Sonntag, 17. April 2016

(K-) Eine persönliche Bestzeit?   -   Halbmarathon im Spreewald

An den Tagen vor Ines' Halbmarathonstart scheint der Wetterheilige den Spreewald in nur kurzzeitig unterbrochenen Regenfluten ersäufen zu wollen. Im Landstrich des allgegenwärtigen Wassers stehen inzwischen auch viele der ansonsten trockenen Wiesen unter Wasser. Unbefestigte Wege versinken im Matsch oder können nur nach rekordverdächtigen Sprüngen über Pfützen trockenen Fußes passiert werden. Als wir Sonntagmorgen aufstehen gähnt uns ein grauer Himmel an, aus dem es nach wie vor stetig tröpfelt. Auch die lausigen 8°C wecken nicht gerade Ines' Kampfgeist. Schönreden soll ihr helfen: Wenn schon keine idealen Verhältnisse herrschen, dann erlaubt Gänsehautwetter eher flottes Laufen als vorsommerliche Hitze. Und der schnelle Kurs im Spreewald* - ziemlich flach und mehr als neunzig Prozent asphaltierte Straßen und Wege - erhöht die Erfolgsaussichten weiter.

*) Gilt nur für den sonntäglichen Halbmarathon in Burg! Nicht verwechseln mit dem "Biosphären Halbmarathon", der gleichfalls im Rahmen des Spreewaldmarathons, jedoch bereits samstags, ausgetragen wird (siehe auch "Fazit" am Ende des Laufberichts).

Als wir gegen 9 Uhr das Haus verlassen und in Richtung Burg/Spreewald aufbrechen (Start 10:30 Uhr) unterbreitet der Himmel ein Friedensangebot. Das triste Grau überm Spreewald gibt sich weiter undurchdringlich, aber wenigstens hat jemand den Wasserhahn zugedreht. Folgt man den Erfahrungen der letzten Tage, dann ist auf die Trockenheit allerdings kein Verlass. Gegen 10:10 Uhr bricht Ines zu ihrer Aufwärmrunde auf und noch immer hält Petrus die Schleusen geschlossen. Langsam, ganz langsam verwandelt sich Misstrauen in berechtigte Hoffnung: Bitte jetzt keinen Regen mehr!

Um was geht es? Ines' Halbmarathon-Bestzeit datiert aus dem Oktober 2012. Die seinerzeit im Rahmen des Einstein Marathons in Ulm erreichten 1:55:13 h gilt es heute zu toppen. Darauf bereitete sich Ines mit dem auf unserer Seite veröffentlichten HM-Trainingsplan "1:49:59 h" vor. Wie sicher bei den meisten berufstätigen, familiär und freundschaftlich gefragten Menschen Usus, war Ines' Trainingsplanung häufig mit terminlichen Zwängen in Einklang zu bringen. Ihre Vorbereitung verlief folglich nicht optimal**. Dennoch dürften die unumgänglichen Einbußen ihre Chancen auf eine Zeit unter 1:50 h kaum geschmälert haben. So wächst bei beiden, Athlet und Coach, die Spannung, was sich im heute grau-trüben Spreewald von der erarbeiteten Ausdauer, dividiert durch das Produkt aus Tagesform und äußere Umstände, realisieren lässt.

**) So etwas wie das "optimale" Training gibt es ohnehin nicht. Wie weit, wie schnell, welche Methode, in welchem Abstand zum letzten Training? Diese Parameter lassen sich schon für einen bestimmten Tag nicht genau festlegen, von einem mehrwöchigen Trainingszyklus ganz zu schweigen. Außerdem müsste man für jeden Läufer in seiner jeweils aktuellen Verfassung abweichende Vorgaben machen. Trainingspläne "von der Stange" gehen von Erfahrungswerten aus, die für "Otto Normalläufer" mehr oder weniger passen.

Die "äußeren Umstände" verschlechtern sich schlagartig, als Ines nach dem Warmlaufen den abgegrenzten Startraum betritt. Nein, es beginnt nicht zu regnen. Doch leider ist sie zu spät dran und zu rücksichtsvoll, um einen ihrer Zielzeit entsprechenden, vorderen Startplatz zu ergattern. Von den angetretenen 1.800 Läufern und Läuferinnen (gemeinsamer Start von M, HM und 10 km) stehen etwa drei Viertel vor ihr. So bleibt nur Ines' (und meine) Hoffnung, dass sie binnen weniger Schritte auf den breiten Straßen von Burg selbstbestimmt wird laufen können.

