Samstag, 23. Juli 2016

Zweimal Marathon und weiter - Teil 1:

Ein Esel im Kraichgau - Night 52 Ultralauf 2016

Träume kennen keine Grenzen, doch Wünsche und Ziele eines Menschen passen sich den Umständen an. Mein Traum sind erklärtermaßen die 246 Kilometer des „Spartathlons“, mein Ziel an diesem Abend lediglich komplikationslose 52 (Trainings-) Kilometer. Drei Tage nach dem unsäglichen Kölnpfad-Abenteuer, das mich mental ein wenig aus der Spur schubste, fing ich mir Kraft höchstpersönlicher Eselei auch noch eine Erkältung ein. Genug Turbulenzen für meinen Geschmack. Die letzten beiden Trainings ließen mich zwar keine Schwäche mehr fühlen. Ob es aber schon für 52 Kilometer mit 900 Höhenmetern reicht, wird sich zeigen. Rücksicht muss ich zudem auf den morgen früh geplanten „Hornisgrinde Marathon“ nehmen. Darf mich folglich nicht vollends erschöpfen, will ich nach etwa neun Stunden Laufpause (mit mutmaßlich wenig Schlaf) noch etwas zuwege bringen …

Der „Night 52 Ultralauf“ ist im Städtchen Bretten (Nahe Pforzheim und Karlsruhe) im hügeligen Kraichgau beheimatet. Für seine 52 Kilometer werde ich eindeutig mehr als fünf Stunden brauchen. Da der Start auf 17:45 h terminiert ist, bedeutet das mindestens eine Stunde mit Stirnlampe im Dunkeln laufen. Das Wetter ist, wie meist in diesen Sommerwochen, nicht kalkulierbar. Es kann trocken bleiben, aber auch ein Gewitter oder einfach nur einen Wolkenbruch geben. Also sollte ich mein Basecap „an Bord haben“ und die Armlinge. Beides anziehen? Nö, nicht wirklich, bei ungefähr 25°C und einer Schwüle, die man in Säcke abfüllen könnte. Ein paar Beutelchen mit Gel werde ich gleichfalls brauchen. Außerdem liegen drei der Versorgungspunkte so weit auseinander, dass ich unter Umständen dazwischen werde trinken müssen. Also jede Menge Ballast, den ich nur im Trinkrucksack unterbringen kann.

Wieder mal voll bepackt durch die Gegend zuckeln … Das ist der Fluch, nein: nicht der bösen Tat, sondern: des Besitzes! Was man hat, will man nutzen, zumindest kann man es nutzen. Sicher fände ich auch ohne den kürzlich erworbenen Trinkrucksack meinen Weg über 52 Kilometer. Aber der Rucksack vereinfacht die Sache nun mal. Zum dritten Mal in Folge mit Trinkrucksack. Fast will mir scheinen, ich mutiere vom Läufer zum Packesel. Eine Entwicklung, die ich eigentlich nicht will und der ich einen Riegel vorschieben werde, wenn ich mir erst einmal meinen Traum erfüllt habe … Dann folge ich der Devise von Silbermond: „Denn es reist sich besser mit leichtem Gepäck!“

Vorm Start feiere ich Wiedersehen mit bekannten Gesichtern. Die Zeit reicht nicht, um an alle das Wort zu richten. Bei „Laufjoe“ - seit kurzem Buchautor und ohnehin bekannt, wie ein bunter Hund - reichen ein paar Sätze, weil er von Gruppe zu Gruppe „weitergereicht“ wird. Außerdem sammelt er Fotos, um seinen Laufbericht zu illustrieren. Letztlich stehe ich mit Roland in der Startaufstellung. Uns beide verbindet läuferisch inzwischen manches, vor allem aber leben und laufen wir in diesem Jahr für denselben Traum …

