Sonntag, 24. April 2016

Wunsch und Wirklichkeit   -   Halbmarathon auf dem Darß 2016

In meinen Träumen vom Marathon strahlt die Sonne aus blauem, fast kitschig bewölktem Himmel auf idyllische Landschaften oder prächtig historische Stadtpassagen. Laue, nur mäßig bewegte Luft umschmeichelt die Haut oder erfrischt mich bei Bedarf. So erlebte ich es mehrmals, doch allzu oft verwässert der reale Tag das zauberhafte Bild. Heute Morgen, am 24. April dieses an Wetterkapriolen reichen Jahres, da mich zwei Donnerschläge eines Gewitters wecken, widerfährt meiner Vision Schlimmeres. Beim Blick aus dem Fenster klappt mir nicht nur sprichwörtlich die Kinnlade runter: Auf den Reetdächern liegt Schnee! Kalt waren die letzten Tage samt und sonders, dafür schien jedoch meist die Sonne. Aber Schnee!?? Und noch immer Schneeregen aus fettgrauem Himmel, dazu ein gelegentlich auffrischender, eiskalter Wind!??

Einmal mehr werde ich Ines beim Laufen inmitten dieser klimatischen Merkwürdigkeit zusehen. Wie schon vor einer Woche im Spreewald und bis auf Weiteres fesselt mich ein Laufverbot infolge akuter Augenkrankheit. Dass mir der Spreewald Marathon durch die Lappen ging, konnte ich noch einigermaßen gut wegstecken. Immerhin war es mir schon vorzeiten vergönnt die Spreewaldroute meiner Sammlung einzuverleiben. Heute ist das anders. Schmerzvoll anders. Ohne deutlicher werden zu wollen: Es hat uns einige Mühe und Aufwand gekostet, um heute hier zu sein, um trotz eines längst ausgebuchten Laufes noch je einen HM- und Marathon-Startplatz zu ergattern. Außerdem kenne ich inzwischen einige Streckenteile und bedauere zutiefst den herben Reiz der Ostseelandschaft auf dem Darß nicht laufend erleben zu dürfen. Jeder Blick auf die Streckenkarte, jeder Gedanke an das, was mir entgeht, treibt das Messer stückweit tiefer ins Läuferherz. So weit meine Befindlichkeit und damit will ich es auch bewenden lassen, …

… denn schließlich geht es hier um Ines und ihren zweiten Halbmarathon binnen sieben Tagen. Letzten Sonntag im Spreewald erkämpfte sie sich eine neue persönliche Bestzeit (1:51:00 h). Die anvisierte Schallmauer 1:50 h zu unterbieten blieb ihr wegen misslicher äußerer Umstände leider verwehrt. Man sieht: Die Frau ist topfit und nach meiner festen Überzeugung nach einer Woche Regeneration sogar noch leistungsfähiger; was sich allerdings nicht zwingend in einer weiteren Bestzeit niederschlagen wird. Gründe? Bitte schön:

Seit gestern feilt meine Frau an ihrem Bekleidungskonzept. Wie ein Schmetterling durchlief sie dabei gedanklich diverse Metamorphosen, die sich anders als bei diesen geflügelten Wesen mehrfach auch umkehrten … Während der Viertelstunde Fahrt nach Wieck kommen Ines neuerlich Zweifel, ob ihr Kostüm zur geänderten Dramaturgie der Wetterkomödie passen wird. Auslöser sind vor allem die angezeigten 2°C (!) Außentemperatur. Also vielleicht doch mit Laufjacke, statt zweier Kurzarm-Shirts übereinander und Armlingen? Mit Fleecemütze gegen die Kälte, statt barhäuptig, oder lieber ein Basecap, dessen Krempe die Augen vorm „himmlischen Segen“ schützt? Ich mische mich in diese Überlegungen nur ungern ein, weil wenig im Laufsport so sehr von individuellem Empfinden abhängig ist wie Bekleidungsfragen. Trotzdem rate ich zu weniger Plünnen, weil ihr bei flottem Laufen (zu dem sie allem Anschein nach entschlossen scheint - oder etwa nicht?) rasch warm werden wird. Außerdem hörte es schon auf zu „schneeregnen“ bevor wir das Haus verließen und über dem Ort des Laufgeschehens scheinen die Wolken eine Dreiviertelstunde vor dem Start (10 Uhr) sogar aufzureißen.

