Samstag, 30. Juli 2016

Angst essen Seele auf   -   Chiemgauer 100 Ultratrail

Aus Wikipedia: „Der Ausdruck Seele hat vielfältige Bedeutungen, (…) Im heutigen Sprachgebrauch ist oft die Gesamtheit aller Gefühlsregungen und geistigen Vorgänge beim Menschen gemeint. (…) „Seele“ kann aber auch ein Prinzip bezeichnen, von dem angenommen wird, dass es diesen Regungen und Vorgängen zugrunde liegt, sie ordnet und auch körperliche Vorgänge herbeiführt oder beeinflusst.“

Wenngleich sich Verhalten und Motive von Läufern in mancherlei Hinsicht decken, darf man dennoch davon ausgehen, dass ihre individuellen Einstellungen zum und die Erwartungen an den Laufsport eine große Bandbreite besetzen. In diesem Sinne besitzt jede Läuferseele unverwechselbaren Wiedererkennungswert. Die ihr innewohnenden Prinzipien bestimmen rundweg alles rund ums Laufen: Grad des Ehrgeizes, Trainingsumfang, bevorzugte Distanzen, Teilnahme an offiziellen Läufen (oder auch nicht), welche Laufveranstaltung infrage kommt und welche unbeachtet bleibt, wie ein Lauferlebnis empfunden wird und wie eine bestimmte Laufstrecke … - um nur ein paar Gesichtspunkte aufzuzählen.

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Läuferisch habe ich einiges auf dem Kerbholz, das selbst mir - rückblickend - als grenzwertig, manchmal sogar ein bisschen fragwürdig erscheint. Nicht selten verursachte mir ein bevorstehender Wettkampf „Herzklopfen“, ab und an sogar über übliches (gesundes!) Lampenfieber hinaus. Freunden und Bekannten gegenüber flüchte ich mich in solchen Fällen gerne in die Formulierung „Ich habe die Hosen voll!“ - Vor dem heutigen „Chiemgauer 100“ war und ist das anders: Diesmal empfinde ich Angst. Bedenken wäre zu schwach und Panik übertrieben formuliert. Eben genau die Empfindung dazwischen: Angst!

Um was geht es? - Der „Chiemgauer 100“ bezeichnet eine Laufveranstaltung mit grundsätzlich zwei Optionen: 100 Meilen oder 100 Kilometer. Für mich standen natürlich nur die 100 Kilometer im Raum, denn schon die fordern sage und schreibe 4.500 Höhenmeter. Erschwert wird das erfolgreiche Finish durch „sportliche“ Cut-off-Zeiten, die einen guten Trainingsstand voraussetzen. Um generelles Scheitern und nutzloses Verpuffen stundenlanger Mühen zu verhindern, gibt es Verkürzungsoptionen: Für uns 100 Kilometer-Aspiranten auf 80 km.

Doch selbst entlang dieser 80 Kilometer-Variante, die den finalen Anstieg umgeht, sammelt man noch etwa 3.400 Höhenmeter. Horizontale und vertikale Herausforderungen liegen meiner Furcht jedoch nur indirekt zugrunde. Ursache meines Kleinmuts sind die Trails, die vierzig Prozent der Strecke ausmachen. Und ich weiß - oder glaube es zumindest zu wissen -, wie Trails im Gebirge beschaffen sind. Ohne schon jetzt ins Detail zu gehen: Abertausende Stellen bergen das Risiko einen infolge Stolperns oder Abrutschens zu Fall zu bringen. Um genau zu sein: Ich fürchte nicht den Sturz an sich, sondern die dadurch drohende Verletzung. Besonders in diesem Jahr, weil es das Ende meines Traums, des Starts beim „Spartathlon“, bedeuten könnte.

Trotzdem stehe ich kurz vor fünf Uhr morgens in der Schar entschlossener Trailultras. Entschlossen bin ich auch! Vor allem anderen aber dazu nicht auf die Schnauze zu fliegen! Alles, nur das nicht! Heute würde ich mir sogar verzeihen aufzugeben oder nach Cut-off-Überschreitung als „DNF-Delinquent“ ins Klassement des Jahres 2016 einzugehen. Auch in jeder nur denkbaren Form zu leiden bin ich bereit. Nur bitte nicht stürzen! - Im Halbdunkel der beleuchteten Tartanbahn des Waldstadions in Ruhpolding suche ich nach Ramin. Wir lernten uns beim „Borderland Ultra (111 km)“ vor ein paar Wochen kennen und gestern bei Pasta und Einweisung traf ich ihn wieder. Ich schlängele mich zwischen Ultras hindurch und wünsche Ramin einen guten Lauf. Ein bisschen „nackt“ sieht er aus, zwischen all den schwer bepackten „Einzelkämpfern“. Er hat so gut wie nichts dabei und auch kein Drop bag geschnürt. Ramin will das „Ding“ so rasch wie möglich zu Ende bringen und mit dem auskommen, was ihm an Versorgung unterwegs geboten wird.

Hatte ich nicht zuletzt gemault zum „Packesel“ zu verkommen? - So umfangreich wie heute war meine Ausrüstung noch nie: Trinkrucksack mit zwei Flaschen; im Rucksack: Regenjacke, Mütze, Halstuch, Handschuhe, Basecap, Verbandspäckchen, Pflaster, Handy, Papiertaschentücher, Gel und Kartenmaterial. Die lange Liste ist nicht nur Ausdruck meiner Furcht vor diesem Lauf. Sie trägt auch mehreren Jahrzehnten Erfahrung in den Bergen Rechnung. Erfahrung, die ich vor meiner „Laufkarriere“ als sportlicher Bergwanderer sammelte. Darin finden sich Erinnerungen an Wetterstürze mitten aus einladend heiterem Bergwetter heraus. Auch Erinnerungen an vor Kälte absterbende Finger, die noch Minuten vorher schweißnass vor Hitze waren. Vielleicht übertreibe ich es mit der Vorsorge, denn immerhin werde ich deutlich unter der 2.000 Meter Höhenmarke bleiben. Andererseits: Mütze und Handschuhe wiegen so gut wie nichts …

In Intervallen und leidenschaftslos (man bedenke die frühe Uhrzeit) wird uns die verbleibende Zeit angesagt: „Noch 3 Minuten!“ - irgendwann sind es nur noch ein paar Sekunden. Furcht spüre ich keine mehr. Entweder, weil ich noch gar nicht richtig wach bin. Wahrscheinlich jedoch, weil ich es nun endlich angehen kann. Und los! Ich schalte die alte Stirnlampe ein (die neue steckt im Drop bag, das ich zu Kilometer 55 vorausgeschickt habe). Es dämmert zwar bereits, doch gleich hinterm Stadion, auf dem Damm der Traun, lauern im noch stockdunklen Wald ein paar Wurzeln. Nach etwas mehr als 26 Kilometern werden wir wieder durchs Stadion laufen - Gelegenheit die alte „Laterne“ im Auto zu deponieren. In den ersten Minuten empfinde ich überhaupt nichts. Weder Lust noch Unlust. Seit 3:45 Uhr arbeite ich einigermaßen „seelenlos“ die vorbedachte Checkliste ab: Wecksignal wahrnehmen - Anziehen - Frühstück reinpressen - zum Stadion fahren - Drop bag abgeben - noch einen Kaffee trinken - Startzeit abwarten - Loslaufen und jetzt: Wurzeln erkennen und ihnen ausweichen …

Mit Kurswechsel nach Osten beginne ich ein wenig zu leben. Überm Horizont der Hügelkette vor uns schimmert rosa die Verheißung eines strahlenden Sonnenaufgangs. Wunderschön der Farbverlauf von hell- über dunkelrosa nach violett … Das Geläuf gibt sich nun harmlos: Fein geschotterte, feste Wege oder Asphalt. Den Markierungen zu folgen erweist sich als Kinderspiel. Ich hoffe das bleibt so und das Kartenmaterial unbenutzt im Rucksack! Stoisch wie ein alter Gaul trabe ich vor mich hin. Tempo? Keine Ahnung. Ich überlasse es dem Gefühl, wild entschlossen kein einziges Mal zu kontrollieren mit welcher Pace ich unterwegs bin. Alles, was mich unter Druck setzen könnte, werde ich unterlassen! Druck erzeugt Eile und Eile geht zu Lasten der Aufmerksamkeit ... „Nicht-Stürzen“ ist erste Läuferpflicht!