Am meisten Aufmerksamkeit widme ich jedoch einem bislang Unbekannten, dem ich zunächst in der Halle Fragen nach Uhrzeit und Zeitpunkt der Laufbesprechung stelle - er sitzt halt zufällig neben mir. In diesen Minuten „outet“ er sich noch nicht. Erst als ich ihn später draußen wieder treffe und mit der „kreuzwichtigen“ Frage nach dem Ort des Starts löchere, gibt er sich als eifriger Leser unserer Laufseite zu erkennen. Weist mir überdies die Schuld an seinem Hiersein zu, weil er über unsere Seite von dieser Veranstaltung erfahren habe. Sein erster Ultra überhaupt. Die Streckenlänge an sich bereitet ihm kein Kopfzerbrechen, wohl aber die 900 Höhenmeter. Eigentlich zieht sich unser lebhaftes Gespräch ausreichend lange hin, um ihn zu fragen, wie er heißt. Doch gerade das versäume ich wieder mal, wie so oft. Ich weiß also nicht, wie es ihm letztlich erging, obwohl mich das brennend interessiert. Aber vielleicht liest er ja diesen Laufbericht und gibt mir ein Lebenszeichen …*

*) Zum Zeitpunkt als ich diesen Passus niederschrieb hatte er sich noch nicht in unserem Gästebuch verewigt und ich hatte ihn auch noch nicht auf einem meiner Fotos mit Startnummer entdeckt. Inzwischen weiß ich, dass er den Lauf erfolgreich und mit achtbarem Ergebnis abgeschlossen hat. Daumen hoch!

Startschuss und los, zum Auftakt eine kleine Schleife durch Bretten. Leider nicht durch die prachtvolle Fußgängerzone, deren kunstvoll restaurierte Fachwerkbauten unwillkürlich alle Blicke auf sich ziehen. Doch auch unseren Weg säumt das ein oder andere romantische Fachwerkhäuschen. Kennst du Bretten im Kraichgau? Schon mal gehört? - Vorm „Night52 Ultra“ war mir der Ort gänzlich unbekannt. Schon erstaunlich, wohin mich die Lauferei immer wieder verschlägt, welche Eindrücke und Erinnerungen sie mir verschafft …

Nach zehn Minuten und dem ersten kernigen Anstieg liegen das Städtchen hinter und die Hügel des Kraichgaus vor mir. Meine Digicam fährt jetzt Sonderschichten: Tiefstehende Sonne, ungewöhnliche Wolkenformationen, die wohl lediglich Meteorologen zu deuten wissen, und der ganz eigene Charakter dieser Landschaft begeistern mich. Gerade noch an einer Streuobstwiese vorbei gelaufen, erstrecken sich jetzt beidseits hell und reif leuchtende Getreidefelder. Alsbald geht es wieder hinab in ein gleichfalls von Landwirtschaft geprägtes Tal und abseits der Straße auf einem Radweg dahin.

Die „Momentaufnahme“ des Himmels - per Rundblick erfasst - rechnet jeder Art von Wettergeschehen - mit Ausnahme von Kälte und Schnee - dieselbe Wahrscheinlichkeit zu: Ich hoffe es bleibt trocken, wofür das überwiegende Blau unmittelbar über unseren Köpfen spricht. Weiter entfernt und tatsächlich aus allen Richtungen drohen aber auch himmelhoch aufschießende Wolkentürme, die jenen Orten nichts Gutes bescheren. Wer kann sagen, ob sich nicht in der nächsten Stunde über dem „Night52 Ultra“ Ähnliches zusammenbraut? Schwül genug dafür wäre es. Ich war keine fünf Minuten unterwegs und bereits am ganzen Körper in Schweiß gebadet. Anmerkung für die Laufplanung: Ich werde an den Verpflegungspunkten Flüssigkeit in Mengen in mich rein schütten müssen, die man sonst nur von Kamelen in der Wüste kennt …