In der Einfahrt zum Parkplatz empfängt man uns als Sensation des Tages. Ein wenig irritiert rechne ich das zunächst unserm süddeutschen Kennzeichen an, bis klar wird: Die zwei Zentimeter Pappschnee auf dem Autoblech weiten aller Augen. Und erst jetzt realisieren wir, dass der Wintereinbruch ein höchst lokales Phänomen war. Über Wieck - am Gras der Parkplatzwiese lässt sich das ablesen - ging stattdessen lediglich ein Regenschauer nieder.

Keine Ahnung, was sie sich vorgenommen hat - für alle Fälle nötige ich Ines zu einer vorderen Position im Starterfeld. Begehe möglichst keinen Fehler zweimal! Und am Kopf des Feldes zu stehen tut hier in Wieck tatsächlich Not. Wehe, wenn sie losgelassen: Auf schmalem Sträßchen scharren 1.000 gut gelaunte Halbmarathonis mit startbereiten Hufen.

Letzter Gruß und Kuss, Fotos vom Start, finale Blickverbindung, durch intensive Gedanken bekräftigte gute Wünsche für einen wunderschönen (und erfolgreichen?) Lauf. Meine Aufgabe jetzt: Unsere Hündin Roxi aus dem Auto holen und mit strammen Schritten schnurstracks etwa vier Kilometer durch Wieck und den sich westwärts anschließenden Wald des Naturparks Darß marschieren. Ziel: Ines treffen. Unwägbarkeit: Anhand der Streckenkarte lässt sich nur ungefähr abschätzen, wie viel Zeit mir für das Manöver bleibt. Vermutlich hat sie am vorgesehenen Treffpunkt „Peters Kreuz“ etwas mehr als die Hälfte der Distanz hinter sich ...

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Infolge des günstigen Startplatzes im vorderen Teil des Feldes kann Ines den Wettkampf heute ganz und gar selbstbestimmt angehen. Kein Vergleich zu den Behinderungen vor einer Woche im Spreewald. Zudem fällt ihr der Auftakt federleicht. Zu leicht, weshalb sie den ersten Kilometer bereits nach alarmierenden 5:01 Minuten hinter sich hat. Sie drosselt ihr Tempo, bleibt fortan im Rahmen dessen, was sie über die volle Distanz glaubt durchhalten zu können. Ines genießt den Lauf. Kälte und mäßiger, bisweilen jedoch böiger Wind behindern sie wider Erwarten kaum. Rasch wandern die letzten Häuser von Wieck achtern aus. Frei streift nun ihr Blick über die umliegenden Wiesen. Linkerhand, noch in respektabler Entfernung, grüßt schon der Urwald des Naturparks herüber. Obschon brettflach, umfängt die Darß-Landschaft Ines mit ihrem ganz eigenen Reiz. Dass sich Ostsee - höchstens zwei Kilometer voraus - und das sich rechts, ganz in ihrer Nähe erstreckende Binnenmeer, der „Bodstedter Bodden“, gänzlich vor ihr „verstecken“, ändert daran nichts.

Ines erreicht die ersten Häuser von „Prerow auf dem Darß“. Erstaunlich viele Zaungäste säumen die Straßenränder des saisonal noch mäßig besuchten Ostsee-Bades. Und sie sparen keineswegs mit Beifall und Ansporn. Gilt es folglich die dem Menschen des deutschen Nordens allenthalben nachgesagte Verschlossenheit und Zurückhaltung zu relativieren?