Das Asphaltsträßchen gewinnt moderat an Höhe. Nach und nach entfernen sich die Grüppchen vor mir, andere überholen. Nur zu. Wahrscheinlich seid ihr nach exaktem Tapering alle auf den Punkt vorbereitet. Für mich - und hieraus rekrutiert sich diesmal das Fragwürdige - ist der „Chiemgauer 100“ wieder nur Training. Letztes Wochenende das Ultra-und-Marathon-Double und in der vergangenen Woche weitere 40 Trainingskilometer. Zuletzt gönnte ich meinem Körper zwei lauffreie Tage. Reicht diese minimale Regeneration, um heute zu bestehen?

Hell genug, um die Lampe endlich auszuschalten. Rucksack ab, Lampe verstauen, Rucksack wieder um - alles in verhaltenem Trab. Wo harmloses Geläuf es zulässt, genieße ich den Anblick des erwachenden Tages. In Richtung Alpenhauptkamm hängen Wolkenreste über den Gipfeln, die sich nun intensiv rot färben. Die Berge darunter liegen noch im Halbdunkel, über Talwiesen schwebt eine dünne Nebelschicht. Mit meinen fotografischen Ergebnissen bin ich nur bedingt zufrieden. Gelingt es mir die Farbenpracht des Himmels richtig belichtet einzufangen, bleibt alles Erdnahe dunkel und ohne Kontrast. Erkennt man die Umgebung, bildet sich der Himmel lediglich als helle Fläche ab. Nur das menschliche Auge vermag die morgendlichen Helligkeitsdifferenzen befriedigend auszugleichen.

Heute winkt mir das Glück! Nach einer Stunde Laufzeit und etwa neun zurückgelegten Kilometern geht die Sonne auf! Glück in doppelter Hinsicht. Nicht zum ersten Mal in diesem Jahr zu früher Stunde auf den Beinen, wurde ich jedes Mal von schnöden Wolken um das grandiose Schauspiel betrogen. Auch heute braucht es eine glückliche Fügung: Zur richtigen Zeit am rechten Ort. Keine Minute bevor der wunderbarste aller Sterne über die Bergflanke blinzelt, entließ mich dichter Wald auf diesen Wiesenweg. Und eine weitere Minute später tauche ich neuerlich zwischen Bäumen unter. Die Sonne! Viele werden ihre aufsteigende Bahn mit gemischten Gefühlen verfolgen. Ich dagegen würde sie vor Freude umarmen, wenn ich denn könnte. Gleichgültig, wie sehr sie mich heute noch „entsaften“ wird … Ein warmer, sonniger Tag kündigt sich an. Mein Wetter! Und so nehme ich diesen herrlichen Sonnenaufgang als Versprechen mit auf den Weg: Alles wird gut ausgehen!

Spontanes Erkennen der Notwendigkeit und Ausführung trennen nur Sekunden: Es ist so weit! In kurzem steilem Anstieg gehe ich. Begehe mit Vorsatz einen Verstoß gegen eines der mir heiligen Prinzipien: Laufen, so lange Kraft und Willen dafür ausreichen! Gehen erst, wenn Laufen nicht mehr möglich ist! Außerhalb dieser Haut, die alle Körperzellen des Individuums Udo umschließt, vermag niemand zu ermessen, wie über alle Maßen schwer mir solches Handeln fällt. Und hätte sich nicht diese Sch…angst in meine Läuferseele verbissen, ich handelte wider alle Vernunft und rannte, rannte, rannte … bis es eben nicht mehr geht. Auch wenn ich weiß, dass 4.500 Höhenmeter ohne ausreichendes Bergtraining unmöglich laufend zu bewältigen sind. Und ich habe seit acht Wochen (!) kein adäquates Bergtraining mehr zu verzeichnen … Und selbst wenn: Das heute zu bewältigende Terrain wird häufig genug auch die Ausdauerstärksten zum Gehen zwingen. - Der Sündenfall dauerte nur Sekunden, dann jogge ich wieder. Wie es scheint, habe ich meine Seele vorab ausreichend lange und intensiv massiert, denn kein Empfinden von Reue attackiert die Einsicht: ‚Das war nötig, du wirst deine Kraft noch brauchen!’

Die anfängliche Dramaturgie des „Chiemgauer 100“ findet schon mal meine Zustimmung: Bereits mehr als 10 Kilometer liegen hinter mir und die waren technisch anspruchslos. So recht zum Aufwachen und „Reinrollen“. Nach 13 Kilometern allerdings endet das sorglose „Streunen“ schlagartig. Es beginnt, was Stunden später, in der Umkleide, einer der jüngeren Teilnehmer als „schön trailen“ bezeichnen wird: Ein schmaler Pfad öffnet sich vor mir im Wald. Was ich mangels detaillierter Streckenkenntnis in diesem Moment noch nicht weiß: Er wird sich über vier Kilometer hinziehen und mich ungefähr eine Dreiviertelstunde (!) beschäftigen.

Eine „Pace“ von nur etwa 11 min pro Kilometer deutet „gewisse Schwierigkeiten“ an. Am wenigsten hält mich noch die Steigung auf, die sich auf etwa 200 Höhenmeter summiert. Felsgärten, Wurzelparcours und glitschige Wegstücke sind Ausdrücke, die die Hindernisse genauer beschreiben, allerdings nicht wirklich vorstellbar für alpin unerfahrene Leser. Darum plastischer: Manchmal muss ich die Hände zu Hilfe nehmen, mich an Bäumen abstützen, die Finger in Felsvorsprünge krallen, auch mal ein zur Sicherung angebrachtes Stahlseil packen. Angesichts häufiger Kombinationen von erdigen Tritten, Wurzeln und Felsbrocken, die schon einzeln keinen verlässlichen Halt gewähren, erhöht sich meine Herzfrequenz um Dekaden. Jeder Zentimeter dieses Pfades im Wald ist feucht und rutschig vom vielen Regen der letzten Zeit. Wo immer möglich tippele ich langsam voran. So konzentriert und aufs Geläuf fokussiert wie noch nie in meinem Läuferleben! Das tätest du auch - also vielleicht nicht hier tippeln, aber aufpassen wie ein Luchs! Denn solltest du straucheln, wirst du fallen. Vielleicht ins Bodenlose, vier, fünf, sechs Meter tief. Vielfach hat die Pfadspur nur die Breite zweier Hände, daneben gähnt der Abgrund. Wieder und wieder fordern Fels- und Wurzelbarrieren artistische Schrittkombinationen, die ich laufend nicht drauf habe. Nur gehend bin „Lutz“, „Axel“ und „eingesprungenem Rittberger“ gewachsen. Ich habe Schiss und ich bekenne mich dazu. Sch … auf alle Prinzipien, Sch… auf so unwichtige Dinge wie Laufzeit! Vom Ringen um Plätze ganz zu schweigen!! In dieser Dreiviertelstunde steht mir glasklar vor Augen, was heute wichtig ist: Auf keinen Fall stürzen! Hier nicht und später auch nicht!