Wie oft zu Beginn eines Laufs horche ich in mich hinein. Heute zur Abwechslung einmal nicht in Richtung Muskeln, Sehnen und Co. Die durften seit dem „Kölnpfad“ ausgiebig wie selten regenerieren. Ich belauere meine Ausdauer: Empfinde ich mich heute eher als stark, schwach oder so lala? - Auch wenn sich daraus keine Hochrechnung auf spätere Schwierigkeiten ableiten lässt: Beim Tempo, das sich meine Beine selbst aussuchen durften, spüre ich keine Widerstände. Und dieses Tempo - das konstatiere ich nach einer halben Stunde mit gewissem Stirnrunzeln - ist gar nicht mal so langsam: Im Schnitt knapp unter 6 min/km. Werde ich das in der Folge ausbaden müssen? Heute noch? Oder vielleicht morgen früh im Schwarzwald? Sollte ich vielleicht defensiver laufen? - Eingedenk unvermeidlicher Zeitverluste zum Verpflegen, beim Anlegen der Stirnleuchte und in der Dunkelheit, in der ich stets langsamer unterwegs bin als am Tag (warum auch immer), lasse ich meinen Beinen ihren Willen … Also Beine - enttäuscht mich nicht!

Nach sechseinhalb Kilometer die erste Tränke vorm Kirchlein des nächsten Dorfes. Es geschieht höchst selten, dass ich nach so kurzer Distanz schon Durst verspüre. Heute trinke ich geradezu gierig. Iso, so viel und so schnell es geht. Und weiter, vorbei an uralten Bauernhäusern im Fachwerkstil, mit höchst unterschiedlichem Erhaltungsgrad. Die meisten wirken wie frisch erbaut, das eine oder andere hat jedoch schon bessere Tage gesehen. Einer der Höfe wirkt derart verfallen, dass man geneigt ist die Straßenseite zu wechseln … Und dann gibt es da noch die Vogelliebhaberin. Gerade jätet sie Unkraut in ihrem Vorgarten, weswegen sie sicher keine Erwähnung in diesem Laufbericht fände. Wohl aber für die Reihe liebevoll bemalter Nistkästen in halber Fassadenhöhe einer ehemaligen Scheune …

Als Abschiedsgeschenk hält das Dorf den bisher steilsten Anstieg bereit. Und auf einer kleinen Koppel die wohl skurrilste Pferdedecke, in die je ein Gaul gehüllt wurde. Schon von weitem verwirrt das Zebramuster die Wahrnehmung. Obwohl, wenn ich es recht bedenke, vielleicht verspricht sich der Besitzer des Pferdes von den Zebrastreifen dieselbe Wirkung, die sie, neuerer Forschung zufolge, auch bei echten Zebras haben soll: Die Abwehr von Fliegen …

Wieder Landschaft um uns her, Getreidefelder vor allem und ständig weiter aufwärts. Meine Hände haben alle Hände voll zu tun: Entweder wischen sie mir den unablässig und lästig rinnenden Schweiß von der Stirn oder sie bedienen die Kamera. Um die wellige Umgebung zu dokumentieren würden zwei, drei Schnappschüsse ausreichen. Doch der aufregende Himmel verändert ständig sein Aussehen, sorgt für minütlich wechselnde Lichtstimmungen. Mal glänzt das Land in der Spätnachmittagssonne, dann wieder wirken alle Farben stumpf und Augenblicke später atmet man Gewitterstimmung …

Ein langen Schatten vor mir herschiebend passiere ich das nächste Dorf. Auch hier vereinzelt Fachwerkhäuser. Das Schönste steht neben der Kirche. Vielleicht das Pfarrhaus? Nähme mich jedenfalls nicht wunder … Rein ins Dorf, raus aus dem Dorf und übergangslos finde ich mich zwischen Feldern wieder. Ähnliche Landschaft wie vorhin, gepinselt in denselben natürlichen Farben und doch auf anziehende Weise anders. Wie wogendes Gold leuchten reife Ähren im Abendlicht. Bei guten Lichtverhältnissen wie diesen gelingen mir die meisten in Bewegung geschossenen Aufnahmen. Schon in der Entstehung fürchte ich die Qual der Wahl: Hundert wunderschöne Bilder und nur für wenige Platz im Laufbericht!

