaya (On the Bayou)“ herunter. Auch nicht mein Ding, aber wenigstens beherrscht der Musikant sein Metier.

Zwei Minuten später herrscht Stille, nur von eigenen und den Schrittgeräuschen naher Mitläufer unterbrochen. Nun schon über eine halbe Stunde unterwegs und eingelaufen horche ich in mich rein, warte auf „Stellungnahmen“ der orthopädischen Abteilung. Seltsamerweise herrscht dort auch Stille. Zwar ist nicht zu „überspüren“, dass ich gestern deutlich weiter als bis zur Haustür lief. Das war’s dann aber auch. Selbstverständlich nährt beschwerdefreies Laufen Hoffnungen, vorschnelle Prognosen vermeide ich dennoch.

„Es“ läuft. Will heißen: Innere Automatik kümmert sich ums Tempo und für rigide Tempokontrolle spüre ich keine Notwendigkeit. Deshalb liegen die Kilometerzeiten inzwischen alle knapp unter 6 Minuten. Dasselbe Tempo wie gestern. Ich sammele Fotos. Die See- und Uferansichten in düsterem, dann und wann von Nebelschwaden durchsetztem Dauergrau sind zwar alles andere als erbaulich. Doch genau aus diesem Grund muss ich den Auslöser häufiger betätigen. Zwei Drittel dieser Zwielichtaufnahmen werde ich infolge Unschärfe nicht verwenden können.

Nach neun Kilometern nehme ich einen weiteren Damm unter die Füße. Das etwa 500 Meter lange Bollwerk trennt den „schnuckeligen“ Igelsbachsee vom Großen Brombachsee. Wie „schnuckelig“ der kleine Vetter tatsächlich ist, erlebte ich zuletzt im März, anlässlich eines Trainingslaufs. Im Wettkampf durfte ich den Igelsbachsee auch schon einmal umlaufen. Das war 2005, als der „Seenlandmarathon“ noch „Brombachsee Marathon“ hieß. Ich hörte damals auch schon auf den Namen „Udo“, war in diesen Anfangsjahren meiner Laufleidenschaft aber noch fähig einen Marathon mal eben unter 3:15 h zu laufen. Ach ja, lange her, ich altere eben …

In loser Kette joggen wir durch ein Waldstück. Seit einigen Minuten tröpfelt es. Unklar, wieso sich die Wetterregie nicht an meine Beschlussfassung gebunden fühlt und Wasser aus dem Himmel kippt. Ich senke den Kopf ein wenig, halte meine Brille auf diese Weise so gut es geht trocken. Hinterm Wald besichtigen wir einen kleinen Yachthafen, daneben einen Sandstrand. Noch vor ein paar Tagen tummelten sich hier die Wassersportler. 10 Kilometer gelaufen. Ein weiterer, dem Hauptdamm in seiner Länge kaum nachstehender Wall nimmt die bereits ziemlich ausgedünnte Schlange der Läufer auf. Rechts schweift der Blick über den „Kleinen Brombachsee“, links über den „Großen“. Über den Grund, weshalb man die Wasserfläche des kleinen Stausees von der großen abtrennt, wie vorhin schon beim „Igelsbachsee“, kann ich nur spekulieren. Vermutlich hat es mit der Aufgabe dieser Gewässer zu tun, die man schuf, um den Wasserstand des nahen Main-Donau-Kanals zu regulieren.