Ich wünsche ihr Glück und wiederhole zum weiß-nicht-wie-vielten Mal, dass sie "es" schaffen wird (obschon meine Zuversicht angesichts der Meute vor ihr um Größenordnungen schwindet). Ein letzter Gruß, noch ein paar Fotos, dann stelle ich mich einen Steinwurf weit vor der Startlinie auf, um den Auftakt des Wettkampfs im Bild festzuhalten. Mit dem Startsignal drücke ich meine Stoppuhr ab und warte, die schussbereite Kamera im Anschlag ... und warte ... und warte ... bereits eine Minute ist verstrichen ... und warte ... sollte ich sie etwa verpasst haben? ... Wahrscheinlich ... so weit hinten stand sie nun auch wieder nicht ... oder doch? ... dann sehe ich doch noch, wie sie die Startlinie quert, geschätzte 1:30 min nach dem Startschuss ... Oh mein Gott! So weit hinten! ... En passant blickt sie direkt in die Kamera und lächelt ... ist vorbei ... verschmilzt ununterscheidbar mit der bunten Läuferschar ...

Natürlich lässt sich ihr Lauftempo nicht sekundengenau von außen abschätzen. Dennoch bin ich sicher, dass sie die Pace für ihre Zielzeit, die anvisierten 5:13 min/km, auf dem ersten Kilometer und wer weiß wie vielen weiteren nicht erreichen kann ... Aber egal: Eine neue persönliche Bestzeit ist auf jeden Fall drin und damit wären Athletin und Coach schlussendlich auch zufrieden ...

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Es läuft nicht - präziser: "Man" lässt Ines nicht laufen - nicht so, wie sie gerne möchte. Dicht an dicht verfilzen die Läufer vor ihr zum undurchdringlich bunten Dickicht. 5:46 min für den ersten Kilometer, dann 5:31, 5:35 und selbst Kilometer vier schafft sie nicht unter 5:27 min. Summa summarum anderthalb Minuten lässt sie auf dem ersten Streckenfünftel liegen und ist sicher: 'Das hole ich nicht wieder auf!' Natürlich könnte sie Riegel um Riegel umkurven, zwischen Vorderleuten durchschlüpfen, am Straßenrand auf unsicherem Boden vorbei wetzen. Doch das wagt sie nicht, weil solche Überholmanöver unverhältnismäßig viel Kraft kosten. Und niemand weiß bereits zu Anfang, was ihm die Tagesform an Reserven lässt. Auf diese Weise fasst sie später ihre Überlegungen zusammen und ich ergänze unausgesprochen: 'Um rigoros zu überholen, bist du ohnehin zu rücksichtsvoll und nachsichtig ...'

Und dann nervt da noch etwas: Ein vehementes Nachmaulen der längst überwunden geglaubten Entzündung ihrer Sehne unterhalb des rechten Knöchels. Das "Souvenir" vom Dresden Marathon im letzten Oktober gibt sich seit dem Aufstehen heimtückisch aktiv, als hätte es just auf diesen Tag gewartet, um ihn ihr nach Kräften zu verleiden. Also noch ein Fragezeichen: Wird sich der Schmerz intensivieren, den Laufspaß negieren und eine gute Zeit in weite Ferne rücken?

Kaum zu glauben, aber es bleibt trocken. Von Zeit zu Zeit hellt sich der Himmel sogar auf und ein paar von sich selbst überraschte Sonnenstrahlen verirren sich ins nasse Grün des Spreewalds. Wunderschöne Landschaft zieht vorbei: Bäume, Buschgruppen, Hecken mit erstem, lichtem Frühlingsgrün, sattgrüne, ausgedehnte Wiesen und immer wieder Fließe, wie die zahllosen Wasserkanäle hier im Spreewald heißen. Einsame Höfe ducken sich malerisch in der Landschaft, gerade so als wollten sie übersehen werden. Samt und sonders gehören sie zur Ortschaft Burg, der größten so genannten Streusiedlung Deutschlands. Verkehrstechnisch sind sie über die "Ringchaussee" angebunden. Die wird heute großenteils von den Läufern genutzt und ist aus diesem Grund gänzlich für den Autoverkehr gesperrt. Eine Runde "Spreewald" absolvieren die Halbmarathonis, eine zweite, modifizierte die Marathonläufer.