Voraus ein Toi-Toi-Gelass an der Strecke. Ein erster Impuls ordnet es unserer Veranstaltung zu, der zweite verwirft den Gedanken wieder. Für ein paar Hände voll Teilnehmer mitten im Nirgendwo ein Klo aufstellen? Dann bin ich heran und erkenne den wahren Grund: Hinter dem 3,3408 Kubikmeter Raum umschließenden Kunststoffkabinett erstrecken sich riesige Erdbeerfelder. Schließlich muss die Heerschar der Erntehelfer irgendwo die Notdurft verrichten … Grüne Deckung gäb’s erst in einiger Entfernung - außerdem (und unter Garantie) regelt dergleichen bei uns ein Paragraph des Arbeits- oder Naturschutzgesetzes …

Nach elf Kilometern laufe ich zum ersten Mal durch Wald. Nicht lange, höchstens drei Minuten. Schatten vermisse ich heute nicht, die Sonne steht nur noch eine Handbreit über dem Horizont, versteckt sich zudem häufig hinter unsteten Wolken. Die Schwüle macht mir zu schaffen, lässt den Schweiß in Sturzbächen rinnen. „Macht mir zu schaffen“ bezieht sich ausschließlich auf die leistungsbegrenzende Wirkung und ständiges Schweißwischen im Gesicht. Jenseits dieser lediglich „nervigen“ Begleiterscheinungen fühle ich mich bei schwülwarmer Witterung pudelwohl. - Hinterm Wald ein Haken nach links, alsbald einer nach rechts und wieder runter. In dem Läufer unweit vor mir erkenne ich den Gesprächspartner von vorhin. Nirgends sonst scheint mir Kommunikation verzichtbarer als beim Laufen. Wäre er ein Bekannter, brächte ich es locker fertig ihn stumm wie ein Fisch zu überholen. Bin allerdings kein Stoffel und will auch nicht als solcher wahrgenommen werden, ringe mir darum zwei Sätzchen ab. Erst: „Ganz schön schwül heute!“ und auf seine Antwort „Aber es macht Spaß!“ hin die unbestreitbare Läuferweisheit: „Dass es Spaß macht, ist schließlich das Wichtigste!“

Die Uhr ignoriere ich weitestgehend, registrierte vorhin lediglich die Zwischenzeit für 10 km: Knapp eine Minute mehr als eine Stunde. Eigentlich zu schnell, gestehe ich mir ein. Ein Spiel mit dem Feuer, weil ich nicht weiß, ob mein Körper die Erkältung schon vollständig überwunden hat. Kann gut gehen, muss aber nicht. ‚Denk an die letzten Kilometer! Wie weh die tun werden! Denk an den Marathon morgen!’ - Wie meist in so einer Situation entscheide ich mich gegen die Stimme des Mahners und für das Risiko …

Zweiter Verpflegungspunkt am Rand einer Ortschaft („Bauschlott“). Flüssigkeit rein bis sich die Bauchdecke wölbt, denn Durst ist seit einer Stunde mein ständiger Begleiter. Dann zurück auf die Strecke, die mir alsbald wieder neue Eindrücke des ungemein reizvollen Kraichgaus erschließt. Sanftes Auf und Ab zwischen Wiesen und Feldern. Meist schweift der Blick frei in alle Richtungen, wird von der nächsten Hügelkuppe eingefangen, bleibt an weiter entfernten Baumreihen hängen oder verliert sich im Weiß-Blau des nach wie vor unsteten Himmels. Meine Füße statten einstweiligen Dank ab, wurden auf fast ausschließlich asphaltierten Wegen kaum malträtiert. „Ihr solltet den Tag nicht vor dem Abend loben!“ - Fünf Minuten und eine Weiherbesichtigung später beschweren sich die Füße vehement über den grob steinigen, offensichtlich kürzlich von Baumaschinen ramponierten Weg. Was hatten die hier zu wühlen? Erhöhte Vorsicht, um auf dem abschüssigen Geläuf nicht zu stolpern. Aus dem Augenwinkel erfasse ich zwei Frauen, neben der Strecke auf dem Boden sitzend, einen leeren Bierkrug zwischen sich und eifrig parlierend. Wie kommen die hierher? Und dann auch noch mit Bierkrug? Zumindest auf diese Frage bekomme ich hinter der nächsten Kurve eine Antwort: Ein Parkplatz voller Autos, irgendwo hinter Bäumen spielt eine Kapelle, man hört feuchtfröhliches Lachen …