Drüben angekommen geschieht mir Schikanöses: Ab nach rechts in Richtung „Wurmfortsatz“. Nach und nach begegnen mir nun die schnelleren Läufer. Auf einen von ihnen warte ich, allerdings wird es noch ein paar Minuten dauern. Ich bin gespannt, wie Roland sich schlägt. - Roland will gleich mir den Spartathlon laufen, hatte nach zunächst glänzenden Trainingsergebnissen nur leider das große Pech sich zu verletzen. Er ist heute hier, um seine letzte Chance zu nutzen und rechtzeitig fit zu werden. Klingt einfach und klar, ist es aber nicht. Denn die Verletzung ist noch nicht ausgeheilt. - Ein rotes Trikot … aber nicht das von Roland … Dann sehe ich ihn in Rufweite: „Wie läuft’s?“ - „Noch gut!“ antwortet er militärisch kurz. Dass er meint, was er sagt, bestätigt mir seine gut gelaunte Miene. Wir klatschen uns ab, dann ist jeder wieder mit sich und seinen Hoffnungen alleine …

Die Wende, kurz hinter der 12 km-Tafel, nehme ich in engem Zirkel und überlasse mich dabei aufkeimenden Erinnerungen. Vor Jahresfrist wartete ich hier an der Wende auf meine Frau Ines. Als Lauf-Geh-Duo teilten wir damals den Marathon unter uns auf. Ein ziemlich merkwürdiges, aus der Not geborenes Unternehmen: Ines trainierte für den Dresden Marathon und joggte übernahm die anfänglichen 32 Kilometer. Also die komplette Runde eins, anschließend zum zweiten Mal bis zur Wende. Hier tauschten wir: Transponder für mich, unsere Hündin Roxi für Ines. Die verbleibenden 10 Kilometer bis ins Ziel legte ich dann im Eilmarsch zurück. Es waren die letzten Tage meines drei Monate währenden Laufverbotes nach Verletzung. Schon damals legte ich (verbotenerweise) kurze, supervorsichtige Tippelabschnitte ein. Fühlte mich dabei gut und schöpfte Zuversicht der bevorstehende Restart ins Läuferdasein könnte gelingen …

Den ersten Durchgang „Blinddarm“ habe ich abgearbeitet, bin nun wieder am Ufer des „Großen Brombachsees“ unterwegs. Von dem ist allerdings nichts zu sehen. Einerseits weil der Weg für anderthalb Kilometern ein Waldgebiet durchquert. Zudem bin ich unter ergiebigem Regenschauer inzwischen doch brillen-sehbehindert. Ein bisschen genervt krame ich ein trockenes Papiertaschentuch aus meiner Gesäßtasche und verschaffe mir Durchblick. Gerade noch rechtzeitig, um einen ersten Blick auf den wohl hässlichsten, da einigermaßen steilen Buckel des Kurses zu riskieren. Mein Atem geht tiefer, die Herzfrequenz steigt - das schon - als ernsthafte Anstrengung empfinde ich den Hügel nicht …

Jemand keucht dicht hinter mir her. „Darth Vader“ lässt grüßen! Wieso ich es „raushören“ kann, weiß ich nicht, bin aber sicher, von weiblichem Röcheln verfolgt zu werden. Minute um Minute nun dieses Geräusch, immer im selben kurzen Abstand, halblinks hinter mir. Warum hängt „sie“ wie eine Klette an mir? Und: Wieso stört mich das? Woher diese Dünnhäutigkeit? Vor einiger Zeit hätte ich dergleichen womöglich nicht einmal wahrgenommen. Und wenn, wäre ich eher erfreut gewesen, dass mich jemand, meine Tempokonstanz gutheißend, zum Schrittmacher auserkoren hat. Warum ist das heute anders? - Antworten stellen sich nicht ein. Ich weiß nur ganz sicher, dass ich „sie“ nicht länger ertragen will. Also wähle Udo: Schneller oder langsamer, um die schnaubende Lunge loszuwerden? Es ist keine bewusste Entscheidung, irgendwas in mir macht sich selbständig und verschärft das Tempo. Zwei, drei Minuten, in denen „sie“ den Anschluss verliert, spüre ich, wie es wäre diesen Marathon in einer Zeit unter vier Stunden zu laufen.

