Mit allem hätte ich gerechnet …  –  Sommeralm Marathon 2015

Wer an der Spitze steht, hat’s nicht leicht. Alle Welt erwartet die stete Wiederholung von Bestleistungen und Titeln. Der Sommeralm Marathon macht da keine Ausnahme. Hannes Kranixfeld, alias Kraxi, und seine Frau Barbara scharen alljährlich Freunde, Bekannte und Gönner um sich. Mit ihnen und einem halben hundert Läufer feiern sie ein wahres, ein grandioses Fest des Laufsports. So war es bisher und nichts anderes erwarte ich 2015. Nicht Maßlosigkeit diktiert diese Haltung, sondern das Wissen um literweise Herzblut und ungezählte Stunden Arbeit, die Babsi und Kraxi in ihren Marathon investieren. Was die beiden auf die Beine stellen ist nicht zu toppen, nicht einmal von ihnen selbst – oder vielleicht doch?

Gemeinsam mit Roxi, unserem schwarzen, rastlosen Vierbeiner, trete ich in diesem Jahr zum vierten Mal den beschwerlichen Weg zur Sommeralm an. Eckard („Rumläufer“) wird die 1.770 Höhenmeter zum zweiten Mal bewältigen. Bereits zwei Tage vor dem Ereignis reisen wir als Fahrgemeinschaft an. Die hält allerdings nur bis kurz hinter Graz. Dann steige ich aus, um die letzten, mutmaßlich 26 km Anreise als Trainingslauf zu nutzen. Nein, mich treibt kein Anfall von Laufsucht. Die Trainingsidee entspringt schlichter Notwendigkeit. Ich „muss“ in dieser letzten harten Trainingswoche vor dem geplanten 24h-Lauf etwa 130 bis 140 km Laufumfang (oder 13 bis 14 Trainingsstunden) sammeln. Dasselbe Ziel verfolge ich auch am nächsten Tag. Dabei überprüfen Eckard, Roxi und ich die auf der ersten 18 km der Sommeralm-Strecke von Kraxi und seinen Helfern ausgebrachten Markierungen.

Beide Trainings nehmen mich in einer Weise mit, die mir im Hinblick auf den harten Marathonkurs Sorgen bereitet. Natürlich wegen der vielen Höhenmeter und den zu erwartenden Temperaturen von 26 bis 28°C. Der wesentliche Punkt ist jedoch ein anderer: In diesem Jahr gelang es mir nicht den Trainingsaufbau meinen Idealvorstellungen anzunähern. Terminprobleme, organisatorische Schwierigkeiten und – nicht zu vermeiden, wenn man fast jedes Wochenende auf einer anderen „Läuferhochzeit“ tanzt – einige Pannen bremsten mich aus. Spätestens in dieser Woche hätte ich regenerieren müssen, was jedoch wegen des in der kommenden Woche beginnenden Taperings vorm 24h-Lauf nicht möglich ist. Also muss ich noch eine harte Woche einschieben, die vierte in Folge. Der 100 km-Lauf vom letzten Wochenende steckt gleichfalls noch in meinen Beinen. Summa summarum: Am frühen Samstagnachmittag hänge ich auf Kraxis Couch ab, fühle mich ziemlich „ausgelutscht“ und feile in Gedanken an einem „Überlebenskonzept Sommeralm“ …

Ich hatte noch nie Schiss vorm Lauf zur Sommeralm, heute dafür umso mehr. Mit 30°C in der Spitze droht die Wettervorhersage und in welch ausgelaugtem Zustand ich an den Start gehe, durfte ich gestern spüren. Vorsatz: Ich werde mein Heil in extremer Zurückhaltung suchen. Konsequent langsam heißt das! Mein auf die Bedingungen des Tages gemünztes Trinkkonzept ist einfach zu beschreiben: So viel Iso an jeder Tränke in mich reinschütten, wie mein Magen-Darmtrakt verkraften kann. Die insgesamt sechs Gels in der Gesäßtasche werde ich erst kurz vor den entscheidenden Anstiegen auf dem zweiten Halbmarathon antasten. Darüber hinaus bereite ich mich auf den eventuell erforderlichen Tabubruch vor: Gehen! Laufen bis ich nicht mehr kann! Von dieser Regel erlaube ich mir auch heute keine Ausnahme. Allerdings rechne ich in einem Körper kurz vorm Übertrainingszustand (wenn nicht mittendrin) mit dem Versagen der Kräfte am finalen Berg.