Auszug aus der Wettkampfausschreibung: „Zu den Gefahren zählen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Autoverkehr, Unwetter, Blitzschlag, Ausrutschen, Absturz, abgerutschte Wege, Muren, Steinschlag, Mountainbiker, Baumfällarbeiten, Kreuzottern, Weidevieh, Hofhunde…. welche zu Verletzungen bis hin zum Tod führen können.“

Ich komme zurecht und überwiegend trabe ich sogar. Dankbar blicke ich auf mein „früheres, sportliches Leben“ als Bergwanderer zurück. Aus dieser Zeit stammt die Fähigkeit sich einigermaßen sicher in schwierigem, alpinem Gelände zu bewegen. Einschätzen zu können, welchem Tritt ich (im Grundsatz) vertrauen kann und welchem nicht. Ab und an bleibe ich kurz stehen, um zu genießen, wofür ich auch hier bin: Fernblicke. Die lässt der dichte Wald nur selten zu. Doch wenn, reichen sie bis hinunter ins Tal, über dessen Sohle Nebelschwaden geheimnisvolle Stimmungen erzeugen. Der Trail endet auf einer Forststraße und in der Sonne. Warm scheint sie mir in den Nacken, bringt rings umher die Welt zum Leuchten. Unschwieriges Geläuf und satte Farben sorgen für innerliche Entspannung. Zwischenbilanz: Nicht einmal ansatzweise lief ich auf dem zurückliegenden Trail Gefahr zu stürzen. ‚Du warst gut drauf, Udo! Und es gibt keinen Grund, wieso du nicht alle anderen Schwierigkeiten ebenso meistern solltest!’ - ‚Widerspruch: Den gibt es durchaus! Vorhin war ich ausgeruht und stark. Später werde ich müde sein! Und was dann?’ - ‚Dann wirst du dich langsamer und noch vorsichtiger bewegen! Du wirst das schaffen!’

Die Forststraße bringt mich unmittelbar zum ersten Kontrollpunkt bei Kilometer 17, der von drei Mädchen bedient wird. Mama telefoniert im Hintergrund vor einer Almhütte. Startnummer und Zeit werden notiert: 7:20 Uhr, also bin ich jetzt fast zweieinhalb Stunden unterwegs. Kontrollpunkt bedeutet immer auch die Verfügbarkeit von (minimaler) Verpflegung. In diesem Fall Wasser und ein paar Knabbereien. Ich bitte um Wasser und konsumiere eins meiner Gels. Das war’s und gleich wieder weiter. Weiter aufwärts, zum nächsten, allerdings kürzeren Trail … Ist der von ähnlichem Kaliber wie der Erste? Offen gestanden erinnere ich mich nicht. Wahrscheinlich liegt das am Faktor Gewöhnung, mit Sicherheit aber auch am „plastischen Nachhall“ dessen, was noch folgen soll …

Forststraße und abwärts. Auf noch quicken Beinen lasse ich es laufen, jedoch ohne Ehrgeiz Zeit aufholen zu wollen. Zwei Kilometer in einem Schrittrhythmus, der keine Energie zum Bremsen vergeudet. Dann ist wieder Schluss mit flott und lustig. Es folgen zwei weitere Kilometer Bergpfad, nun gewürzt mit raschem Verlust von Höhenmetern. Das zwingt mich in jeder Sekunde die Kontrolle über das Gleichgewicht zu behalten, um jederzeit vor unerwartet auftauchenden Hindernissen oder tiefen Tritten stoppen zu können. Natürlich wünschte ich mir an solchen Stellen feste Bergschuhe umschlössen meine Füße. Steifes Leder, das Stabilität in Höhe der Knöchel und auf groben Sohlen bessere Rutschhemmung gewährleistet. Andererseits ist in Laufschuhen der Bodenkontakt direkter, wodurch das Nervensystem Bruchteile von Sekunden rascher reagieren kann … Ich kämpfe mich voran und hinab, auch mal unter umgestürzten Bäumen hindurch. Einen verrotteten Holzsteg, unter der Last seines Alters zerbrochen, umkurve ich vorsichtig am erdigen Rand. Und immer weiter runter, bis schließlich bei Kilometer 23 die Talsohle und ein gemütlicher Waldweg erreicht ist.

Unvermittelt geben Bäume den Blick auf den zauberhaften „Taubensee“ frei. Viertel nach acht am Morgen. Kein Laut stört die Beschaulichkeit, keine Bewegung den Eindruck absoluten Friedens. Bäume, Himmel und Berge spiegeln sich im unbewegten Wasser. Hinreißend schön! Gleich mehrere Fotos nehme ich von dem Kleinod mit und es stört mich nicht die Bohne für jedes ein paar Sekunden Laufzeit zu verschenken.

Der Wald bleibt zurück. Vorbei an einem großen Bauernhof, mit Ziegen, Katze, Lamas und applaudierenden Bewohnern, quer durch eine Wiese und schließlich auf den Uferweg entlang der Traun, der mich Minuten später ins Stadion und ans Ende der Auftaktrunde bringt. Ankunftszeit am Verpflegungspunkt: 8:28 Uhr. Also rund dreieinhalb Stunden für gut 26 Kilometer! Ich weiß diese Zeit nicht einzuschätzen und der Vergleich mit der Cut-off-Zeit (9 Uhr), die ich um eine halbe Stunde unterbot, bringt mich auch nicht viel weiter. Mir fehlt einfach die Erfahrung für solche Unternehmungen.

Erläuterung zu den „Cut-off-Zeiten“: An bestimmten Kontrollstellen gelten Zeitpunkte, deren Überschreitung zur Disqualifikation führt. Grundsätzlich liegt diesen Zeiten die Sicherheit der Teilnehmer zugrunde. Sie sollen verhindern, dass nicht ausreichend trainierte Teilnehmer die komplette Strecke absolvieren. In diesem Verständnis gesetzte Zeitlimits schützen zu schwache Teilnehmer quasi vor sich selbst. Beim „Chiemgauer 100“ sind die Cut-off-Zeiten allerdings recht „sportlich“ bemessen, woran viele scheitern. Nicht nur scheitern, weil sie die Zeiten nicht einhalten können, sondern letztlich auch, weil sie sich vom Cut-off gejagt fühlen und unter diesem Druck vorzeitig verausgaben.

Anderthalb flache, asphaltierte Kilometer im Ruhpoldinger Tal, meist zwischen grünen Wiesen und unter azurblauem Himmel, genieße ich in vollen Zügen. Dann links ab vom Sträßchen, quer über das weiche Polster einer Wiese und sofort aufwärts. Etwa hundert Meter halte ich den Laufschritt durch, um schon am ersten steileren Hang vor der unmittelbar bevorstehenden Aufgabe zu kapitulieren. Sie besteht aus insgesamt etwa 1.200 Meter Steilanstieg, zur Mitte für drei, vier Kilometer unterbrochen. Wären das die letzten Höhenmeter dieses Trails, ich versuchte selbstverständlich sie allesamt im Trab zu nehmen. Mehr noch: Dann hätte ich auf den 28 Kilometern hierher nicht dreimal vor heftigen Kurzanstiegen den Schwanz eingekniffen. Doch diese „Wand“ vor mir wird nicht die letzte sein. Also marschiere ich, so zügig es irgend geht. Schon dabei geht mein Atem schnell und tief, bricht Schweiß aus allen Poren. Ich weiß es doch: Rasches Gehen ist ebenso anstrengend, wie winzige, getippelte Laufschritte. Auch das weiß ich: Gehen ist in steilem Gelände effektiver, weil es einen bei gleichem Energieeinsatz rascher in die Höhe hievt. Weiß ich alles ... trotzdem - pardon! - kotzt es mich tierisch an zu gehen. Für jeden noch so kurzen Abschnitt mit erträglicher Steigung falle ich in meinen Laufschritt zurück - und wenn es nur zehn Meter sind. Aus Frust und Trotz wahrscheinlich, einen relevanten Zeitgewinn verbuche ich dadurch sicher nicht …

Die beständig freier werdende Sicht auf die herrlichen Chiemgauer Berge tröstet mich ein wenig. Am Rand eines mutmaßlichen Skihanges steil bergan, zunächst über Tritte im Gras, dann einer Pfadspur folgend. Immer wieder raunt mir der lästige Kerl seine Weisheiten ins Ohr: ‚Das könntest du alles laufen! So steil ist das nicht! Und selbst wenn: Solche Hänge hast du schon mehrfach stur trabend genommen! Und da ist noch genügend Ladung im Akku, um’s auch hier und jetzt zu tun! Also warum gehst du?’ - ‚Weil ich nicht alles laufen kann! Weil ich dann total kaputt ankomme, oben, auf der Hörndlwand! Und weil ich so „leer“ nicht mehr die volle Kontrolle über mich besitze und stürzen werde!’