Kilometer acht: Am westlichen Ortsende von Prerow verschluckt der Darßwald die Kette der Läufer. Auf den nächsten sieben Kilometern darf Ines ein Waldgebiet bewundern, dessen großenteils noch erhaltene Ursprünglichkeit durch Integration in den „Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft“ menschlichem Zugriff entzogen wurde. Zunächst prägen Laubbäume, infolge Frühlingsverspätung noch weitgehend kahl, das Bild. Doch wie sie von unserer Radtour weiß, werden andere Areale der Waldfläche von Kiefern beherrscht. Gelegentliche Blicke zur Uhr bestätigen ihr Laufgefühl: Das Tempo passt. Also wieder der Umgebung zuwenden und die bietet ihr übergangslos einen hinreißenden, jeden Naturliebhaber elektrisierenden Anblick: Bäume, die im Wasser stehen. Der schnurgerade verlaufende Weg bildet eine Art Damm durch den Sumpf, schafft zugleich eine rätselhafte Zweiteilung: Links von ihm erheben sich die Baumstämme aus schwarzer, jedoch glasklar spiegelnder Untiefe. Rechts des Weges überzieht eine hauchfeine Schicht aus Blütenstaub (?) die Wasserflächen. Links der schwarze, rechts also pastellfarbener Sumpf.

Ines hat während dieser höchstens zwei Minuten dauernden „Führung durch den Zauberwald“ das Glück der Tüchtigen. Mittlerweile bilden Betonplatten Marke „DDR“ das Geläuf, die schon ein wenig Konzentration erfordern, will man nicht an tückischer Kante ins Straucheln geraten. Mehr als 10 Kilometer liegen jetzt hinter ihr und sie erwartet nun an jeder Wegkreuzung unser Rendezvous …

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Vermittels Sauseschritt lange ich rascher als erwartet auf der an 364 Tagen einsamen, heute dafür umso belebteren Waldkreuzung an. Fahrräder, Schlachtenbummler, und des Technischen Hilfswerks, die einen Verpflegungspunkt betreuen, stören für ein paar Stunden den Waldfrieden. Letztere befrage ich nach der Streckendistanz und bekomme nur vage Auskunft: „Irgendwas mit 13 oder 14 Kilometern“. Ein kurzer Abstecher zu einer 50 m entgegen Laufrichtung aufgepflanzten Tafel spricht eine klare, jedoch ebenso wenig verlässliche Sprache: Die angezeigte „13“ bezieht sich auf den Marathon. Dessen Start erfolgte zwar auch in Wieck, jedoch in einer anderen Nebenstraße und Himmelsrichtung.

Zugunsten meiner Bewegungsfreiheit raube ich Roxi die ihre und vertäue sie ein gut Stück abseits vom Weg an einem Baum. Bis der führende Halbmarathoni das Defilee der schnelleren Läufer eröffnet, bleiben ein paar Minuten, um die Gedanken schweifen zu lassen ... Meine Startnummer hat diese Waldkreuzung bereits vor ungefähr einer dreiviertel Stunde passiert … selbstredend ohne mich an den obligatorischen Sicherheitsnadeln hängend hinter sich her zu ziehen. Der „Udo“ unter der Nummer war vermutlich mit fetten Strichen eines Filzstiftes überdeckt. Glück im Missgeschick: Über das Gästebuch der Darß-Marathon-Homepage konnte ich meinen Startplatz an eine viellaufende Ultrafrau aus Leipzig abtreten, die sich spontan und allein auf mein Versprechen hin ins Auto setzte …

Nach und nach verkürzen sich die anfänglich riesigen Abstände zwischen den Läufern (nach dem Führenden klaffte gar eine Lücke von mehreren Minuten). Meine dem baldigen Tête-à-tête geltende Aufregung hält sich infolge Ines’ unklarer Zielzeitabsichten in Grenzen. Derzeit richte ich meine Aufmerksamkeit noch eher auf Roxi. Zwischen Fahrrädern und Menschen lässt sie mich keine Zehntelsekunde aus den Augen. Zu meinem Erstaunen und entgegen früherer Verhaltensmuster verzichtet sie auf wildes Gebell, obschon nun immer häufiger Läufer mit Beifall und Anfeuerung weiter gereicht werden. Seltsam eigentlich ...