Roxi zieht die übliche Show ab. Allerdings dient die nicht der Unterhaltung, sondern dem Abbau von Stresshormonen, die ihr schlanker Hundekörper wasserfallartig freisetzt. Spätestens seit ich mich im Laufdress zu anderen Menschen in Laufklamotten gesellte, weiß sie, was gespielt wird. In der Wiese zwischen Startnummernausgabe und Startbereich rast sie zum „Warmlaufen“ ein paarmal hin und her, ganz so, als wollte sie heute den Streckenrekord pulverisieren.

In den Minuten vorm Start, gefüllt mit Streckeneinweisung und Begrüßung durch eine lokale politische Größe, vermag ich Roxi kaum zu bändigen. Als es dann endlich losgeht, setzt sie sich mit vier, fünf gewaltigen Sätzen an die Spitze des Feldes und tut, was ihre explosive Natur ihr befiehlt: Rennen! Das übliche Procedere: Roxi rast nach vorn, erinnert sich meiner, rast zurück, bis sie mich im Pulk ausmacht, zischt wieder nach vorn und so weiter … Ich solle ihr mal ein GPS umhängen, um zu messen, auf welche Distanz sich die Marathonstrecke letztlich für sie summiert, schlägt einer vor. Ein dramatisch hoher Mehrwert käme dabei jedoch nicht zusammen. Erstens normalisiert sich ihre Hormonlage rasch, dann trabt sie im Rudel mit, gönnt sich nur ab und zu ein paar Meter seitwärts, um ihrer Nase zu folgen. Zudem muss ich sie beim Sommeralm Marathon sehr oft an meine Seite beordern, weil auf den belaufenen Nebenstraßen jederzeit Autos auftauchen können. Seit der plötzlichen, für Roxi lebensgefährlichen Begegnung mit einem Milchlaster vor zwei Jahren, lasse ich sie auf diesen Abschnitten nicht mehr frei laufen.

Harter Anfang in unwilligem Körper. Es dauert eine Viertelstunde bis meine Kraftwerke angefahren sind. In dieser Zeit überwinden wir bereits die ersten Buckel. Wüsste ich es nach vielen, ähnlichen Erfahrungen nicht besser, räumte ich mir null Chance ein, das ferne und hohe Ziel Sommeralm laufend zu erreichen. Am raschesten kommt mein bordeigenes Kühlsystem auf Touren: Bereits nach wenigen Minuten überzieht mich ein dichter Schweißfilm und auf der Stirn sammelt sich Wasser.

Konsequent setze ich meine Lauftaktik um, verschleppe das Tempo und orientiere mich an den letzten der insgesamt 39 Einzelstarter im Feld. Im Wald herrscht um diese Zeit (Start 7:30 Uhr) ein angenehm kühles Klima. Nach gut drei Kilometern bleibt der Wald allerdings zurück. Über ein abschüssiges Sträßchen erreichen wir das breite Pöllauer Tal, eine offene, breite, von Landwirtschaft genutzte „Wanne“. Wenig Schatten also. Umso angenehmer die Überraschung der rasend schnell aufgezogenen Wolkendecke, die zunächst die Wettervorhersage Lügen straft.