„Angst essen Seele auf“ - grammatikalisch falsch und ein bekannter Filmtitel. Doch die Formel bringt auf den Punkt, was sich da in mir abspielt. Meine Läuferseele brennt darauf zu laufen. Immer zu laufen. Und nun zwingt mich Angst vor Sturz und Verletzung zur Einsicht. Und ich zwinge mich zu gehen. Meine Läuferseele stirbt in diesen Minuten, an diesem Berg. Die Angst frisst sie auf! - Ich verlange nicht, dass mich jemand versteht, noch mein Empfinden teilt. Doch glaube mir: Der innere Zwist ist nicht übertrieben dargestellt.

Auto auf Forstweg, Kontrollpunkt im Wald, den ich zeitgleich mit einem kurz zuvor eingesammelten Mitläufer erreiche: Startnummer und Zeit (8:47 Uhr) werden notiert. Der Helfer bietet uns Getränke an und dankbar leere ich zwei Becher alkfreies Weizenbier. Kohlensäure im Bauch? - Als „Elendweitläufer“ lernst du manches, was dir zuvor nicht möglich schien. Unter anderem eben auch mit aufgeblähtem Bauch und (dezent) aufstoßend Laufschritte aneinander zu reihen. Außerdem werde ich von hier ab nicht laufen können, weil es sofort wieder steil bergauf geht … Genau genommen könnte ich schon, wenn nicht … Du verstehst? Ich will nicht schon wieder den Jammerlappen nach außen kehren.

Zwei Goethe-Zitate, kurz hinterm Verpflegungspunkt in bester, motivierender Absicht am Boden liegend, reißen die Wunde gleich wieder auf. „Nur wo du zu Fuß warst, bist du wirklich gewesen!“ und „Du kannst, so wolle nur!“ - Mit Philosophischem von Goethe musste ich mich bislang - so weit erinnerlich - noch nie auseinandersetzen*. In Zukunft werde ich seiner geistigen Hinterlassenschaft jedenfalls mit Bedacht und kritisch begegnen. Denn Goethe irrt in Teilen! Es stimmt: Ich muss mir einen Ort zu Fuß erschließen, sehen, hören, riechen, tasten, um ihn zu verinnerlichen. Doch mein Konflikt ist real und wahr und stellt das zweite Zitat völlig auf den Kopf: Ich will und wie ich wollen würde! Aber ich kann nicht, weil ich nicht darf!

*) Ein bisschen werde ich mich in den folgenden Stunden schon auch wie der Zauberlehrling im Goethe-Gedicht fühlen, der sich in eine Situation manövriert, der er nicht mehr Herr wird. Die im Gedicht verarbeiteten Lehren sind allerdings eher gesundem Menschenverstand zuzurechnen als philosophischen Betrachtungen entlehnt …

An die folgenden anderthalb Kilometer mehr oder weniger steil ansteigenden Forstwegs kann ich mich seltsamerweise nicht mehr erinnern. Will ich mich etwa nicht erinnern, weil ich sie komplett gehend nehmen musste? Dafür ist das Bild umso plastischer, das sich mir beim Verlassen des Waldes bietet: Eine Schneise durchschneidet vertikal den steilen, ursprünglich komplett bewaldeten Hang. Unzweifelhaft eine Skipiste. Potthässlich im Sommer und beredtes Zeugnis für die fortschreitende Zerstörung der Natur. Da rauf? Zweifel ausgeschlossen, weiter oben erspähe ich einen mühsam steigenden Läufer.

Wandertag: Zügige, verhältnismäßig weit ausgreifende Schritte in der Falllinie des Skihangs. Ich schnaufe heftig und Rinnsale von Schweiß suchen die Falllinien an meinem Körper … Ein weiterer Kontrahent ist rasch überholt, bleibt unter mir zurück. Auf halber Höhe quert ein Weg den Hang und als kleines Geschenk darf ich ihm folgen. Im nahen Waldrand zeigt die Markierung nach oben. Kurzes „Klettern“ im blockigen Auftakt, dann weiter steigen zwischen Fels, Wurzeln, über teilweise hohe Tritte. An Laufen ist nicht im Traum zu denken. Das wäre selbst ohne persönliche Limits illusorisch. Laufen geht nicht, wegen ist nicht! - Schwer stützt sich eine Läuferin auf ihre Stöcke, atmet tief durch, erholt sich dabei. Keucht mir lächelnd eine Bemerkung entgegen, als ich stumm vorbei „wandere“. Keine Ahnung, um was es geht und zum Nachfragen fehlt mir die Luft. Weiter aufwärts, immer weiter … Wandertag!

Die Hälfte des Anstiegs ist geschafft. In wechselnder vertikaler Orientierung, überwiegend jedoch bergab, erhole ich mich auf den nächsten vier Kilometern. Sie belohnen mit größtenteils „tippelbaren“ Abschnitten und Naturschönheiten. Tolle Fernblicke in Richtung Süden, wo zahlreiche Berggestalten ihre Spitzen oder Kuppen in den bereits dunstigen Himmel recken. Doch auch die unmittelbare Umgebung begeistert mit unvergleichlichen Ansichten. Etwa der Bach, halb gurgelnd, halb rauschend, seinen Weg ins Tal suchend. Oder die Reste einer abgestorbenen, einst kapitalen Bergfichte. Noch tot reckt sie trotzig ihre nackten, von Flechten besiedelten Äste ins Himmelblau. Ihr knorziger, knapp überm Boden krankhaft verdickter Stamm scheint versteinert, so blank und hell leuchtet er mir entgegen. Ein paar Meter davor stellte jemand - vor undenklichen Zeiten will mir scheinen - ein plumpes, massiges Steinkreuz auf. Wem wohl dieses religiöse Gedenken gilt? - Nur ein paar Meter weiter bekomme ich neuerlich große Augen, diesmal gelten sie einer gigantischen Distelblüte. Ich halte meine Hand zum Größenvergleich daneben und die kuriose Ansicht im Bild fest …

Die Distel kostet mich glatt zwei, drei Minuten: Ein hübscher Käfer und eine Hummel lassen es sich auf der Rückseite der Blüte bei reichlich Pollen und Nektar wohl sein. Ich stelle die Kamera auf Nahaufnahmen um und sichere auch dieses Entzücken im Kleinen für den Rest meiner Tage im Speicher der Kamera. Unterdessen habe ich Besuch bekommen: Die Läuferin, die sich auf ihren Stecken ausruhte, vor einer halben Stunde überholt, hat aufgeschlossen. Auch in ihr von Anstrengung gezeichnetes Gesicht zaubert die Distel ein strahlendes Lächeln …

Wieso bin ich eigentlich so gut gelaunt? Vielleicht, weil ich immer wieder Viertel-, halbe auch mal ganze Minuten über Stock und Stein traben darf? Oder wirkt die Distel nach? Das Wetter vielleicht? Die grandiose Natur um mich her? Der vielerorts traumhaft schöne Rundblick? Oder all das zusammen? Der Unfrieden in Sachen „Gehenmüssen“ verstummt tief drin nie vollends. Und trotzdem habe ich meinen Spaß bei der „Sache“. Spaß, den nicht einmal dieser, für den Läufer in mir entsetzliche Anblick, negieren kann: Da hoch??? Durch diese supersteile Scharte? Links der Scharte nackter Fels, rechts davon noch mehr. Kein Zweifel Udo, die jagen dich da hoch!