Ob sich die Angler gestört fühlen? Auf dem Damm eines aufgestauten Sees, jede der zwischen Buschgruppen frei gebliebenen Lücken zum Fischen nutzend, nehmen sie zugleich das Defilee der Ultraläufer ab. Neugierig forschende bis abgewandt gleichgültige Blicke halten sich die Waage. Würde schon gerne mal Mäuschen im Hirnkasten dieser Petrijünger spielen, um mehr über die „Rezeption des Ultraläufers an sich“ und meine im Besonderen zu erfahren. Was denkt so ein in Tarnfarben gehüllter, stundenlang bewegungslos verharrender Fischjäger über unsereins. Unterstellt er „Zwangsläufigkeit“ oder anderweitige Verirrungen der menschlichen Natur? - Ich geb’s ungern zu: Aber klatschnass wie ich bin und durstig ohne Ende, erscheinen mir ein lauschiges Plätzchen hier am See und das ein oder andere kühle Bierchen als durchaus erträgliche Alternative …

Gut, dass uns die Angler hier nicht mehr sehen können: Ein harscher Anstieg und die jetzt nur noch fingerbreit über die Hügel lugende Sonne heizen uns gewaltig ein. Von seltenen, einschließlich meiner Ausnahme abgesehen, bleibt keiner der natürlichen Gangart des Läufers treu. Das sieht - nach übrigens gerade mal einem Halbmarathon - doch schon sehr „schleppend“ aus. Endlich oben und gleich wieder runter, auf die nächste Ortschaft und einen Verpflegungspunkt zu. Neben Unmengen von Flüssigkeit gönne ich mir Gel und eine unter diesen schwülen Umständen besondere Köstlichkeit: Wasser aus einer Wanne schöpfen und das klebrige Gesicht waschen!

Halb neun Uhr abends und 28 Kilometer in den Füßen. Der asphaltierte Radweg schlängelt sich durch ein Tal. Jenseits der Wiesen zu meiner Linken, zwischen oder hinter Bäumen, vermute ich einen Bach. Wolken verbergen die Sonne. Würde sie mich hier unten zu abendlicher Stunde überhaupt noch erreichen? Eine Stunde noch, längstens anderthalb, dann werde ich auf das Stirnlicht angewiesen sein. Der Gedanke trübt meine Stimmung augenblicklich, was mich überrascht. Warum ist das so? Immerhin steht mir keine komplette Laufnacht bevor. Allerhöchstens zwei Stunden Dunkelheit und das auch nur, wenn es sehr schlecht läuft … Ich brauche nicht lange zu grübeln, um meiner Unlust auf die Spur zu kommen: Bilder des unseligen „Kölnpfades“ von vor zwei Wochen drängen sich auf. Das Herumirren, die Unsicherheit, die Verlorenheit während vieler stockfinsterer Stunden. Offensichtlich vagabundiert diese extrem negative Erfahrung noch immer in meinem Hirnkasten umher …

Die Sonne vertreibt die düsteren Gedanken: Die Wolke gibt sie frei, damit sie, nur noch millimeterbreit über die Hügel des Tales lugend, mitten in meine Seele dringen kann. Und wieder einmal gilt mir so gewiss wie ein Naturgesetz: Udo ist ein Kind der Sonne! - Was für Farben!! Sattestes Wiesengrün und gelbgoldener Hafer …

Die Route spart nicht mit Abwechslung. Binnen weniger Minuten nimmt die Umgebung einen völlig anderen Charakter an. Rechts erhebt sich ein Weinberg, an dessen Fuß ich mit einigem Bedauern in einem Waldstück untertauche, … um keine fünf Minuten später, aus ebendiesem entlassen, die nächsten Rebenhänge zu sichten. Rebstock an Rebstock, Reihe neben Reihe, Weingarten für Weingarten, nur leider keine Sonne mehr. Immerhin ist es noch hell genug, um die besondere „Textur“ der Hänge zu genießen. Hell genug, um dem pfeifenden Spaziergänger und seinem gemächlich hinterher trottenden hellfelligen Hütehund zu begegnen. Hell genug, um nach „nicht unbedeutendem“ Höhengewinn einen weiten Blick über die hellbraun und grün gefleckte Wanne des Tales zu werfen. Müsste ich die Szenerie in ein Wort fassen, so passte am ehesten - mir doch „Wurscht“, ob das kitschig klingt - „Abendfrieden“ …