Petrus Miene hellt sich weiter auf. Wahrscheinlich hat er vom Winter im April nun selbst die Nase voll und gewährt zur Wiedergutmachung ein paar sonnige Phasen. Gut für Ines, die nötigenfalls die Armlinge runterstreifen kann. Zunächst ahne ich ihr Nahen mehr, als es zu sehen. Weit voraus, auf dem geradlinig wie mit dem Lineal gezogenen Waldweg, gewinnt der pinkfarbene Fleck namens Ines Sekunde für Sekunde an Kontur. In Höhe der Tränke verzichtet sie auf den angebotenen Trinkbecher und rennt lächelnd an mir vorbei. Basecap überflüssig, also drückt sie es mir „en passant“ in die Hand.

Keine 65 Minuten sind seit dem Start vergangen. Eine Tatsache, aus der ich mangels gesicherter Distanzmarke nichts ableiten kann. Auch ihr Lächeln will nichts besagen, weil sie immer lächelt. Bleibt also nur mein Eindruck: Sie wirkte frisch und unangestrengt. Doch auch das lässt Raum für Interpretationen: Frisch infolge Genusslaufens? Oder unangestrengt in exzellenter Tagesform mit reichlich Reserven? Spekulieren bringt nichts und objektive Daten liegen nicht vor. Augenscheinlich geht es ihr gut und trotz heftigen inneren Widerstreits - „treu sorgender Ehemann“ kontra Trainer - überwiegt mein Wunsch, sie möge Ort und Stunde einfach nur genießen! In diesem Empfinden trete ich den Rückweg an, nun deutlich entspannter auf jetzt bekanntem Waldpfad.

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Ines ist guter Dinge, rundweg alles entwickelt sich wunschgemäß. Klima passt: Ausreichend Wärme und kein Wind im Wald. Fester, gut zu belaufender Untergrund und sie spürt noch immer kein Ausdauerlimit. Und das Schönste: Bei jeder Kontrolle ist sie den Zwischenzeiten ihrer Tabelle um eine halbe Minute voraus. Oh, là, là! Nun doch der Versuch die gerade mal eine Woche alte Bestzeit neuerlich zu toppen. Und wenn nichts außergewöhnlich „Hässliches“ geschieht, dann wird sie das heute packen. Jeder absolvierte Kilometer und jede Bestätigung der unterbotenen Zwischenzeit steigern ihre Vorfreude auf das Finish. Also kein reiner Genusslauf. Wieso? Erstens weil sie es so will und weil sie es kann, ohne sich voll verausgaben zu müssen. Und nicht zuletzt wohl auch für mich. Weil ich zum Zuschauen verdammt bin und mich - da liegt sie sicher nicht falsch - über ihren Erfolg wie ein Schneekönig freuen würde. Immerhin stammt ihr Trainingsplan aus meiner Feder und in einer Läuferehe übernimmt der erfahrenere Partner automatisch den Part des Trainers - den des Betreuers hat er sowieso.

Die Kilometer kommen ihr heute seltsam verkürzt vor. Kaum hat sie den Darßwald betreten, lässt sie ihn auch schon hinter sich zurück und misst fortan die Sträßchen des Bilderbuchdorfes „Born“ ab. Ein reetgedecktes Haus reiht sich hier ans andere. Wunderschön restaurierte Katen ebenso, wie Neubauten im Stil der Gegend. Hinter liebevoll bepflanzten und mit allerlei Nippes augenzwinkernd geschmückten Vorgärten laden prächtig bemalte Haustüren zum Betreten ein. „Einladend“ gilt mir überhaupt als wichtigstes Prädikat für die Art und Weise, wie man hier Grund und Boden nutzt. Das gilt für die Behausung gleichermaßen, wie für Außenbereiche und Umfriedungen. Zäune und Hecken sind niedrig gehalten, bilden eher einen Fingerzeig, wo Öffentliches endet und Privates beginnt. Sie weisen nicht zurück, schotten nicht ab, fördern stattdessen nachbarschaftliches Miteinander. Anderthalb wunderschöne Kilometer „Born auf dem Darß“ - Idylle pur und für mich das schönste Dorf weit und breit.