Zwischen Feldern und Wiesen dahin, einmal per Holzbrücke über einen Bach, zuletzt auf ein paar verstreut liegende Höfe zu. In der vierten Auflage hat die wunderschöne, oststeirische Landschaft keine Überraschungen mehr zu bieten. Sattsehen kann ich mich trotzdem nicht. Rechts voraus, am Berg gegenüber, thront die selbst aus dieser Entfernung noch imposant wirkende Wallfahrtskirche von Pöllauberg. Nach ein paar Minuten nehmen mir Obstbäume die Sicht, dann stehe ich auch schon vor der ersten Labe, wie die Verpflegungspunkte in Österreich heißen. Auch hier setze ich mein Konzept um: Trinken bis die Bauchdecke spannt. Drei ziemlich volle Becher Iso müssen rein, dann gebe ich Roxi das Kommando zum weiterlaufen.

Weiter aber nicht weit: Nach hundert Metern flitzt Roxi zu ihrer Badestelle im Bach. Mit geworfenen Steinen jage ich sie im Wasser hin und her, bis ihre Unterseite vor Nässe trieft. Anschließend schöpfe ich noch Wasser mit der Hand auf Rücken, Hals und Kopf und reibe sie damit ein. Willig lässt sie die Prozedur über sich ergehen, schüttelt sich abschließend und sprengt davon … Nach zeitraubender Kühlprozedur bilden wir mit etwa 200 Metern Rückstand den Schwanz des Wettbewerbs. Bis zum einsamen, hübsch zwischen Wäldern gelegenen Aussiedlerhof ändert sich daran nichts.

Heute hängen die Markierungsbänder in diesem Waldstück noch. Das war in den letzten Jahren am Marathontag mehrfach nicht mehr der Fall, weil sich ein Kleingeist an unschuldigen Markierungen „verging“. Dabei hängen die Schnipsel des rot-weißen Trassenbands lediglich zwei, drei Tage, bis Kraxi sie samt und sonders wieder einsammelt. Auch wenn sich dieser überflüssige und reichlich dumme Akt nicht aufklären lässt, sei die Frage erlaubt: Wie engstirnig und rücksichtslos muss jemand sein, der so handelt?

Hinterm Wald laufen wir zwischen Obstplantagen durch die Ansiedlung „Rabenwald“. So einprägsam der Name der Ortschaft – Rabenwald – so unauffindbar wäre so etwas wie ein Zentrum. Die Gemeinde Rabenwald setzt sich aus verstreut am Südwesthang des Pöllauer Tales liegenden Gehöften zusammen. Sonntag in Rabenwald: Da sind Stille und Idylle fast mit Händen zu greifen. Nur ab und zu tuckert vorsichtig ein Auto vorbei. Obstbäume beidseits des Sträßchens wurden gegen Diebe gesichert wie einst Alcatraz gegen Ausbruchsversuche. Zäune und Netze schützen vor zweibeinigen Langfingern, richten sich vor allem aber gegen geflügelte Räuber.

An der zweiten Labe, wie immer von Kraxis Frau Babsi, der „Seele des Sommeralm Marathons“, betrieben: Ich leere einen Becher Iso und lasse mir zweimal nachschenken. Babsi möchte Roxi und mir gerne noch etwas Gutes tun. Wir sind aber schon zufrieden, bedanken uns und traben wieder los. Ein prüfender Blick gen Himmel bestätigt die Tendenz: Lange kann es nicht mehr dauern, bis die Wolkendecke aufreißt. Wir arbeiten einen wahren Flickenteppich aus Wald und Freiflächen in stetem Wechsel ab. Wo heute Gras wächst, Obst an Spalieren gedeiht oder Feldfrüchte geerntet werden, erstreckte sich vor Urzeiten dichter Wald. Steirische Bauern rodeten große Areale des Rabenwaldes, ließen jedoch zusammenhängende Streifen und Haine als Windschutz, für die Jagd und als Holzreservoir stehen.