Laufen Ende, unwiderruflich. Zügiges Gehen Ende, unwiderruflich. Fuß vor Fuß setzen, achtsam einen griffigen Tritt finden, hohe Absätze überwinden, mit Händen unterstützen, wo nötig, Serpentine um Serpentine nehmen und literweise schwitzen in praller Sonne. Was wäre anders, wenn ich diese Passage als Teil einer Bergwanderung in Eigenregie zu bewältigen hätte? - Ich hätte mehr zu trinken dabei, bliebe immer mal stehen, um durchzuatmen und dabei die Landschaft zu genießen. Denn ihretwegen wäre ich schließlich hier. Was ich augenblicklich praktiziere ist Bergwandern unter Zeitdruck. Den macht mir nicht die Cut-off-Zeit. An die denke ich kaum. Doch trotz allem verstehe ich mich als Läufer im laufenden Wettbewerb. Zwar nur Langzeittraining für ein höheres Ziel, dennoch Wettkampf. Also weiter, weiter, aufwärts, aufwärts. Mit Schweißwischen komme ich kaum noch nach. Durst peinigt mich. Kurzer Halt: Ein Gel und die Neige aus meiner Flasche konsumieren. Oben am Kontrollpunkt gibt’s Getränke, haushalten nicht nötig …

Der „Schartenschieber“ vollbringt sein gemeines Tagewerk. So heißt der Mistkerl, der den ersehnten Zenit laufend weiter nach oben versetzt. Du steigst und steigst, kämpfst und kämpfst, schwitzt und schwitzt und die Vertikale scheint sich beständig in die Länge zu ziehen. Bergwanderer kommen mir alle paar Minuten absteigend entgegen. „Bald habt ihr es geschafft!“ meint einer zu mir. Ich schweige, weil mir gerade die Kraft zum Antworten fehlt und weil nicht stimmt, was er sagt. Dort oben haben wir es mitnichten geschafft, lediglich eine harte Etappe überstanden!

Noch eine Serpentine und noch eine, nun dauert es wirklich keine fünf Minuten mehr. Mehrmals blicke ich zurück, erfreue mich an der beeindruckenden Felsformation der „Hörndlwand“ und genieße das herrliche Panorama der Chiemgauer Alpen dahinter. Völlig unmöglich vor solchen Impressionen der Übellaunigkeit anheim zu fallen. Angst? Wieso hatte ich Angst? Hier fühle ich mich wohl und irgendwie daheim. Viele Jahre reihte ich Tour an Tour über solche und anspruchsvollere Wege und war ihnen stets gewachsen. - ‚Ja, stimmt, aber eben gehend! Und das hier ist eine Laufveranstaltung!’ ruft mich der Besserwisser zur Ordnung - Der letzte Aufschwung. Durch eine tief vom Regenwasser ausgewaschene Rinne erreiche ich die Scharte und das Plateau dahinter. Ein Sonnenschirm, ein paar Leute vor zwei Zelten - das muss der Checkpoint sein. Aufstieg geschafft und nun ist nur noch ungezügeltes Begehren in mir: Durst! Wahnsinniger Durst!

Getränke in begrenztem Umfang! Alles Flüssige mussten die Helfer hier rauf schleppen! Und nach mir kommen noch einige Läufer. Ich erbitte mir trotzdem vier Becher Iso und leere sie wie ein Verdurstender. Eine Tafel am Zelt gibt Auskunft: Ein Brunnen in drei, der nächste Verpflegungspunkt in vier Kilometern Entfernung. Ich lasse mich von Argumenten überzeugen kein Wasser in meine Flaschen zu füllen: Nur abwärts bis zum Brunnen, im Schatten meist, also wozu Ballast in die „Tanks“ laden? Vielleicht erbäte ich mir doch ein paar Tropfen, wüsste ich hier schon, was der Trail mir in Bälde abverlangen, und dass bis zum Brunnen fast eine Stunde vergehen wird …

Startnummer und Zeit werden notiert: 11:08 Uhr, ich bin jetzt über sechs Stunden unterwegs. Auf die Cut-off-Zeit (12:30 Uhr) habe ich mir einen komfortablen Vorsprung von 1:20 Stunden erkämpft und von Erschöpfung fühle ich mich weit entfernt. Was also sollte mich hindern, die 100 Kilometer tatsächlich zu packen?

Vermutlich liegt es an der erreichten Höhe, dem Stolz auf die bisher erbrachte Leistung und dem freien Blick in alle Richtungen, wenn Optimismus ein Scheitern in weite Ferne rückt. Eine halbe Stunde später ist davon jedenfalls kein Viertel Zuversicht mehr übrig. Ein paar hundert Meter durfte ich übers mäßig geneigte Plateau trailend meine Läuferseele wiederbeleben. Seit dem ist zappenduster! Aber so was von! Es geht ein steiles Kar hinunter. So steil wie die steilsten Abstiege in meiner Bergwandererzeit. So steil und - pardon! - saugefährlich. Der Hang liegt im Schatten. Alles feucht, alles rutschig. Hohe Tritte. Gelände kombiniert aus Geröll, Felsen, Wurzeln, Erde. Nie war die Angst heute greifbarer. Ich taste mich hinab. Nicht allein übrigens. Eine Läuferin - war der Begriff „Läufer“ je deplatzierter als an diesem Abhang??? - folgt mir in geringem Abstand. Das Scharren und Rutschen, ihr Kampf um Halt und Kontrolle - die Geräusche schieben von hinten, machen mich nervös. Unwillkürlich versuche ich rascher voran zu kommen. Aber das ist brandgefährlich! Also trete ich irgendwann zur Seite, lasse sie vorbei, warte ein paar Sekunden bevor ich folge …

Schon wieder wen im Nacken. Und die unterhalten sich auch noch. Auf Englisch, locker vom Hocker, häufig von gackerndem Lachen unterbrochen. Kommen immer näher. Wieder bleibe ich stehen, lasse die „Englishmen“ passieren. Wie die da runter hüpfen!? Das fasse ich echt nicht … Solches Tempo geht definitiv zu Lasten der Sicherheit. Ist denen das egal? Warum ist es mir nicht egal? Nur meiner hochfahrenden Spartathlon-Pläne wegen? - Nein, vermutlich nicht. Die Ursachen liegen tiefer. Meine Risikobereitschaft krankt am Lebensalter. 62 Jahre schleifen am Schneid und kaufen ihn dir Cent für Cent (früher Pfennig für Pfennig) ab. In deren Alter wusste ich auch schon, was geschehen kann. Doch da war die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls nicht mehr als eine Zahl. Außerdem ein Geschehen, das selbstverständlich nur anderen passiert. Dieser Tage spüre ich Wahrscheinlichkeiten und weiß, dass Übles mir ebenso wie anderen zustoßen kann …