Hinterm Wald zurück ans Seeufer, ein weiterer, diesmal ziemlich ausgedehnter Yachthafen kommt in Sicht und neuerlich Badestrände. Zu diesen recht jungen, der Freizeit gewidmeten Anlagen gehört sogar ein Dorf, unweit vom Ufer, auf einer Anhöhe. Anscheinend eine Ansiedlung, die bereits vor dem erst in den 1980er-Jahren entstandenen See existierte, und vom zwischenzeitlich blühenden Tourismus- und Freizeitbetrieb profitiert.

Das gibt’s doch nicht! Seit der Tränke unterhalb des Dorfes haftet die Klette neuerlich an mir. Wieder halblinks, ein, zwei Schritte in konstantem Abstand zurückhängend, dasselbe Röcheln. „Sie“ hat wohl nicht kapiert, wieso der Schrittmacher ihrer Wahl plötzlich losstürmte, saugt sich erneut an meinen Fersen fest. Diesmal reißt mein Geduldsfaden eher und ich zische davon. „Zischen“ ist nicht übertrieben. Versteige mich zu einem Tempo, das mir nicht bekommen wird. Egal! Für drei, vier Minuten spüre ich, wie es wäre diesen Marathon unter 3:45 h zu laufen … dann habe ich „sie“ endgültig abgehängt.

Ende der ersten Runde, meine Schritte messen wieder den Hauptdamm ab. Hat sich etwas verändert? - Der Himmel hat seine Schleusen einstweilen geschlossen, will aber von tief hängendem Grau nicht lassen. Meine Beine „melden sachlich“ schon über 21 Kilometer hinter sich zu haben, von Protest hingegen keine Spur. Die testosteron-induzierten Zwischensprints hinterließen mich eher gestärkt, denn angeschlagen. Vermutlich eine rein mentale Wirkung, weil mir die beiden „Fahrtspiele“ demonstrierten deutlich mehr drauf zu haben, als ich mir heute abfordere. Friede, Freude, Eierkuchen also? Leider nur beinahe. Das Tröten-Quartett ist noch da. Und wieder gewinnt das Böse Macht über mich, gibt mir schlimme Bilder ein. Bilder von vier Musikanten, die man in den Fluten des Brombachsees ertränkt, wie weiland ungeliebte Katzenbabys … Zum Glück kann ich laufen - dem Lärm davon laufen …

Die Laufgötter - nicht länger leugne ich ihre Existenz! - spielen ein böses Spiel mit mir! Am Ende des Hauptdamms gibt’s ein Wiedersehen mit dem Country-Mann. Und zu welchem Liedchen aus seinem sicher nicht kleinen Repertoire nötigt er gerade sein Keybord? - Yes, indeed! Einmal mehr dieses blöde „Jambalaya (On the Bayou)“! Weg von hier, bloß weg - I can’t stand it very longer …

So ungefähr muss sich ein verspäteter Wattwanderer fühlen, den die Flut einholt, überholt, zum Halse klettert, bis er schließlich, dem Ertrinken nahe, mit Schwimmbewegungen beginnt. Massenhaft Halbmarathonis rauschen an mir vorbei. So nahe vermag ich gar nicht zum Rand des breiten Weges auszuweichen, dass es einigen Ungestümen nicht doch gelänge noch „randseitiger“ zu überholen. Ein trunken vorbei trudelnder Schmetterling entschuldigt sich für den zugefügten Rempler. Immerhin, wenigstens bereut sie. Lieber wäre mir gewesen, sie hätte sich vorgesehen. Mehrere Kilometer geht das so, bis sich das Feld ausreichend in die Länge zieht. Wirklich zu Ende ist die Hatz jedoch erst auf halber Strecke im „Blinddarm“, hinter der eigens für Halbmarathonis eingerichteten Wende. Ab da sind wir Mara-Tonis (und Staffel-Tonis) wieder „entre nous“ …