Der Himmel färbt sich ein, scheint der Erde mehr und mehr Licht zu entziehen, noch nicht ahnend, dass auch er in Kürze dem Schattenreich anheim fallen wird. Ein abstraktes Himmelsgemälde in pastellfarbenen Tönen von Weiß, Hellblau und Rot. Malen könnte ich es nicht, dafür aber mit der Kamera einfangen. Und dann gelingt mir auch noch ein Schnappschuss der nun tatsächlich untergehenden Sonne. Mit letzter Kraft blinzelt sie blutrot durch dichte Wolken …

Kilometer 35, endlich wieder ein Verpflegungspunkt nach elf langen Kilometern. Obschon sich der Schweißverlust in der letzten Stunde reduzierte, verspüre ich Durst wie selten. Trinken, trinken, trinken … waren das jetzt fünf Becher oder sechs? Einerlei, jedenfalls geht nun nichts mehr rein, was nicht mit den ersten Laufschritten wieder rauskäme. Zaghaft trabe ich an, werde schneller, falle schlussendlich wieder in den gewohnten Trab. Welchem Tempo das entspricht, weiß ich nicht, interessiert mich auch nicht. Kaum langsamer jedenfalls als zu Beginn, das verriet mir vorhin die 30 Kilometer-Zwischenzeit: 3:03:33. Darin enthaltene Zeitverluste gehen überwiegend zu Lasten der langen Aufenthalte beim Verpflegen.

Um 21:27 Uhr schieße ich das letzte Bild mit meiner Kamera. Den bunten Himmel habe ich nun oft genug eingefangen und die Umgebung versinkt zunehmend im Reich der Schatten. Irgendwann verstaue ich den jetzt nutzlosen Ballast in einem Fach des Rucksacks. Bis zum Aufpflanzen der Stirnlampe bleibt noch Zeit. Schwer zu schätzen wie viel. Das hängt von Umgebung und Untergrund ab. Auf Asphalt und unter freiem Himmel werden meine Augen noch eine ganze Weile ohne Kunstlicht auskommen. - Sanft bergauf zwischen Wiesen und Feldern, nun schon nicht mehr genau zu unterscheiden. Immer wieder auch einer dieser zwar kurzen, dafür steilen Buckel, die ich nach nun bald 40 Kilometern heftig in den Beinen spüre. Wieder abwärts, eine Ortschaft gewinnend und durch ein Gewerbegebiet. Bin ich hier noch richtig? So lange geradeaus? Zuletzt zeigt der auf den Asphalt gesprühte Pfeil nach links - alles in Ordnung. Schließlich durch eine Unterführung und in einer Rechtskurve mühsam bergan und in kurzzeitige Verwirrung …

Wieso kommt mir der jetzt entgegen und biegt - von mir aus gesehen - nach links ab??? Hat sich wahrscheinlich verlaufen denke ich und will ihm schon folgen. Da erkenne ich die Reihe aufgestellter Pylone. Sie lenken mich weiter aufwärts, genau vor die nächste Tränke. Trinken, letztes Gel und vielleicht doch schon die Lampe aufsetzen? Ich entscheide mich dagegen und werde von den eifrigen, wie an jeder Verpflegungsstelle superfreundlichen Helfern weiter geschickt: „Wieder zurück und in der Kurve unten dann nach rechts!“

„In der Kurve dann nach rechts“ erweist sich als unbeleuchteter, möglicherweise holpriger Feldweg. Also halte ich noch einmal, fische die Stirnlampe aus Rucksack und wasserdichter Hülle: Es werde Licht! und weiter …