Abschüssige Stücke haben Seltenheitswert. Ich gewinne stetig an Höhe. Stetig aber betont langsam. Sobald die Schrittfrequenz dem Automatismus des im Training programmierten Takts folgen will, nehme ich mich bewusst zurück. Obwohl ich mich kräftig fühle, führen noch immer Bedenken Regie. Will mich nicht frühzeitig „leer laufen“ und in der zu erwartenden Hitze schlapp machen. Und die Hitze wird bald einsetzen. Die blauen Flecken zwischen Wolkenweiß nehmen an Größe und Zahl ständig zu …

… 15 Kilometer liegen inzwischen hinter uns, wofür wir uns fast 1:50 h Zeit ließen. Der Himmel beendete vorzeiten die Schonfrist für Läufer. Seitdem schneidet die Ideallinie des Kurses jedes Fleckchen Schatten, ignoriert so unwichtige Dinge wie Verkehrsregeln für Fußgänger oder die Tatsache, dass die kürzeste Linie zwischen zwei Punkten eigentlich einer Geraden folgt. Noch immer der Wechsel zwischen Wald und Grasland. Von hier oben belohnt er den Läufer vielfach mit einem reizvollen Blick über die nordöstlich gelegenen Höhen der Steiermark.

Unterm Naturdenkmal, dem uralten, mächtigen Baum auf der Passhöhe, erfrische ich mich bereits zum vierten Mal. Wieder schütte ich so viel Iso wie möglich in mich rein. Seit die Sonne zum Dauergast avancierte leide ich unter enormem Schweißverlust. Offizielle Wegmarke: Kilometer 17,7. Ein Blick auf die Uhr bestätigt, dass ich mein „Überlebenskonzept Sommeralm“ wortgetreu umsetzte. Brauchte für den Weg bis zum großen Baum gut 10 Minuten länger als beim gestrigen Trainingslauf mit Eckard. Dank dieser Zurückhaltung fühle ich mich noch stark genug die wirklichen Herausforderungen auf dem Weg zur Sommeralm zu bewältigen. Und schon verschießt Optimismus ein paar Breitseiten gegen Bedenken: Vielleicht schaffe ich es ja doch, wie dreimal zuvor, alle Härten laufend zu bewältigen …

Auf dem Kilometer nach dem großen Baum fühlte ich mich noch in jedem Jahr besonders wohl. Irgendwie angekommen. Ist nur so ein Gefühl, nicht wirklich erklärbar. Du joggst irgendwo vorbei und spürst den Drang dich dort länger aufzuhalten. Ganz sicher hängt es mit dem satten Grün der Wiesen hier oben zusammen. Außerdem fehlt jegliche Art der Begrenzung. Riesige Weiden ohne Zäune. Wieso fiel mir das in den Vorjahren nicht auf? Seltsam. Ein Empfinden von Weite stellt sich ein, zu dem auch die herrliche Aussicht Richtung Westen ihren Teil beiträgt. Wer will kann bis zur Sommeralm hinüber sehen und dort das Windrad in Zielnähe ausmachen. Winzig klein und noch entsetzlich weit weg. Heute verkneife ich mir das, will mir nicht selbst den Boden unter den Füßen wegziehen.

Nach etlichen Kilometern an meiner Seite genoss Roxi im übersichtlichen Gelände ein paar Minuten Freiheit. Als der Wassertrog am Weidezaun in Sicht kommt, tippelt sie längst wieder neben mir her. Wir klauen den Wiederkäuern ein wenig von ihrem Wasser. Den kleineren Teil schlabbert Roxi mit langer Zunge, mit einem Vielfachen davon reibe ich ihr Kopf und Rücken ein. Ein Hundeschütteln und wenige Minuten später finden wir uns in einer fordernden S-Kurve wieder. Drei meiner Kontrahenten ist Laufen zu mühselig, deshalb ziehen wir langsam an ihnen vorbei.