Kurz vor Kilometer sechs biegt der Läuferstrom westwärts von der Ringchaussee auf ein als Sackgasse angelegtes Sträßchen ab. Das schmale Asphaltband führt tief ins Herz des Spreewalds, zur einsam gelegenen, von Paddelbootenthusiasten im Sommer gut frequentierten Pohlenzschänke. Die Läufer wechseln jedoch bereits nach gut zwei Kilometern auf einen Feldweg. Und damit ist vorerst Schluss mit lustig! Normalerweise beginnt hier die herrlichste Viertelstunde der Spreewaldrunde, zunächst in Schlangenlinien durch eine von Hecken und Bäumen aufs Idyllischste gegliederte Weidelandschaft. Dreimal kreuzt Ines Fließe, genießt wunderschöne Ausblicke. Heute allerdings nur aus dem Augenwinkel! Gummistiefel bräuchte sie nun als geeignetes Schuhwerk, um den vom Dauerregen aufgeweichten, mit Matsch und Pfützen belegten Wanderweg zu passieren. Ein paar Meter vor Ines verliert ein Läufer auf tückisch glitschigem Geläuf das Gleichgewicht und betrachtet für ein paar Momente die Strecke aus ungewollter Perspektive. "Ist alles in Ordnung? Bist verletzt oder geht es?" Ines und weitere Läufer kümmern sich um das Unfallopfer, das sich jedoch sogleich wieder aufrappelt und den Wettbewerb unverdrossen fortsetzt ...

Matsch, Pfützen und die Tiefflugeinlage rauben Ines vor allem eins: Zeit! Davor und danach bleibt sie eindeutig unter ihrer "Marschzahl", auf dem glitschigen Kilometer verliert sie allerdings fast eine halbe Minute. Doch letztlich stacheln alle Unbilden nur ihren Kampfgeist an. Sie will es wissen, spürt, dass sie heute genug Kraft für eine Bestzeit in den Beinen hat.

Trinken! An einem kalten Aprilsonntag auf "nur" 21 Kilometern trinken? Ein paar Schlucke Wasser kurz vorm Start nahm Ines mit auf die Strecke. Durst verspürt sie noch keinen, entschließt sich aber zur Halbzeit einen Becher zu leeren. Bedauerlicherweise im Stehen. Das kostet zwar Zeit geht aber nicht anders. Trinken in der Bewegung verursacht ihr panische Angst sich zu verschlucken. Also weitere 10 Sekunden perdu ...

Jenseits aller Zeitverluste schöpft sie Zuversicht aus den Zeitvorgaben ihrer Marschtabelle am Handgelenk: Nach 11 Kilometern hat sie zwar zwei Minuten auf Sub1:50h verloren, verfügt aber noch über volle drei Minuten Puffer auf die alte Bestmarke. Und sie ist fest entschlossen nun keine Zeit mehr zu verlieren ...

Leider findet sich kein beständig in ihrem Tempo trabender Pacemaker, an dessen Fersen sie sich heften könnte. Eine Zeit lang hängt sie sich an ein männliches Trio, dessen Tempo ihrem "Sturm und Drang" jedoch alsbald zu verhalten erscheint. Auch das dick, nahezu hitzetod-gefährdet in einem Sweatshirt verpackte maskuline "Uhrwerk", dessen konstanter Schritt ihr imponiert, lässt sie alsbald hinter sich. Weiter, immer weiter und jetzt auch schneller. Nie hätte sie im Training geglaubt dieses für ihre Verhältnisse "höllische" Tempo auf so langer Distanz durchhalten zu können: 5:08, :05, :07, :10, :06, :11, :06, :05, 03:, :11! Bis ins Ziel bleibt sie nun ausnahmslos und meistenteils deutlich unter ihrem Soll, holt Sekunde um Sekunde wieder auf. Durst plagt sie mittlerweile. Doch sie stoppt nur noch einmal kurz, trinkt lediglich einen Schluck, verliert kaum Zeit ...

Die neue Bestzeit wird mit jedem Kilometer greifbarer. Was soll sie jetzt noch aufhalten? Das Wetter? Definitiv nicht: Die Aufhellungen überm Spreewald häufen sich und die Straße ist bereits abgetrocknet. Die alte Verletzung am Knöchel? Deren unwilligen Protest hat sie unterwegs immer wieder vergessen, einfach ausgeblendet. Und wie sollte die blöde Sehne es nun zuwege bringen sie in der letzten halben Stunde ... ... auf den letzten 20 Minuten ... ... in der Schlussviertelstunde ... ... auf dem leeeeetzten Kilometer noch zu bremsen?