Die Eindrücke werden spärlicher. Ein paar Minuten nehme ich wenigstens noch schemenhaft meine Umgebung wahr, dann - wie sollte es anders sein - verschluckt mich lichtloser Wald. Augenblicklich rauscht meine Stimmung in den Keller, fühle ich mich um Wochen und hunderte Kilometer weit versetzt; in die Nacht als ich vor Köln herumirrte, im Kreis lief, zuletzt im Häusermeer der Stadt jedwede Orientierung verlor. „Posttraumatische Belastungsstörung!“ - klingt in diesem Zusammenhang witziger als es ist. Der Kölnpfad-Unsinn scheint mehr mentalen Schaden angerichtet zu haben, als ich dachte. Ich hatte nie wirklich Lust im Dunkeln zu laufen, allerdings auch keine Not damit, wenn es unausweichlich war. Superlange Kanten erfordern nun einmal sich die Nacht um die Läuferohren zu schlagen … Spätestens beim Spartathlon sollte ich mein „Köln-Trauma“ verdaut haben. Wenn ich dort die Lampe einschalte, werde ich bereits weit mehr als 100 Kilometer in den Beinen haben, mich auf dem Weg übers Gebirge befinden und möglicherweise mutterseelenallein übern stockdunklen Peleponnes traben … Was ich hier im Kraichgauer Wald empfinde, wäre mir in Griechenland ein Klotz am Bein!

Weit voraus reflektiert etwas. Mal blinkt es auf, dann wieder nicht. Also ein Läufer. Als er mir noch etwa zweihundert Meter voraus ist, höre ich ihn reden. Mit wem quatscht der? Näher kommend erkenne ich nur eine durch die Dunkelheit wischende Stirnlampe. Läuft da einer Licht „schmarotzend“ neben ihm her? Dann bin ich nur noch Meter hinter ihm und sicher: Der ist allein unterwegs und redet mit sich selbst. Sekunden nach ihm erreiche ich die letzte Verpflegungsstelle, an der er sich jedoch kaum aufhält. Abgang ins Dunkle, weiterhin ohne Punkt und Komma redend … Dauernd dieses Gequassel vor mir. Mann, geht mir der auf die Nerven. Was soll das? Pfeif doch eine Melodie, wenn du dich im Dunkeln fürchtest. Schließlich überhole ich ihn und verwerfe meine Vermutung: Was und wie er brabbelt, würde sicher niemanden am anderen Ende der Leitung interessieren. Also kein Dauertelefonat. Nach mittlerweile mehr als 45 Kilometern tun mir alle Fasern weh. Aber sei’s drum. Das Gelaber werde ich mir nicht länger zumuten: Kleiner Zwischenspurt bis ich außer Hörweite bin …

Noch’n anstrengender Buckel, fünf Kilometer vor dem Ziel. War das jetzt der Letzte? Du hoffst das natürlich, wenn du müde bist, infolge Dunkelheit ohnehin lustlos durch die Gegend „bohnerst“ und dich nach Dusche und Zielbier sehnst. Und dann verlegt dir noch eine Kuppe den Weg und noch eine. Mal wieder „oben“ locken nicht allzu weit entfernt die Lichter von Bretten und das 50 Kilometer-Schild spricht die finale Verheißung aus: Nur noch zwei Kilometer! Udo denkt: ‚Das wird jetzt sanft „downhill“ zu Ende gehen und ich werde sogar unter 5:30 Stunden finishen!‘ - Das Schicksal ist ein Drecksack! Es verkauft dir optische Täuschungen und menschliche Irrtümer dreifach als bare Münze. Und du fällst dreifach drauf rein, weil du abgekämpft seinen Versprechungen glauben willst!