Da wir die letzten Tage in „Born“ verbrachten, durften wir miterleben, wie sich der Ort für „seinen“ (Halb-) Marathon schmückte: Fähnchengirlanden spannen sich von Haus zu Baum, von Baum zu Zaun. Spruchbänder übermitteln gute Wünsche, auf die Straße gemalte Formeln tun es ihnen gleich. Anderthalb Kilometer durch „Born“, an dessen Straßenrändern immer wieder wild applaudierende Menschen stehen und mit ehrlicher Herzlichkeit den Strom der Läufer anfeuern. Sensible Läuferseelen rührt solche Aufmerksamkeit; manche weiblichen, Alterklasse W45, so sehr, dass die Beine zeitweise schwach und die Augen feucht werden …

Hinter dem Ortsende wartet wieder Wiesenlandschaft auf Ines. Jenseits des von Birken gesäumten Fahrradweges erstrecken sich Weiden, erst vom einige hundert Meter entfernten Bodden begrenzt. Das Binnenmeer ist von hier aus als schmaler, heller, so die Sonne gerade scheint blauer Streifen auszumachen. Einige abschnittsweise höchst holprige Kilometer hat dieser finale Abschnitt zwischen „Born“ und „Wieck“ zu bieten. „Stolprig holprig“ infolge ungleichmäßig verlegter DDR-Betonplatten, „zeitfressend holprig“ schließlich kurz vor Wieck auf schmalem Damm. Ines entschließt sich dem Beispiel des allgemein praktizierten „Gänsemarschs“ zu folgen, verzichtet zur Sicherheit auf Überholmanöver und verliert deshalb ein paar Sekunden. Und wenn schon: Sie war den Vorgaben ihrer Tabelle immer großzügig voraus. So freut sie sich auf ein großartiges Finish, erstmals in ihrem Läuferleben unter einer Stunde und fünfzig Minuten …

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Roxi und ich „beziehen“ am dicht gesäumten Zieleinlauf „Stellung“. Ich vertäue ihre Leine an einem Holzpfosten, nur etwa zwei Meter vom Straßenrand entfernt. Obwohl ständig Finalisten vorbei ziehen, vom Publikum reichlich mit Beifall bedacht, bleibt unsere Hündin wieder gelassen und still. Selbst im neunten Lebensjahr ist Roxi immer für eine Überraschung gut … Da die Straße eine Kurve beschreibt, können die Läufer erst ab unserer Position das etwa 70, 80 Meter entfernte Zieltor mit Zeitmessung ausmachen. Ich bereite die Kamera vor, schieße zwei Probeaufnahmen und … warte. Als ich zum ersten Mal auf die Uhr schaue, sind etwa 1:40 h seit Ines’ Start verstrichen. Ich warte ziemlich unaufgeregt heute, schließlich weiß ich nicht, wofür sich Ines entschieden hat: Genießen oder Leiden. Wie langsam doch die Sekunden dahin tröpfeln, wenn man auf das baldige Eintreten eines Ereignisses wartet ... In kurzen Intervallen kontrolliere ich die Uhr, um verwundert zu registrieren, dass noch immer dieselbe Minute angezeigt wird. Iiiiiiiiirgendwann lese ich dann 1:48 h ab und schlagartig erhöht sich meine Herzfrequenz. Poch, poch, poch: Was’n nu los? Plötzlich weiß ich, und ich habe nicht den blassesten Schimmer woher, dass sie dem schnellen Wettkampf den Vorzug gegeben hat. Plötzlich realisiere ich, dass sie in den nächsten Minuten, vielleicht sogar Sekunden dort hinten auftauchen wird …

