Samstag, 17. September 2016

Marathon-Double Teil eins:

Liegt was im Argen?   -   Bodensee Marathon 2016

Sechs Tage „Wundenlecken“ liegen hinter mir. Die „24 Stunden von Bernau“ hatten mich orthopädisch viel härter angefasst als erwartet. Hüfte links, beide Knie, Fußgewölbe rechts, um nur die Zonen eindeutigen Überlastmeckerns aufzuzählen. Am Tag nach den 24 Stunden machte ich mir ernstlich Sorgen, ich könnte den Bogen überspannt haben. Doch schon nach montäglichem „Power-Sauneering“* entspannte sich die „Lage“ erheblich und am Dienstagmorgen kehrte Zuversicht zurück. Darüber hinaus setzte ich Kältepacks ein, machte Umschläge am Knie mit „Retterspitztinktur“ und reduzierte den Wochenumfang kurzerhand von geplanten 150 auf maximal 120 Trainingskilometer.

*) Den Begriff „Power-Sauneering“ lasse ich absichtlich ohne Erläuterung stehen, um niemanden zum falschen Gebrauch der segensreichen finnischen Sauna zu verführen. Dass mir „Power-Sauneering“ extrem gut hilft und eben nicht schadet, ist Ergebnis eines bereits über 40 Jahre währenden Sauna-Selbstversuches und nicht ohne weiteres von anderen humanoiden Existenzen anwendbar.

Die komplette Woche über war ich unschlüssig, ob es nützen würde, das für dieses Wochenende geplante Marathon-Double „durchzuziehen“. Ob es nicht eher das Ausheilen der Blessuren vom 24-Stundenlauf verzögern oder gar noch tiefere „Kerben“ schlagen könnte. Mit einem Rest dieser Unsicherheit fuhr ich hierher, auch wenn ich mich dem heutigen Marathon auf jeden Fall gewachsen fühle. Ich werde ihn jedoch verhalten angehen, mit einer Pace von ungefähr 6 min/km. Es geht mir um nichts anderes als einen „langen Lauf“ von mehr als 40 Kilometern abzuspulen! Ob ich das morgen wiederhole werde, mache ich von der Reaktion meines Körpers auf die heutigen 42,195 Kilometer abhängig.

Zwei Runden sind zu laufen: Start um 12 Uhr in Kressbronn am Bodensee. Über Straßen und asphaltierte Feldwege zunächst „landeinwärts“, am Fuß eines Weinberges entlang, gelegentlich mit leichter Steigung und inmitten von Obstplantagen. Apfel- und Birnbäume, sowie Himbeer- und Johannisbeersträucher konnte ich erkennen, sicher wachsen hier auch noch andere Früchte. Nach ungefähr 5 km erreicht man das Ufer des Flüsschens Argen. Etwa einen halben Kilometer flussaufwärts, dann per Straßenbrücke auf die andere Seite zum Westufer des Argen. Dort dem minimal abfallenden Uferweg für etwas mehr als 6 Kilometer in Richtung Bodensee folgen. Vom Bodensee selbst sieht man nur einmal für Sekunden einen winzigen Ausschnitt: Beim Überqueren einer Fußgängerbrücke, die einen auf die ursprüngliche Flussseite zurück bringt, nach Süden über die stückweit entfernte Mündung des Argen hinaus blickend. Nun wieder flussaufwärts, stets in Ufernähe und wie drüben meist unter Bäumen. Auf dem Herweg zurück nach Kressbronn, wieder von rotbackigen Äpfeln angelacht. Im Start-/Zielbereich wird die Zeit des ersten Halbmarathons gemessen, dann beginnt der zweite, identische Umlauf …

Ich kenne die Strecke aus dem Jahr 2006, als ich hier Ines beim Halbmarathon begleitete. Damals hatte man für die Marathonis eine abweichende zweite Runde in angrenzenden Waldgebieten markiert. Als Marathoni zwei gleiche Runden laufen zu müssen ist aber nicht die einzige Änderung gegenüber damals. Die Halbmarathonis starten eine Stunde später, was mir allerdings erst mitten im Wettkampf bewusst werden wird …

Doch nun sollte ich erst einmal loslaufen, um dich nicht zu verwirren: Ziemlich überschaubar präsentiert sich das Häuflein der Marathonis und Marathon-Staffelläufer auf der Kressbronner Hauptstraße als es um 12 Uhr endlich losgeht. Leichte Steigung aufwärts, rechts in eine Nebenstraße und dann in Richtung Ortsausgang und Obstplantagen … Ich schieße unentwegt Fotos und freue mich maßlos darüber, dass der für diesen Tag angedrohte ergiebige Regen ausbleibt. Unfassbar, dass sich sogar erstes Himmelblau zwischen grauen Wolken zeigt, sie mehr und mehr verdrängt.