Die Furcht abzurutschen ist allgegenwärtig, hält die Muskeln unter Dauerspannung. An Zehen und Mittelfuß deuten sich immer wieder Krämpfe an und die Oberschenkel protestieren vehement. Ein veritabler Muskelkater zu Beginn kommender Woche ist mir sicher. Kein Grund zu räsonieren, auch das wusste ich vorher und nahm es billigend in Kauf … Fuß rutscht ab - Adrenaliner Schrecken durchzuckt mich von den Haarspitzen bis zu den Fußnägeln - Fuß findet doch wieder Halt - Alles gut. Vorsicht! Natürlich hätte ich vorhin aufsteigend und mehr noch bei diesem kontrollierten „Absturz“ meine Trekkingstecken gut gebrauchen können. Ich ließ sie im Auto. ‚Was denn noch alles an Ausrüstung mitschleppen?‘, fragte ich mich gestern. Und tatsächlich wären sie mir überwiegend hinderlich. Mit oder ohne Stecken - das muss jeder selbst entscheiden. Auch im Nachhinein bin ich davon überzeugt mit „ohne Stecken“ die richtige Entscheidung getroffen zu haben …

Runter, immer weiter runter. Im Augenwinkel eingefangen, schon einen Meter dran vorbei und einen halben tiefer: Da stand doch eine Lilie!? Wahrhaftig. Und was für ein schönes Exemplar „Türkenbund“. Eine halbe Minute gönne ich mir den Anblick, vielleicht auch, damit meine Beine wieder zu Kräften kommen. Dann weiter steil hinab. Alsbald hole ich die Läuferin ein, die ich vorhin passieren ließ. Nun scheint sie zu ermüden oder aus Vorsicht ihre Schritte zu verlangsamen. Jetzt sitze ich ihr im Nacken. Ob ich vorbei will, fragt sie schließlich. Ich weiß, was sie empfindet und antworte: „Keine Bange, ich passe schon auf dir nicht zu nahe zu kommen. Schneller will ich nicht, das ist mir viel zu gefährlich!“ Alles geklärt, trotzdem halte ich von da an mehr auf Abstand …

Nach einer gefühlten Ewigkeit liegt die Mörderflanke endlich hinter mir, geht in sanfteres Gefälle über. Vorsichtiges Joggen mit jetzt wabbelweichen Oberschenkeln ist wieder möglich. Verbleibenden Unebenheiten begegne ich mit geschärften Sinnen. Zwei Minuten trailen, drei, vier, schließlich stoße ich auf einen ebenen, breiten Forstweg und folge ihm. Recht schnell stellt sich ein Laufrhythmus ein, als hätten meine Beine ungeduldig auf die Gelegenheit gewartet. Zum ersten Mal seit Stunden mehr als drei Schritte mit gleicher Länge … Was für ein Genuss!

Auch wenn die Verpflegungsstelle gerade mal einen Kilometer weiter mit allem lockt, was Ultratrailers Magen begehrt - an diesem Brunnen komme ich nicht vorbei. Klares, kaltes Bergwasser sprudelt aus dem Hahn. Hat mir Wasser je besser gemundet? Ich trinke und trinke, fülle meine Flaschen auf und trinke nochmals. Anschließend die Wohltat des Tages: Endlich den Schweiß von Gesicht und Hals waschen. Und wieder bewahrheitet sich: Ist die körperliche Bedrängnis groß genug, gilt einem die Befriedigung elementarster Bedürfnisse als Geschenk des Himmels. - Rucksack über, Brille aufsetzen und weiter …

Eben und unschwierig auf fester Forststraße dahin. Ein zauberhafter Ort! Überwiegend bewaldete Berggipfel säumen den weiten Talkessel. Rechts hinter mir setzen die Felsen der vorhin bezwungenen „Hörndlwand“ einen dramatisch steinernen Akzent. Ringsum hohes Gras im flachen Talgrund, darin weit und licht stehende Fichten: „Märchenwald“, in dem sich Fuchs und Igel zum Lustwandeln treffen. Auch wenn sich meine Beine vom Auf und Ab bereits „beansprucht“ geben: Oh, wie schön ist Joggen! Ein flacher Kilometer vom Brunnen bis zur „Röthelmoos Alm“, wo ich mich ausgiebig verpflege. Mit Unmengen von alkoholfreiem Weizenbier übrigens. Und es ist köstlich kalt! Dazwischen futtere ich drei weiche Energieriegel und lecke Salz.

Startnummer und Ankunftszeit sind notiert: 12:18 Uhr. Also nur noch 1:12 Stunden Polster auf die Cut-off-Zeit (13:30 Uhr). Schon im Auf und Ab der „Hörndlwand“ kreisten meine Gedanken um die Verkürzungsoption. Auch jetzt beim Weiterlaufen (Juchhu! Ich darf tatsächlich noch anderthalb Kilometer traben, bis es wieder steiler wird.) finde ich zu keinem fixen Entschluss. Mal bin ich entschlossen auf jeden Fall abzukürzen. Sicher ist sicher! Dann wieder blicke ich zur Uhr, meine ein ausreichendes Zeitpolster und doch eine Chance auf den ganzen Trail zu haben. - Sie liebt mich, sie liebt mich nicht, sie liebt mich, …

Aufwärts auf Forststraßen. Immerhin erlaubt mir das unschwierige Geläuf leichte Anstiege trabend zu bewältigen. Ich überhole eine dahinstöckelnde Läuferin und höre ein ungläubiges „Wie kannst du hier noch Laufen?“ - Unsicher, ob sie die einzig wahre Antwort verstünde, schütze ich Anstrengung vor und schweige. - Ich kann, weil ich will! - „Du kannst, so wolle nur!“ - Sollte der olle Goethe am Ende doch Recht behalten? - Keine zwanzig Meter weiter, hinter einer Wegbiegung, falle ich wieder in Gehschritte; auf beinahe glatter Forststraße, nur weil’s ein bisschen steiler wird, und ich Angst vor den Konsequenzen der Erschöpfung habe. - Fack ju Göthe!!

Ich folge dem Pfad über eine Almwiese hinan. Die Steigung pendelt zwischen mäßig bis fordernd. Sturzrisiko gleich null, laufbar wäre folglich alles. Doch nicht für mich und nicht heute. Einsicht degradiert das Mosern des Unzufriedenen zum mentalen „Hintergrundgeräusch“. Es hindert mich nicht daran die atemberaubend schöne Landschaft zu genießen: Das satte Grün beweideter Almen, darauf dunkel abgesetzt die kerzengeraden Gestalten einzeln stehender Fichten und über allem ein bayerischer Himmel in weiß-blau. Ich orientiere mich an meinem Vordermann, einem der Engländer. Sein Laufpartner gab an der „Röthelmoosalm“ entkräftet auf. Vorbei an friedlich wiederkäuenden Kühen, nach wie vor auf Gras bewachsener Pfadspur, unentwegt aufwärts. Immer weiter aufwärts. In Höhe der „Jochbergalm“ erwartet mich der nächste Kontrollpunkt und gottlob etwas zu trinken …

Ich halte die Rast kurz, denn der Aufstieg zum „Hochsattel“ ist noch längst nicht geschafft. Weglos über eine bucklige Wiese auf das schlaff am Pfosten herunter hängende Stück Absperrband zu. Ohne Markierung brauchte ich nur der Perlenkette dreier vor mir aufsteigender (ergo verhinderter) Läufer zu folgen. Wir halten auf den Saum des Waldes zu, der sich als vergebliche Hoffnung entpuppt: Weder bin ich dort schon oben, noch stehen die Bäume dicht genug, um Schatten zu spenden. Auch wenn ich es in der Folge nicht ständig erwähne: Immer wieder bleibe ich zum Trinken stehen. Das kostet jeweils unverhältnismäßig viel Zeit, weil meine Geschicklichkeit nicht ausreicht, die Trinkflasche wieder in ihrem Depot zu versenken, ohne den Rucksack auszuziehen. Bin ich wirklich so ungelenk oder hat man mir schlicht ein untaugliches Exemplar der Gattung „Trinkrucksack“ angedreht?