1:49:00 h … 1:49:30 h … sollte ich mich getäuscht haben? Vielleicht ist sie beim Versuch das Tempo zu halten eingebrochen … Nein!!! Ist sie nicht! Mit erstaunlich frischem Schritt läuft Ines auf mich zu. Das wird wieder eine fantastische Zeit, zum zweiten Mal binnen einer Woche. Ich schieße Bild um Bild und als sie fast auf meiner Höhe ist, bemerke ich durch das Objektiv ihren höchst seltsamen Gesichtsausdruck. Keine Erschöpfung, kein Leiden, nichts dergleichen … Unwillen? Unglauben? Fassungslosigkeit? Vielleicht ein Anflug von Ärger? Ich feuere sie an: „Lauf Ines! Super! Lauf!“ Aber sie hört mich nicht, läuft weiter, in ihrem undurchschaubaren Habitus gefangen und wie hypnotisiert in Richtung Ziel starrend …

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Der knorrige Dammweg war noch mal hart, doch der Rest gestaltet sich für Ines mit ungeahnter Leichtigkeit, wie alles zuvor. Einer Leichtigkeit, die sie bei diesem Tempo nicht für möglich gehalten hätte. Zwischen den ersten Häusern von Wieck wächst die Vorfreude auf ihren Sieg über die Zeit, darauf die „magische“ 1:50 h heute zu unterbieten. Schon geraume Zeit war sie sicher, bis zum Schluss nicht einzubrechen. Nichts würde sie heute bremsen und ihr den Erfolg verwehren können. Die letzten Meter ziehen sich … und ziehen sich … und irgendwann merkt sie, dass da etwas nicht stimmt. Ihre Uhr rückt unaufhaltsam gegen 1:50 h vor und das Ziel scheint noch weit entfernt. Immerhin hört sie bereits die Ansagen aus den Lautsprechern und die Menschenkette am Straßenrand wird dichter. Verdammt! Was ist da los? Rechtskurve und dann endlich freie Sicht zum Ziel, vielleicht noch 20, 30 Sekunden … Und in diesem Moment überwältigt sie herbe Enttäuschung: Die offizielle Uhr hat die 1:50 h längst überschritten … Ines versteht die Läuferwelt nicht mehr, überbrückt die letzten Meter in ziemlicher Verwirrung und setzt ihren Fuß nach 1:50:50 h hinter die Ziellinie.

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Wir zermartern uns beide den Kopf, suchen nach dem Fehler. Es bleibt ungeklärt, warum Ines sich über die komplette Distanz und bei jeder Zwischenzeitkontrolle im Vorteil wähnte, letztlich dann aber doch knapp eine Minute verspätet das Ziel passierte. Schlussendlich vermag der kuriose Wettkampfverlauf die Freude über die zweite persönliche Bestzeit binnen einer Woche allerdings nicht zu verhindern.

 

Fazit zum Wettkampf

Wunderschöne Naturstrecke (für Marathonis übrigens durch die Verlängerung bis nach Ahrenshoop noch um einiges attraktiver!), reibungslose Organisation, tolle Atmosphäre, vielfach an der Strecke und im Zielbereich. Freundliche, zuvorkommende Helfer, gute Verpflegung - Läuferherz, was willst du mehr?

Hinfahren und Spaß haben! Was mich angeht, so steht der Entschluss felsenfest den Marathon auf dem Darß in einem der kommenden Jahre nachzuholen. Heiliger Läufereid!

 


Bildnachweis: Alle Fotos Ines und Udo Pitsch (einige der Fotos entstanden vor dem Lauftag, eines sogar anlässlich eines Sommerurlaubes)

 

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