Ich sehe Außenansichten, setze sie in Fotos und Erinnerungen um, wirklich fokussiert bin ich allerdings nur auf zweierlei: Tempo halten und jeden „Pieps“ aus meiner „orthopädischen Abteilung“ registrieren. Nicht nur registrieren, sondern auch gleich bewerten. Zwischen justiertem Tempo und „Piepsen“ meiner Sehnen und Gelenke besteht natürlich ein enger Zusammenhang. Darum bin ich entschlossen mich mit einer Endzeit um die 4:15 h zu bescheiden. Das ist einerseits fordernd genug, um den gewünschten Trainingseffekt zu erreichen; sollte andererseits meinen vom 24-Stundenlauf durch die Mangel gedrehten Bewegungsapparat nicht neuerlich überlasten. Zumindest unterstelle und hoffe ich das und horche entsprechend gespannt in mich rein …

Der Argen schäumt nach ergiebigen Regenfällen hellbraun und mit enorm viel Wasser dem Bodensee entgegen. Jedes Rauschen kündet von einem der vielen Wehre. Häufig wird der Blick zum Fluss vom Auwald eingeschränkt oder gänzlich verwehrt. An verwaisten Bade- und Grillplätzen komme ich vorbei und manchmal lassen Schneisen auch den Blick nach Westen in die vom Fluss abgewandte Richtung zu. Was es da zu sehen gibt? - Na klar: Obstplantagen. Und einen Himmel, der immer weiter aufreißt, bis mich die bisher sporadisch hernieder blinzelnde Sonne dauerhaft mit wohliger Wärme umfängt, wo die Bäume es zulassen. Unglaublich! Wer hätte angesichts der immer noch akuten Wetterwarnung vor Starkregen mit so einem Himmel gerechnet?

Es zwickt mal hier, dann wieder dort. Ein bisschen. Im Großen und Ganzen kooperiert mein Laufapparat, toleriert das Tempo von knapp unter 6 min/km. Ich orientiere mich an den Kilometertafeln und am wenige Meter vor mir her trabenden „Pacemaker 4:15“. Eine ganze Weile „missbrauche“ ich ihn samt seines einzigen „Kunden“ als Modelduo für meine Fotos. Bis ich irgendwann merke, dass die beiden ein unstetes Tempo vorlegen. Vielleicht stört ihr Dauergespräch des Hasen Konzentration!? Gegenwärtig trödeln sie mal wieder, so dass ich wie in Zeitlupe vorbei ziehe und ein paar Meter Vorsprung gewinne.

Eine fotogene Brücke kommt in Sicht, Relikt aus „glorreichen“ Zeiten des Deutschen Reiches. „Erbaut unter König Wilhelm II. 1896/97“ steht auf einem der Pfeiler. Das „unter“ klingt mir - Staatsbürger in parlamentarischer Demokratie - sofort unangenehm im inneren Ohr. Erst später werde ich mich allerdings fragen, wieso dort „König“ Wilhelm steht und nicht „Kaiser“. Dann werde ich mutmaßen … ach nö, das ufert aus und so kurz vorm „Spartathlon“ habe ich keinen Kopf für deutsche Geschichte. Ausnahmsweise nehme ich mir mal nicht die Zeit den Sachverhalt aufzuklären …

Weiter zur nächsten Brücke. Die ist allgemein Fußgängern vorbehalten und bringt einmal im Jahr die Läufer des Bodensee Marathons zurück auf die Kressbronner Uferseite. Also entern und rüber. Wie erwartet beginnt sie heftig zu schwingen, noch bevor ich den höchsten Punkt des Brückenbogens erreiche. An das seltsame Gefühl des beim Laufen auf und nieder wippenden Bodens erinnere ich mich lebhaft, auch wenn es schon 10 Jahre her ist. Kurz stehenbleiben und zwei Fotos vom Bodensee mitnehmen. Leider sieht vom sonst so beeindruckenden See-Berg-Panorama hinter der etwa einen halben Kilometer entfernten Mündung des Argen nur ein schmales Segment.