Kilometer 20: Letzte Labe vorm „Sturz“ ins Tal, bei dem wir binnen 4,5 km etwa 450 Höhenmeter verlieren. Mit zwei Bechern Wasser spüle ich das erste Gel des Tages in den Magen. Dem mörderischen Gefälle folgt ein gleichermaßen mörderischer Daueranstieg von 600 Höhenmetern. Bis dahin bleibt meinem Magen-Darmtrakt eine halbe Stunde, um die Kohlenhydrate des Gels bereitzustellen. Ein Dankeschön an den Helfer, dann tauchen Roxi und ich in bewaldetem Hohlweg unter. Wer sich traut, kann jetzt mit ausgreifenden Schritten – sozusagen im Sturzflug – Zeit gutmachen. Mir fehlt dafür der Mut. Scheue einerseits das Risiko, will andererseits Energie sparen und mich ein wenig erholen. Bei Letzterem hilft die unter dichtem Blätter- und Nadeldach noch immer angenehm kühle Waldluft. Obschon verfrüht und eigentlich grundlos, zeigen meine Zuversicht und die Anzeige des Höhenmessers total gegenläufige Tendenz. Gibt es eine Instanz in mir, die den glücklichen Ausgang des Sommeralm-Abenteuers 2015 schon im Voraus ahnt? Ich hoffe es sehr und noch mehr, sie möge mich nicht zum Narren halten …

Auch hier im Wald scheint Verlaufen absolut aussichtslos. Um das zu schaffen, müsste einer schon völlig achtlos oder mit geschlossenen Augen unterwegs sein. Wo der Weg verzweigt, mithin noch am ehesten die Gefahr besteht eine falsche Richtung einzuschlagen, weisen kalkweiße Sperrlinien den Irrläufer zurück. Kurz aufwärts, auch ein Stück eben, vorbei an hübschen Blumen in lila und gelb, dann neuerlich in heftigem Gefälle endgültig zu Tal. Zuletzt über Asphalt, wobei von der Bundesstraße im Talgrund bereits unüberhörbar Fahrgeräusche durch die Bäume dringen.

Rambo erkenne ich schon von weitem. Wenngleich nicht sonderlich imposant von Statur, kann man Rambo weder übersehen, noch verwechseln. Zumal dann nicht, wenn er wie jetzt die komplette Galerie seiner Tatoos auf entblößtem Oberkörper, Armen und Hals ausstellt. Ich kenne Rambo vom Marathon im Bergwerk Merkers (Thüringen) im Februar dieses Jahres und aus dem Vorjahr, da er selbst in Windeseile die Sommeralm erstürmte. Heute hilft er an Labe Nummer 6 beim Ausschenken der Getränke. Wir begrüßen uns herzlich. Spitzname und Fülle der Tatoos stehen in krassem Widerspruch zu Rambos Wesen: Ein wirklich netter Kerl und guter Laufkamerad. Nur kurze Zeit bleibt für das Wiedersehen, dann mache ich mich innerlich bereit …

… den Kampf gegen die „Wand“ aufzunehmen. Oder sollte ich sagen: „Den Kampf in der Wand?“. Anderthalb Kilometer Anlauf im Talgrund am Rand der viel befahrenen Bundesstraße, dann nach links und steil bergauf. 20 % Steigung, sicher nicht viel darunter – die Wand. „Keiner hat gesagt, dass es leicht wird“. Eine von drei sinnigen Spruchtafeln, die Kraxi gestern aufstellte. Stimmt: Alle haben gesagt, dass es schwer wird. Vor allem habe ich mir das selbst immer wieder innerlich vorgebetet, um nicht den Fehler zu begehen den vierten Anlauf zur Sommeralm zu unterschätzen. Eine Strecke (vergleichsweise) gut zu kennen heißt nicht, dass der Kampf um das Finish auch nur ein Jota weniger Muskelschmalz erfordern würde.

Extrem langsam aufwärts tippelnd überholen Roxi und ich einen Nordic Walker. Zumindest sucht der Mann hier „in der Wand“ Zuflucht zu dieser Sportart, auch wenn ihn die Startnummer als Sommeralm-Teilnehmer ausweist. Armkraft und Stöcke helfen ihm die Steilpassage zu überwinden. Stöcke zum Laufen mitnehmen? Für mich eine höchst bizarre Vorstellung. Das hat was von „überflüssigem Ballast“, auch wenn meine heftig fauchende Lunge und die Wasser im Übermaß verströmenden Poren gegenwärtig eine andere Meinung vertreten. Außerdem empfände ich mich mit Stöcken nicht mehr als „vollwertiger“ Läufer. Was die Sportart Laufen angeht, verstehe ich mich eher als Purist: So wenig Hilfsmittel und so wenig Ablenkung wie nur irgend möglich. Laufen, nicht gehen, zumindest so lange es die Umstände zulassen. Und die ließen es meistens zu, weil ich mich Wettkämpfen nur in gut austrainiertem Zustand stellte. Heute bin ich eher „übertrainiert“ und aus diesem Grund mit mutmaßlich schwächelnden Akkus unterwegs. Mal sehen was geht …