Die Höhe ist genommen und nun wieder abwärts. Auf dem Sattel beendet ein Mitkämpfer gerade seine Rast. Abwärts kreuzen sich unsere Wege dann und wann. Hat ihm die Höhenluft die Sinne vernebelt? Mehrmals redet er bei diesen Gelegenheiten auf mich ein. In vollen Sätzen und glasklar akzentuiert. Ich verstehe folglich genau, was er sagt. Nur kapiere ich den Inhalt nicht: Irgendwen wollte er nicht überholen und abhängen. Aber das würde nichts ausmachen, weil der- oder diejenige im Flachen ohnehin schneller vorankäme als er … und so weiter … Müsste ich kapieren, um was es geht? Hat Udo einen Sonnenstich?

Wie dem auch sei: Laufen geht abwärts wieder nicht. „Assolutamente impossibile!“ Hohe felsige Tritte, bisweilen glitschig steile Pfadstücke, Wurzeln und - wie gehabt - auch alles miteinander kombiniert. Schrittvariationen wären erforderlich, zu deren hurtiger Ausführung es mindestens der koordinativen Qualitäten eines „Rastelli“ bedürfte. Und Udos Körperbeherrschung, schon im Grundsatz begrenzt, leidet inzwischen zusätzlich unter Substanzverlust. ‚Pass auf! Langsam!! Kein Risiko!!!’ - immer wieder rufe ich mich innerlich zur Ordnung. Alles, wirklich alles - Verkürzen, Aufgeben, DNF infolge Zeitüberschreitung, ohne Lohn heimfahren -, würde ich mir verzeihen. All das, nur Sturz und Verletzung nicht!

Zwischendrin (fast) ein Kilometer Almstraße. Hurra traben! Dann weiter hinab auf „Knochen brechendem“ Pfad. Pfade, die ich schon in Bergschuhen nicht sonderlich mag, weil man abwärts bremsen muss. „Negative Beschleunigung“ ist gefordert, eine Form von Muskelarbeit, auf die man seine Beine mit entsprechendem Training vorbereiten sollte. Damit sie unterwegs nicht „matschig“ und kraftlos den Dienst versagen und um den fälligen Muskelkater im Rahmen zu halten … ‚Auf was habe ich mich hier eingelassen?’ - Bereits zum x-ten Mal stelle ich mir diese Frage. Sie beschreibt meine Hilflosigkeit dem eigenen Anspruch „Ich will laufen!“ in diesem Gelände gerecht werden zu können. Und obwohl mit Fragezeichen endend, bringt sie Gewissheit: Trails von diesem Schwierigkeitsgrad sind nicht mein Ding. Statt auf den Geschmack zu kommen, gehe ich innerlich immer mehr auf Distanz zu dieser Spielart meines Sports …

Endlich Forststraße, meist sogar abwärts. Nach Herzenslust laufen, laufen, laufen, … Ein Kilometer, zwei, drei … Es kann nun nicht mehr weit bis zum Verpflegungspunkt bei Kilometer 55 sein, wo mein Drop bag auf mich wartet … Am Wegrand ein Auto, davor zwei Leute. Bin ich schon da? Sie geben mir die Antwort: „Bravo! Super! Nur noch drei, vier Minuten bis zur Verpflegung!“ Ich bedanke mich mit zum Gruß erhobener Hand und beschleunige meine Schritte. Aus drei Minuten werden vier, dann fünf und schließlich sechs, bis ich endlich und mit schon wieder trockenem Mund vor der Tränke stehe. Weizenbier in rauen Mengen zischt meine Kehle hinab … Ich erbitte mein Drop bag und verstaue den Inhalt im Rucksack: Gels, ein paar trockene Socken und die Stirnlampe. Werde ich die wirklich brauchen? … Sie liebt mich, liebt mich nicht, sie liebt mich …

Zehn Minuten Rast vergehen wie im Flug. Noch mehr trinken, Gel schlucken, hantieren, ein Blick auf die Profilkarte, um zu wissen, was mich als nächstes erwartet (Was wohl?) … Zwei Läufer hocken auf einer Bank. Schauen mir missmutig beim Verstauen der Utensilien zu. Sehen ziemlich fertig aus die beiden. Auch Diana - der Vorname steht auf der Startnummer -, die Läuferin vom Mörderabstieg an der „Hörndlwand“, treffe ich hier wieder. Zeitgleich machen wir uns auf den Weiterweg, vom wild anfeuernden (wölfisch tönenden) Geheul der Helfermannschaft verabschiedet.

Ein paar Laufschritte sind uns vergönnt, dann geht es wieder steil aufwärts. Diana kennt sich aus, bereitet mich auf einen steilen Skihang vor, der aber jetzt, kurz nach 15 Uhr, Dank später Ankunftszeit, bereits im Schatten liegt. „Alles Taktik!“ meint sie und lacht. Das Lachen vergeht uns dann rasch, weil dieser Grashang zum Steilsten gehört, was die Route zu bieten hat. Und weil er nur teilweise im Schatten zu nehmen ist … Genau dieser Steilanstieg erzwingt die Entscheidung: Was meine Beine noch an Leistung hergeben, wird nicht ausreichen, um auf dem finalen Stück noch einmal 1.000 Höhenmeter schadlos zu überstehen. Also Verkürzen!

Die „Skipiste“ ist Geschichte, eine steile Forststraße löst sie ab. Traben? Kann ich mit inzwischen „schwammig“ weichen Oberschenkeln vergessen! Ich hatte es heute nie eilig und nachdem die Entscheidung abzukürzen steht erst recht nicht mehr. Diana macht mich auf einen Brunnen aufmerksam, den sie selbst verschmäht. Ich nutze die Gelegenheit meine Flaschen nachzufüllen, zu trinken und einmal mehr Gesicht und Kopf zu kühlen. Es ist nicht übermäßig warm, vielleicht 22, 23°C hier oben. Meistens geht jedoch kein Lüftchen und die Nachmittagssonne grillt einen erbarmungslos - ganz so, wie ich es eigentlich liebe. Weiter auf der Forststraße, quer über eine Weide, immer wieder auch Weidetore passierend: Vorsichtig entriegeln, auf die andere Seite wechseln, sorgsam wieder verschließen. Almbauern finden es gar nicht witzig, wenn ihr Vieh ausbüchst …

Forststraße mäßig ansteigend, ich trabe. Voraus erkenne ich Diana und zwei weitere Läufer, mal tippelnd, mal gehend. Nach und nach schließe ich wieder auf. Zu viert queren wir den wohl unattraktivsten Abschnitt des gesamten Kurses. Wald ringsum, Boden von Baumaschinen aufgerissen, entweder uneben mit grobem Material verfüllt, oder matschig, erdig hinterlassen. Sieht zwar hässlich aus, ist aber immerhin belaufbar. Raus aus dem Wald und auf einem Feldweg weiter. Mäßig steiles Auf und Ab, schöne Ausblicke, das Meiste nehme ich trabend unter die Füße. Von „Maria Eck“ als nächstem Ziel war mehrfach die Rede. Das Kirchlein oben auf dem Hügel, darunter und drum herum ein ansehnlicher Parkplatz, geben der Bezeichnung ein Gesicht. Ich schieße ein paar Fotos und Diana schließt wieder auf: „Ist „Maria Eck“ eine Wallfahrtskirche?“ äußere ich meinen Verdacht, den sie prompt bestätigt.