Am anderen Ufer bis auf weiteres beständig aber sachte aufwärts. In Höhe der zahlreichen Wehre jeweils kurz mit etwas heftigerer Steigung. 11 Kilometer liegen hinter mir und ich spüre „orthopädisch“ - wie zu diesem frühen Zeitpunkt erwartet - nichts. Es fällt mir auch leicht das gewählte Tempo zu halten, was mich nicht Wunder nimmt. Immerhin habe ich in dieser Woche nur schlappe 30 Kilometer trainiert. Wegstrecke, die eher dazu diente, den gestressten Beinapparat wieder in die Gänge zu bekommen - also eher „Bewegungstherapie“ als leistungsorientiertes Training …

Nach biologisch feuchter Pause und gelegentlichem Fotografieren gingen Pacemaker und „Kunde“ wieder in Führung. Mit einigem Abstand folge ich beiden und gebe mich einem lang nicht mehr erlebten Effekt hin: Kilometertafeln, die in sagenhaft kurzen Abständen - gefühlt im Minutentakt - vorbei „rauschen“ … Kilometer 13, alsbald 14 … Drüben, am gegenüber liegenden Ufer, eilen zwei Tempomacher ihrer mehrköpfigen Gruppe voraus. Dabei kann es sich nur um eine Fraktion der Spitzengruppe des inzwischen gestarteten Halbmarathons handeln … 15 Kilometer erreicht und ich erwarte in Kürze den Rechtsschwenk zurück nach Kressbronn … Auf „Heimkehrkurs“ besichtige ich einmal mehr den örtlichen Obstanbau, kann da und dort Erntehelfern bei der Arbeit zusehen. Diesmal jedoch von der Hauptstreitmacht mir entgegen flutender Halbmarathonis abgelenkt.

Zurück im Ortskern erwartet mich eine erkleckliche Zuschauermenge. Unter deren lebhaftem Beifall starte ich nach ungefähr 2:05 h für den ersten Halbmarathon zur zweiten Runde. Diesmal spüre ich die mäßige Steigung auf den Straßen des Ortes bis hinaus zu den Obstplantagen bereits intensiver. Zu bremsen vermag sie mich allerdings nicht im Mindesten.

Noch immer gilt mein Hauptaugenmerk der inneren Sensorik. Äußere Eindrücke lege ich quasi im biologischen Speicher meines „Hirnkastens“ ab. Im digitalen der Kamera häuft sich Gepixeltes, um die spätere Verarbeitung und Auswertung zu erleichtern. Derart egozentriert verfolge ich jede Phase des langsam sich aufbauenden Ziehens in der Hüfte. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass ich dieses Ziehen als Empfindung willkommen heiße. Als Bestätigung mehrfach gestellter, stets übereinstimmender „Selbstdiagnosen“ begrüße ich es allerdings. Und geradezu schnurz ist es mir, weil es heute in der rechten Hüfte ziept und nicht etwa - was mich eher alarmieren würde - links. Die linke Hüfte war nach dem 24-Stundenlaufs angeschlagen, rechts spürte ich vor Wochenfrist nullkommanull. Interessiert dich des Rätsels orthopädische Lösung? - Diese und ähnliche Beschwerden entstehen nicht dort, wo ich sie spüre, sondern in meinen tatsächlich neuralgischen Zonen: Mal foppt mich die Lendenwirbelsäule, dann wieder spinnen die Illiosakralgelenke.

Wie geht man mit solchem „Störfeuer“ um? - So lange es nicht an Intensität zulegt, mit nicht mehr als einem nervigen „Muckern“ an sich erinnert, halte ich es einfach aus. Wissend, dass der Kobold von seinem Unfug bald wieder lassen und sich zur Ruhe begeben wird …

Einmal mehr arbeite ich flussabwärts die Uferkilometer am Argen ab. Schieße hie und da ein ergänzendes Foto in der Bewegung. Dem „königlichen Brückenmonument“ widme ich ein paar Megapixel mehr, um die schönste Perspektive des Bauwerks einzufangen. Minuten später setze ich zum zweiten Mal über die schwingende, von unten her „auskeilende“ Brücke, erneut mit Blick und Fotoshooting gen Bodensee. Die tiefdunklen Wolken jenseits der großen Pfütze, vermutlich an alpinen Höhen hängend, bleiben mir nicht verborgen. Auch über dem Wettkampfgeschehen hat sich die Wolkendecke wieder geschlossen, verspricht mir aber augenzwinkernd Trockenheit bis ins Ziel.

In diesem Moment laufe ich auf Kilometer 33 zu, bin tatsächlich bereits über drei Stunden unterwegs. Nur kommt es mir nicht so vor. ‚Wie kurz so ein Marathon ist!’ - Ein spontaner, aus Verblüffung geborener und nie zuvor formulierter Gedanke. Mache ich mich mit ihm einer Art „Gotteslästerung“ schuldig? - Zwar war mir alles Übersinnliche Zeit Lebens fremd, doch vier Fünftel im Scherz gestehe ich mir ein, dass die Götter des Laufsports zu erzürnen in meiner Situation so ziemlich das Dümmste wäre, dessen ich mich erdreisten könnte: Olympia liegt in Griechenland. Marathon liegt in Griechenland. Die Wiege des Laufsports steht in Griechenland. Der Spartathlon findet in Griechenland statt … Ihr Götter des Olymps - bitte schenkt mir weiterhin eure Gunst!