Nach sicher nicht mehr als 300 Metern taucht am Steilhang über mir das kleine malerische Kirchlein auf. Inzwischen habe ich einen erfolgversprechenden Rhythmus gefunden. Auf die letzten, winzigen Steppschritte „in der Wand“ folgen längere als die Steigung ein erträglicheres Maß annimmt. Für einen halben Kilometer geht es geradezu „kommod“ hinan. Zumindest empfinde ich das so. Das mag an der augenblicklich erträglicheren Steigung liegen, ist vermutlich aber auch weiteren zwei Gels geschuldet, die ich mir an Rambos Tränke einverleibte.

Labe Nummer 7: Hier spare ich Gel und trinke Iso. Unmengen Iso, bis kurz vor der Übelkeit. Denn Steilheit und pralle Sonne verbünden sich zu einer Allianz, die mich auf den nächsten vier, fünf Kilometern auspressen wird wie eine Zitrone. Wo ist eigentlich Roxi? Normalerweise umschleicht sie Verpflegungsstände wie ihren Futternapf. Aus demselben Grund, wie man sich unschwer vorstellen kann. Im Moment verharrt sie wie eingefroren im Halbdunkel eines Stadels und fixiert eine junge Katze, keinen halben Meter von ihr entfernt. Ihr langsames Schwanzwedeln spricht eine klare (Hunde-) Sprache: Mietze ich mag dich! Immerhin ist Roxi mit Katzen aufgewachsen. Kann die kleine Graue aber nicht wissen. Also buckelt sie, faucht und vollführt einen Satz in Roxis Richtung. Roxi weicht reaktionsschnell zurück, geht auf Abstand, setzt aber ihr schwanzwedelndes Liebeswerben fort … Ich bedanke mich bei der Helferin an Labe 7 und beende das Hund-Katze-Intermezzo: „Roxi zu mir!“

Aufwärts in der Sonne, immer weiter aufwärts. Jedes noch so kurze Waldstück empfinde ich als Geschenk. Mal um Mal spüre ich in mich hinein: Noch ausreichend Kraft? Sie fließt stetig und ich komme nicht umhin zuzugeben, dass mir der Berg weniger zusetzt als die letzten dreimal. Und doch: ‚Halte dich zurück! Du hast noch viele Höhenmeter vor dir und die Sonne wird dich austrocknen!’ Vorbei an der 30 km-Marke, wieder in einem Wäldchen. Dann in den Weiler Salleg und zur nächsten, höchst willkommenen Tränke. Gel plus Wasser plus Iso. Viel Wasser und viel Iso. Roxi bekommt ihre Abkühlung aus einer Wasserflasche. Darüber hinaus genießt sie die volle Aufmerksamkeit der Helfer. Schließlich löst sogar einer den Deckel einer Tupperschüssel, um ihn mit Schlabberwasser für Roxi zu füllen. Entgegen sonstiger Gewohnheiten nimmt Roxi dieses Angebot an. Da sie von Höflichkeit eher weniger hält, muss sie wirklich durstig sein …

Ein Begleitradler erweist mir den Gefallen und schießt ein Bild von uns. Bei momentan moderater Steigung fällt mir das zum Gelingen des Fotos erforderliche Lächeln nicht einmal schwer. Überraschenderweise spüre ich keinerlei Anzeichen von Ermüdung oder schweren Beinen.