Mein zweites Rendezvous mit der Marathonwende nach 32 Kilometern. Nur noch zehn Kilometer und es fühlt sich wirklich nicht an, als hätte ich drei Viertel eines Marathons bereits hinter mir. Während der 24 Stunden von Bernau zog’s in der linken, beim gestrigen Marathon in der rechten Hüfte. Heute weder auf der einen, noch der anderen Hüftseite. Vielleicht sollte ich morgen, Dienstag, Mittwoch, einfach an allen Tagen der kommenden Woche, weitere Marathons folgen lassen, um auch noch das letzte Knarren im orthopädischen Gebälk zu ersticken. Du merkst schon: Der hat jetzt große Klappe, ist gut drauf und wittert Morgenluft … Ich gebe es zu: Mit solcher Leichtigkeit heutigen Seins habe ich nicht gerechnet. Scheiß auf den Regen (der vor einer Weile wieder einsetzte)! Ich sehe die Sonne hinter den Wolken!

Das Imperium schlägt zurück! Drei Extrakilometer zwischen HM- und M-Wende haben den langsamen Marathoni hinter den noch langsameren Halbmarathonis in Angriffsposition gebracht. Und nun rollt er sie von hinten auf. Manch einer dreht müde den Kopf, zu sehen, wer sich da kecken Schrittes nähert. Doch gnadenlos sammelt er sie ein, Mann für Mann und Frau für Frau. Dass es für ihn um rein gar nichts geht, ist ihm egal. Er spielt jetzt einfach den „Wettkämpfer“, weil er Lust dazu hat. Oder um es mit gefühlvoller deutscher Poesie aus dem letzten Jahrtausend auszudrücken:

Ich mach Spaß, ich geb Gas!
Ich will Spaß, ich will Spaß!
Ich geb Gas, ich geb Gas! ...

Keine Bange, ich hebe jetzt nicht ab, verliere auch nicht den Verstand. Ich freue mich einfach nur „reinen Herzens“ über das Ausbleiben mannigfacher Beschwerden, die mir die Sache hätten verleiden können. Außerdem genieße ich die Lockerheit, in der ich den zweiten Marathon binnen nicht einmal 24 Stunden zu Ende bringe. Ich könnte das Tempo zum Finale hin sogar noch verschärfen. Nur, wozu? Hin und wieder angestellte Hochrechnungen führen auch so zu einem befriedigenden Ergebnis: Mutmaßlich werde ich unter 4:15 Stunden das Ziel erreichen. Beschwerdefrei und ohne mich zu verausgaben! Wie geil ist das denn?

Erst derselbe dunkle Wald, alsbald wieder derselbe, im Grunde trostlose Blick über den stahlgrauen Spiegel des Sees, dieselben Uferpromenaden und über allem dasselbe nass triefende Wetter wie beim ersten Umlauf - nur deutlich mehr Läufer in der Spur und mindestens einer von ihnen fühlt sich richtig, richtig gut … Als letzte Wasseransicht wieder der ach so aufgeräumt wirkende Kiefernwald. Schlanke, ungemein hohe, die Sicht zum Ufer kaum behindernde Stämme. Die lassen dich glauben sie trügen den Himmel. Erklären sich zur letzten Instanz, das feuchte, graue Wolkentuch vom Erdboden fern zu halten …

Endlich erreiche ich den Hauptdamm, biege diesmal nach rechts ab. Nach rechts oben, um genau zu sein … Was mich dort erwartet, weiß ich von meinem „Spaziergang“ im letzten Jahr: Ein herber Anstieg von vielleicht drei-, vierhundert Metern im Wald. Asphalt trägt die Füße - zunächst. Ihm folgt ein Stück Schotterweg, - 30 Meter? 50?, mit Abstand das mieseste Geläuf des Tages. Minutenlang rauf, wohl auch so, dass die Beine ein Ausrufezeichen setzen. Als wirklich steil jedoch empfinde ich den Abschnitt nicht. Derselbe, wie vor einem Jahr. Also gibt es zwei Alternativen: Entweder narrt mich meine Erinnerung oder die um Jahresfrist versetzten Empfindungen divergieren infolge veränderter Ausdauersituation.