‚Wie kurz so ein Marathon ist!’ - Oder entspringt dieser Impuls etwa wachsender Arroganz des austrainierten Ultras gegenüber „normalen“ Marathonis? Es ist als hätte dieser Gedanke meine persönliche „Büchse der Pandora“ einen Spalt breit geöffnet: Wenn jene „normal“ sind, die ich seit einer Weile einen nach dem anderen einsammle, weil sie heftig mit der Distanz kämpfen und schwächer werden, bin ich es folglich nicht mehr? Sie geben alles, enden in völliger Erschöpfung und werden überwiegend in diesem Jahr keinen weiteren Marathon mehr angehen. Völlig „normal“. Dagegen habe ich die Absicht und ausreichend „Puste“ morgen früh den nächsten Marathon zu laufen; im selben Tempo, wenn es nötig wäre vermutlich auch schneller. Ist das also nicht mehr „normal“? - „Normal“ kommt von „Norm“. Gibt es Normen in diesem Zusammenhang? Wenn schon keine verbindlichen, dann vielleicht solche, auf die sich die Läufergemeinde allgemein stützt? Ich meine: Nein! Ausdauer ist - einen robusten Körper vorausgesetzt - lediglich eine Frage methodisch richtigen Trainings. Je mehr und zielgerichteter jemand trainiert, umso mehr Ausdauer erwirbt sein Körper.

Der Marathon war immer meine Lieblingsstrecke, deren Anforderungen ich nie unterschätzte. Augenblicklich kann ich mehrere davon in Serie laufen. Meinem Respekt für Strecke und andere Läufer, wie auch der Achtung vor kürzeren Strecken und jenen, die sie bevorzugen, tut das keinen Abbruch. Und doch freue ich mich darüber, wie leicht es mir fällt, dem „Hammermann“ eine lange Nase zu drehen und flott dem Marathonziel entgegen zu traben …

Letzte Inspektion von Apfel- und Birnenernte, dann und wann Beifall von Helfern und ein paar Zuschauern einheimsen, mit angedeuteten Gesten dafür danken … Das Ziehen in der rechten Hüfte fühlt sich belanglos an. Noch mehr Bedeutung messe ich der Tatsache bei, dass von den nach dem 24-Stundenlauf eröffneten „orthopädischen Baustellen“ überhaupt kein Unmut ausgeht. Stillschweigend erdulden sie, was ich ihnen zumute, was ich in dieser Absolutheit nun wirklich nicht erwartet habe. Also fällt eine positive Entscheidung: Ich sehe - besser: Ich spüre keinen Grund auf den morgigen Marathonstart zu verzichten!

Meine Stimmung war zu Beginn verhalten, was ich der Ungewissheit zuschreibe. Mit jedem Kilometer entwickelte sich dieser Lauf mehr zum „Attest“ auf dem richtigen Weg zu sein. Zudem - als wollte sie es unterstreichen - wärmte mich unerwartet die Sonne. Entsprechend gut gelaunt halte ich auf das Ziel zu und hole mir nach 4:10:28 h meinen 177. Marathonsieg …

Ergebnis: 4:10:28 h, Platz 57 von 101 Teilnehmern, Platz 3 in M60

 

Fazit zum Wettkampf

Spektakuläres gibt es in Kressbronn und auf der Marathonstrecke des Bodensee Marathons nicht zu sehen. Dennoch mangelt es den Kilometern inmitten von Obstanbau und entlang des Flüsschens Argen nicht an optischen Reizen. Weitestgehend von Menschenhand kultivierte Natur zwar, aber immerhin Natur. Die Namensgebung des Laufs ist irreführend, suggeriert sie doch eine Strecke mit Blick zum Bodensee. Der ist jedoch auf jeder der beiden Runden nur einmal, für ein paar Sekunden und auch nur in relativer Ferne hinter der Mündung des Argen zu sehen.

Die Organisation verlief reibungslos. Die Verpflegung auf der Strecke war angemessen, diejenige im Ziel dagegen ärmlich. Ein bisschen Obst, mehr nicht. Das wog umso schwerer, als ich nach dem Duschen keinen Kuchen mehr vom anfänglich prall gefüllten Buffet bekommen konnte. Auch die anderen angebotenen, deftigen Speisen waren aus. Gefrässige Raupen in Form von Ortsansässigen und Halbmarathonis hatten alle Vorräte vertilgt. Da diese Veranstaltung nicht zum ersten Mal stattfand, muss man hinsichtlich der mangelhaften Versorgung mit Wiederholung rechnen. Marathonis/Halbmarathonis mit bescheidenen Zielzeiten sollten daher ihre Zielverpflegung mitbringen!

Fazit: Muss nicht, doch wenn’s mir reinpasst laufe ich gerne mal wieder in Kressbronn.

 

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