Straßenblockade in einer Hofdurchfahrt. Weder Pkw-Lenker noch Wohnmobilfahrer (selbst schuld, wenn er mit seinem „Möbelwagen“ dieses schmale Sträßchen nutzt) können mit ihrem Fahrzeug umgehen. Der Läufer weicht aus und lässt das Knäuel aus Blech unentwirrt zurück. Weiter. Noch ein paar Minuten, dann bin ich oben. „Oben“ bedeutet natürlich noch nicht am Ziel. „Oben“ meint, dass dann der erste von zwei Brachialanstiegen hinter mir liegt. Dazwischen ist Erholung auf drei eher abschüssigen Kilometern angesagt.

Also bald „oben“. Doch vorher überhole ich noch einen, dem die Kraft auszugehen scheint. Ich höre ihn fluchen und sehe ihn alsbald mit Dehnübungen befasst. „Hast du einen Krampf?“ bemitleide ich den armen Kerl. „Fängt gerade an!“ antwortet er frustriert und bleibt, seine Dehnanstrengungen intensivierend, zurück. Ich empfand es schon immer als großen Segen mit dieser Plage nicht geschlagen zu sein. Nur einmal in über 150 Marathons und Ultras beutelten mich Krämpfe. Das war allerdings damals den im Bergwerk in Sondershausen vorgefundenen extremen Bedingungen geschuldet.

Kilometer 33: Oben! Oben und nicht müde!! Nur noch neun Kilometer bis ins Ziel. Noch mal herbe 400 Höhenmeter, aber die schrecken mich nun nicht mehr. Labe 9: Dreimal Iso, ein Dankeschön und weiter. Moderat abwärts im kühlen Wald. Zwei Gels trage ich noch in meiner Gesäßtasche spazieren. Letzte Labsal im Doppelpack an der nächsten Tränke. Kurz davor über die Straße und ein befreiendes „Lauf!“ für Roxi. Babsis Schwester Conny und ihr Freund Robert genießen den Tag beim Sonnenbad im Gras. Allerdings nur bis „Gäste an ihren Tresen treten“, um sich zu erfrischen. Dann springen sie auf, reichen Wasser und Iso für mein Inneres und Wasser aus der Flasche für Roxis Äußeres. Scheint ihr gut zu tun die Abkühlung. Wie mehrmals zuvor lässt sie sich das Nass willig über Kopf, Hals und Rücken schütten.

Dem Wald und einem (gottlob nur kurzen) steilen Abschnitt im Fichtenwald entgegen. Dieser Pfad gilt mir als vermutlich härteste Prüfung der kompletten Sommeralm-Strecke. Federnd weich an diversen Stellen, mit Wurzeln durchsetzt, bisweilen liegen Steine im Weg und wie gesagt: Steil aufwärts. Doch weder diese Stolperpassage, noch der sich anschließende weiche Teppich einer Wiese machen mir heute zu schaffen – was mich offen gestanden ziemlich iritiert.

Wieder auf Asphalt und noch sechs Kilometer bis zum Ziel. Linkerhand öffnet sich ein herrlicher Blick in die Tiefe des Talkessels und hinüber zum Weiler „Brandlucken“. Dort warten Duschen, gemeinsames Essen und anschließend die Siegerehrung. Die kurz durch meinen Kopf huschenden Erinnerungsbilder machen meiner guten Laune zusätzlich Feuer unterm Kessel. Längst steht fest, dass ich laufend die Sommeralm erreichen werde. Für die letzten fünf Kilometer muss ich zwar weitere knapp 40 Minuten durchhalten, doch die habe ich zweifelsfrei noch „drin“.

Labe 10: Zwei Becher Iso genügen, brauche so kurz vorm Ziel keine Druckbetankung mehr. Ein Dankeschön ist den ausharrenden Helfern für die zwei Becher Trinkbares dennoch sicher. Und dann packe ich sie an, die letzte Etappe, den Sturmangriff auf die Sommeralm. Die wehrt sich heftig mit Steigungsprozenten. Roxi habe ich an meiner linken Seite „festgeklemmt“. Auf dieser Straße rauschen Autos in hohem Tempo an uns vorbei und – wie könnte es sonntags, bei Prachtwetter und in kurvigem Terrain anders sein – fast ebenso viele knatternde Motorräder.