Erstens - und das erwähne ich im Nachhinein als einziges (kleines) Manko eines sonst blendend organisierten Laufs - stand keine Kilometertafel an korrekter Position. Okay, anfangs achtete ich nicht auf die Schilder, möglicherweise gaben sie dort noch die tatsächlichen Distanzen wieder. Die Tafel mit der „50“ begegnet mir ein ziemliches Stück vor den (ohnehin schon gelogenen) 50 Kilometern der GPS-Anzeige. Als ich am Ende auf Stopp drücke, zeigt „Kamerad Forerunner“ mir sagenhafte 52,82 Kilometer an. Schlussfolgerung: Zwei Kilometer dehnen sich in der Gegend von Bretten auf über drei. Vermutlich liegt das an der Verbiegung des Raums infolge örtlicher Schwerkraftphänomene oder Einflüssen, die sich nur über die Einsteinsche Relativitätstheorie erklären lassen …

Zweitens prügelt mich der Kurs einen letzten, nicht enden wollenden Hang hinauf. Ist der wirklich so steil oder kommt es mir nur so vor?

Und drittens habe ich unter diesen Umständen natürlich keine Chance mehr unter 5:30 die Ziellinie zu queren … Abgesehen von diesem Schlussbuckel (oh bitte, bitte, das muss jetzt echt der letzte sein!), kenne ich mein Schicksal „made by Drecksack“ aber noch nicht …

… also laufe ich munter dahin, nun endlich abwärts, alsbald auf beleuchteten Wohnstraßen in Bretten und wähne mich kurz vorm Ziel. Warum nur höre ich keine Lautsprecherdurchsagen, die es sicher geben wird? Als ich kurz darauf die Fußgängerzone am entlegensten Ende betrete und zu 52 Kilometern in meiner GPS-Anzeige nur noch wenige Meter fehlen, höre ich den Drecksack schallend lachen ... Einerlei, unwichtig, gleich bin ich da und das in einer Zeit, die ich mir vor Stunden allenfalls erträumte. - Fußgängerzone bei Nacht, Menschen sitzen in Gastgärten auf dem Platz, trinken, unterhalten sich, würdigen unser lichtscheues Treiben kaum eines Blickes. Jetzt könnte ich mich an den herrlichen Fassaden der bestens erhaltenen Bürgerhäuser erfreuen … Könnte! Wenn ich ausreichend Licht und genügend Muße zum Schauen hätte. Purer Konjunktiv! Der Muße entbehre ich „vollumfänglich“. Das liegt am Mus in den sich mein Bewegungsapparat unterdessen verwandelte und fehlendem Mus in den Akkus …

Fußgängerzone abgehakt, bergab, dann eine Links-Rechts-Links-Kombination und auf das Stadion zu. Bloß keine Rücksicht auf müde Laufkrieger nehmen! Das mit den rußenden, überdimensionalen Teelichtern lasse ich als stimmungsvolles Entrée ja noch durchgehen. Aber muss das wirklich sein, die schlappen Ultrakämpen noch über die komplette Aschen- - pardon! - Tartanbahn zu jagen? Klingt jetzt angenervt oder? - Nicht alles ist wie es scheint: Ich rieche schon seit fünf Minuten das Zielbier und bin bester Dinge. Und da es um nichts als gutes Training geht, kratzen mich auch die um Lichtjahre falsch platzierten Tafeln samt Zeitüberschreitung nicht. Unter Applaus und hochzufrieden ins Ziel …

 

Ergebnis: 5:34:03 h, Platz 42 von 104 Männern gesamt, Platz 3 von 9 in M60

 

Fazit zur Veranstaltung

Ein gut organisierter, von allen Beteiligten mit viel Spaß umgesetzter Ultralauf. Reichlich Verpflegung unterwegs und insbesondere im Ziel. Hervorheben sollte man die exzellente Streckenmarkierung, die ein Verlaufen ins Reich der Fabel rückte. Dass die Kilometertafeln (nach meiner Wahrnehmung in 5 km-Abständen aufgestellt, allerdings weiß ich nicht ab wann) mit ziemlicher Abweichung von der tatsächlichen Distanz platziert waren, ist ein Manko, das sich jedoch leicht abstellen lässt. Da es sich um keine Strecke mit klassischer Länge handelt, die man zu Bestzeitenzwecken läuft, spielt das jedoch kaum eine Rolle.

Fazit: Gerne jederzeit wieder!

 

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