Gemeinsam traben wir den letzten Kilometer zum nächsten Verpflegungspunkt herunter. Dabei erfahre ich, dass Diana zum dritten Mal am „Chiemgauer 100“ teilnimmt und bisher stets auf 80 Kilometer verkürzen musste. Sie hat sich vorgenommen heute die 100 zu wagen, wenn sie den entscheidenden Cut-off-Punkt rechtzeitig erreicht. Ich befrage die Uhr: „Bis dahin sind es noch 10 Kilometer und dir bleiben 75 Minuten!“ - Das klingt machbar, weil die Strecke bis dahin keinen längeren Anstieg mehr fordert …

Verpflegungspunkt in der Ortschaft „Maria Eck“, Kilometer 67, Ankunftszeit: 17:02 Uhr. In der Hofeinfahrt eines Privathauses bietet das Buffet alles, was das Herz erschöpfter Trailläufer höher schlagen lässt. Meines verzehrt sich vor allem nach einer Flasche alkoholfreiem Weizenbier: „Als Vorschuss auf das Zielbier!“ wie ich gut gelaunt (wieso eigentlich?) zu Protokoll gebe. Gel, Riegel, Salz, Bier und gut 10 Minuten Sitzpause auf einer Bank. Warum nicht sitzen? Cut-off-Zeiten habe ich nicht mehr zu fürchten, der Entschluss zu verkürzen steht felsenfest und den Wiederanlaufschmerz werde ich eben aushalten … Gespräch mit Diana: Läuferisches Was, Wann und Wie … Dann bricht sie auf, will den Cut-off in „Egg“ nach Möglichkeit nicht vermasseln. Eine halbe Minute später folgt ihr der Engländer, in dessen Gesicht die Strapazen der letzten Stunden ihre Spuren hinterließen. Vor der „Hörndlwand“ schätzte ich sein Alter auf etwa 30, bei flüchtigem Hinsehen bekäme er nun überall Rentnerrabatt …

Unter Schmerzen erste Tippelschritte auf den Asphalt setzend mache ich mich auf den Weg und mit der an sich verheißungsvollen Tatsache vertraut, dass nun „nur“ noch 13 Kilometer vor mir liegen. Fast beginge ich die Tölpelei mir ein „Nicht mehr weit! Bald geschafft!“ zuzurufen. Der fantastische Ausblick über Wiesen und Höhen des vor mir liegenden Ruhpoldinger Tales verhindert solchermaßen vorschnelles (und irriges) Denken. Ich sauge die Eindrücke auf und schätze mich glücklich diese Aussicht genießen zu dürfen. Ein paar hundert Meter Asphaltsträßchen, dann auf einen Wanderweg. Auf unschwierigem Geläuf und motiviert von „nur noch“ 13 Kilometern trabe ich aufwärts. Ich „sammle“ den Engländer ein und bekomme wieder Anschluss an Diana. Gemeinsam folgen wir dem harmlosen Pfad, nun ununterbrochen trabend. Konzentration vorausgesetzt, sind die wenigen Stolperstellen gefahrlos zu meistern … Dann schert Diana zu biologischem Halt aus und ich bin wieder alleine.

Ich „trail-trödele“ vor mich hin. Wozu noch verausgaben? Als ich gerade den Versuch unternehme am Wegrand stehende Glockenblumen fotografisch ansprechend in den „Kasten“ zu bekommen, zischt Diana vorbei. Ihr zu folgen will ich mir nicht mehr antun, scheue höheres Risiko und schmäleren Genuss. Den verschaffe ich mir nicht zuletzt durch unentwegtes Tippeln auf diesem Waldpfad, auch mal unter Einsatz letzter Körner, wenn es ein paar Meter aufwärts geht. Immer wieder öffnen sich „Fenster“ am Waldrand, erlauben den Blick hinunter ins Ruhpoldinger Tal. Grillen zelebrieren ihre Serenade, von der Ruhpoldinger Kirche her erschallt abendliches Geläut … Einfach nur wunderbar.

Noch einmal 150 Höhenmeter ziemlich steil aufwärts nach „Egg“ zum letzten Verpflegungspunkt. Längst ist die Cut-off-Zeit (18:15 Uhr) verstrichen und ich kann mir nicht vorstellen, dass es Diana noch geschafft hat. Ich treffe um 18:41 Uhr an besagtem VP ein und finde sie gemütlich mit der Helfermannschaft plauschend vor. Wieder konsumiere ich eine Flasche Weizenbier (die wievielte eigentlich heute?) und stärke mich mit Gel. Unterdessen treffen die beiden „Entkräfteten“ ein, die mir vor Stunden missmutig beim Hantieren zusahen. Gemeinsam bedanken wir uns bei den Helfern und brechen zur letzten, verkürzten Etappe auf - vier Männer unter Führung einer Frau, weil sie den Weg kennt und uns vor einem gefährlich steilen Abhang im Wald warnte. „Nicht lang aber schlimmer als der Abstieg von der Hörndlwand!“ waren ihre Worte.

Zum Glück stehen ausreichend Bäume in diesem steilen Felslabyrinth, deren Stämme und Äste mir immer wieder Halt geben. Meterhohe Tritte, rutschiger Fels und glitschige Erde wären anders nicht unfallfrei zu überwinden. Zum ersten (und einzigen) Mal stelle ich die Laufplanung in Frage: Hier muss runter, wer verkürzt. Wer verkürzt, ob freiwillig oder vom Cut-off gezwungen, ist müde und dem körperlichen Ende nahe. Wieso dann das Risiko dieses brachialen Abhanges?

Wir traben durchs Ruhpoldinger Tal, mal am Waldrand, zwischen Wiesen, an Häusern vorbei, auf Asphalt oder Feldwegen. „4 km“ steht auf der Tafel am Brückengeländer. Wenn sie stimmt, werden wir definitiv mehr als 80 Kilometer ansammeln. Irgendwann erreichen wir das Ufer der Traun und streben auf dem Hochwasserdamm dem Stadion zu - laufend. „Laufend“ als versöhnlicher Abschluss und der ist mir wichtig. Wenig wirkte demoralisierender, als nun nicht mehr die Kraft zum Traben aufzubringen. Meine Beine sind auf eine Weise erschöpft, wie es nur „Knochenbrecherwege“ und tausende von Höhenmetern zu Stande bringen. Und doch setzen sie bereitwillig weitere Laufschritte auf den Damm. Und sie wären dazu im Flachen auch noch einige Stunden länger in der Lage … Das Stadion, der Zieleinlauf, noch eine halbe Runde über die Tartanbahn, zur Erinnerung ein Foto meiner Laufpartnerin der letzten Stunden. Ich lasse ihr den Vortritt, wie sich das gehört und beende den Lauf eine Sekunde später.

Ergebnis: 14:41:54 h, Platz 15 von 29 Männern in der 80 km-Wertung

 

Fazit zur Veranstaltung

Sinnhaftigkeit und Angemessenheit der Strecke müssen wirkliche Trailläufer beurteilen. Das traue ich mir mangels Erfahrung (und Neigung) nicht zu. Was den landschaftlichen Reiz der Strecke angeht, so dürfte es wenige Trailrouten in Deutschland geben, die der Chiemgauer Runde gleichkommen.

Überzeugt haben mich Schnörkellosigkeit und kompromisslose Umsetzung der Laufveranstaltung. Unverzichtbares ist reichlich vorhanden, Überflüssiges gar nicht. Das gilt für die Verpflegung, wie auch für alle übrigen organisatorischen Belange.

Enge Cut-off-Zeiten halte ich angesichts der Streckenschwierigkeiten zum Schutz der Läufer für unverzichtbar. Durch die Verkürzungsoption bleibt überdies gewährleistet, dass stundenlanger Kampf am Ende nicht in „DNF“ enden muss.

Fazit aus Sicht eines Gelegenheitstrailläufers: Für geübte Trailenthusiasten durchaus ein „Stern am Trailhimmel“, den sie sich gern ans Revers heften werden. Läufer, die überwiegend laufen wollen, sollten sich eine andere Veranstaltung aussuchen.

 

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