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Lange vor Ines' wahrscheinlicher Ankunft schnürt Aufregung mir die Kehle zu. Ich halte Blickverbindung zur offiziellen Uhr, die unbarmherzig tickt. Anderthalb Minuten muss ich von der Bruttozeit subtrahieren. Vor Brutto 1:50 h kann sie unmöglich auf die etwa 60 Meter lange Zielgerade einbiegen. Und doch pocht mein Herz schon bei 1:45, :46, :47 bis zum Hals. Wieder einmal öffnet sich für mich spaltbreit eine Tür der Einsicht, gewährt mir einen Blick auf die Befindlichkeit professioneller Trainer: Draußen sitzen, stehen, zappeln müssen und sportartbedingt sehr wenig bis überhaupt nichts für den Erfolg des eigenen Schützlings tun können. Insbrünstig Hoffen, Wünschen, Sehnen, im raschen Wechsel mit Bangen und Zweifeln ... Im Innersten aufgewühlt, emotional zu eintausend Prozent engagiert. Überdruck im Kessel, Überdosen aller Kampfhormone in der Blutbahn ... Renn Ines! Renn! Renn! Renn!

Von keiner Emotion gebremst springt die seelenlose offizielle Zeitmessung gerade auf 1:51:30 h. Nichts zu sehen von Ines. Eine Zeit unter 1:50 h kann es nun nicht mehr werden. Wie hypnotisiert starre ich zur Einmündung der Nebenstraße, an der sie gleich auftauchen wird, soll, MUSS, halte die Kamera schussbereit, so lange schon schussbereit ... Unaufhaltsam verrinnt die Zeit ... weitere 20 Sekunden verstreichen ... 30 ... 40 ... DA IST SIE! Im Ernst jetzt schon?!!! Wahnsinn! Mein Herz vollführt Luftsprünge, lupft mich schier aus den Schuhen. Die Spiegelreflex schießt eine Bilderserie ... Ines' suchender Blick erfasst mich und schlagartig überzieht ein seliges Lächeln ihr von Anstrengung gezeichnetes Gesicht. Noch ein paar Schritte, dann reißt sie die Arme hoch und ist im Ziel ...

... mit neuer persönlicher Bestzeit: Netto 1:51:00 h und damit um mehr als 4 Minuten unter der bisherigen Bestmarke. Auf der zweiten Hälfte der Spreewaldrunde konnte sie noch eine Minute der bis dorthin eingebüßten Zeit aufholen. Bedenkt man die Umstände, dann wären ihr Sub1:50h heute sicher gewesen. Sicher gewesen, wenn ... Aber wir trauern vergebenen Chancen nicht hinterher, feiern stattdessen ihre persönliche Bestleistung als hätte sie einen neuen Weltrekord aufgestellt.

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Du wunderst dich, dass Udo nur als Zuschauer dabei war?

Leider musste ich krankheitsbedingt auf den geplanten Spreewaldmarathon verzichten. Nach der vom Ermüdungsbruch erzwungenen dreimonatigen Zwangspause bis Oktober 2015 verdammt mich ein plötzlich aufgetretenes Augenleiden erneut zu Laufverzicht. Zwei Wochen mindestens, wie lange endgültig, bleibt abzuwarten. Im Tal des Jammers bringt einen Schwarzmalerei nicht wieder auf die Beine. Gegenwärtig hege ich die Hoffnung vom Augenarzt die baldige Lauffreigabe zu bekommen.

 

Fazit zum Spreewaldmarathon

Bis auf den gänzlich unkoordinierten Massenstart gibt es organisatorisch nichts zu bemängeln. Ein um jeweils 5 Minuten versetzter Start für Marathonis, Halbmarathon- und 10 km-Läufer (in dieser Reihenfolge) könnte der Enge auf den ersten Kilometern rascher abhelfen.

Wer im Rahmen des Spreewaldmarathons einen Halbmarathon laufen möchte, hat zwei Möglichkeiten: Zunächst samstags, Start in Lübbenau, beim Biosphären Halbmarathon. Die nicht vermessene Strecke (ca. 22 km) ist jedoch infolge diverser Holzbrücken (nur über Stufen zu "erklimmen") und einiger Kilometer Betonplattenwege (Betonplatten in DDR-Qualität!) anspruchsvoller. Wer sich das nicht antun möchte, wählt sonntags den vermessenen, zu 90 % asphaltierten und flachen Kurs in Burg. Landschaftlich haben beide Runden ihren Reiz, wobei sich die Impressionen trotz räumlicher Nähe (und ca. 2,5 km Übereinstimmung) keineswegs decken.

Für Vielläufer besteht die Möglichkeit 22 + 42,195 km, also Samstag und Sonntag, im Doppelpack zu laufen.

 

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