Der Buckel lässt mich spüren, wie frisch ich noch bin. Und sehen kann ich es auch, weil die meisten anderen die Steigung gehend bewältigen. Dann bin ich oben und tippele wieder auf Asphalt. Der breite Radweg führt durch dichten Forst schnurstracks Richtung Pleinfeld. Und das mit angenehmem Gefälle. Also noch ein bisschen Gas geben! … Stopp! Was soll der Unfug? Wozu das Tempo verschärfen? Was bringt dir das? 40 Kilometer mit Bravour überstanden und nun auf den letzten Metern orthopädisches Harakiri? - Ich mäßige meine Schritte, will nichts riskieren. - Voraus ein Krankenwagen … Ein Krankenwagen? Hier auf dem Radweg? … Renne vorbei und erhasche mit raschem Seitenblick das Bild einer am Boden sitzenden, jungen Frau. Man hat ihr eine Decke um die Schultern gelegt und spricht mit ihr … „Alles gut“ signalisiert das zaghafte Lächeln auf ihrem Gesicht … Und weiter … Eine halbe Minute später blitzt Blaulicht durch die Bäume, keine hundert Meter voraus … Noch ein Rotkreuzfahrzeug! Auf dem Weg zur verletzten Läuferin gestrandet? - Nicht zu fassen: Ein zweites Opfer liegt angeschnallt und zugedeckt auf einer Bahre … Augen aber auf … hat sich wohl übernommen …

Wie bitter muss das sein, so kurz vorm Ziel vom eigenen Körper disqualifiziert zu werden? - Noch ein paar Meter, dann bleibt der Wald zurück und mein suchender Blick findet das Ziel am Ortseingang von Pleinfeld. Auf die Straße und ohne Tempokapriolen dem Finish entgegen. Erfüllt von einer in dieser Weise nie empfundenen Mixtur aus Gefühlen biege ich auf den Festplatz ab und quere unter Beifall die Ziellinie …

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Erst im Nachhinein vermag ich aufzudröseln, was mich in diesen Minuten bewegt: Zufriedenheit natürlich, wie fast jedes Mal auf den letzten Metern eines Marathons. Sicher auch Dankbarkeit - gegen wen oder was auch immer -, dass ich mein ohne Zweifel brutales Vorbereitungsprogramm wie vorgesehen absolvieren durfte. Daneben Glücksgefühle, da ausgerechnet der letzte Vorbereitungswettkampf ohne Mucken von Sehnen und Gelenken endet. In diesen Minuten fühle ich mich der bevorstehenden Aufgabe gewachsen, bin sicher am 1. Oktober 2016 „König Leonidas“ Füße in Sparta zu berühren und damit den „Spartathlon“ erfolgreich zu finishen …

Ergebnis: 4:12:30 h, Platz 136 von 199 Teilnehmern, Platz 2 von 7 in M60

 

Fazit zum Wettkampf

Kurzweilige, landschaftlich reizvolle Strecke mit nur wenigen Steigungen. Viel Natur, wenn einen nicht stört, dass sie überwiegend aus Menschenhand stammt. Der Brombachsee und seine Ableger, samt aller Freizeitanlagen existieren erst seit ein paar Jahrzehnten. Die 2 km Wendestrecke, zumal zweimal zu durchlaufen, ist nicht jedermanns Sache. Andererseits gibt sie Gelegenheit andere Läufer auch mal von vorne zu sehen und Lauffreunde, die ebenfalls unterwegs sind, zu grüßen oder anzufeuern.

Organisation und Versorgung sind in jeder Hinsicht zu loben. Einziger Wermutstropfen: Das für einen Landschaftslauf gepfefferte Startgeld.

Fazit: Muss nicht, bei Bedarf aber gerne wieder!

 

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