Ich kämpfe mich vorwärts aufwärts und lege jede Zurückhaltung ab. Im Klartext bedeutet das nun so schnell zu laufen, wie Gelände und verbliebene Ausdauer es zulassen. Jetzt ist jeder Gedanke erlaubt. Auch der mich heute unter Wert gefordert zu haben, wenngleich aus verständlicher Vorsicht. Auf diesen letzten Kilometern spüre ich in seltener Klarheit, dass weitere 20, 30 Kilometer möglich wären. Einerseits eine Bestätigung für das bisher erfolgreiche Training. Andererseits der Hinweis, dass ich ebendiesem Trainingserfolg mit etwas mehr Mut heute einen noch kräftigeren Schub hätte verpassen können.

Was nicht heißt, dass ich unzufrieden wäre. Immerhin ging mein Konzept, Tempo und Verpflegung betreffend, wie erhofft auf. Und gleich werde ich meinen 152. Marathon finishen. Allein das ist schon Grund zur Freude. Ein Marathonfinish unter so vielen. Bedeutet dir das denn noch was? Die Frage wurde mir ab und zu gestellt, blieb aber sicher häufiger beim Lesen meiner Laufberichte unausgesprochen. Die Antwort ist: Ja und ob! Langweilig wird Marathonlaufen nie und bei jedem Finish übermannt mich Freude, es wieder einmal gepackt zu haben …

40 Kilometer geschafft, immer ein besonderer Moment auf Marathonpfaden. Heute gönne ich mir ein Foto von der sitzenden Roxi neben der Kilometertafel. Was für ein wunderbarer Hund! Ich bin gern mit meiner vierbeinigen Begleiterin unterwegs, selbst wenn sie so häufig und lange an meiner Seite tippeln muss wie heute. Und trotz des Mehraufwandes – Reisevorbereitungen für Roxi, Kühlen unterwegs, ständig achtgeben, – möchte ich ihre Gegenwart nicht missen.

Eine letzte steile Kurve, dann müsste ich das Ziel schon ausmachen können. Weit voraus duckt sich eine Hütte in den Hang der Sommeralm. Davor parken zahllose Autos. Exakt dort erwartet mich der Zielstrich. Dazu muss ich noch die weit ausladende Linkskurve am Hang hinter mich bringen. Im Vorjahr empfand ich sie als endlos, heute nicht. Heute lege ich sogar noch einen Zahn zu. Auch weil etwa zwei- bis dreihundert Meter vor mir ein weiterer Kontrahent dem Ziel entgegen strebt. Vielleicht schaffe ich es ja noch ihn zu überholen …

Langsam hole ich auf. Dreihundert Meter sind fast aussichtslos viel Vorsprung, wenn nur noch anderthalb Kilometer Wegstrecke vor einem liegen. Laaaange Linkskurve. Kennt er die Strecke? Weiß er, dass wir zunächst am Ziel vorbei und noch eine Schleife laufen müssen? Ist jetzt in Zielhöhe und bleibt auf der linken Straßenseite. Also weiß er es. Ich hole auf. Inzwischen erkenne ich schon die gelben Shirts mit Aufdruck „Team Sommeralm Marathon“ von Babsi und ihrem Sohn Kevin. Sie jubeln mir mit vollem Einsatz zu, als stünde ich kurz vorm Gewinn des New York Marathons … Roxi zeigt sich irritiert: „Der will geradeaus weiter! Aber meinen leckeren Zielkuchen kriege ich doch dort drüben!?“ Babsi ist ob meiner Ankunft ganz aus dem Häuschen, rennt jetzt sogar auf die Straße und mir entgegen …

… Was sagt sie da??? „Du bist zum zweiten Mal Opa geworden! Heute Morgen! Zoe ist da!“ Augenblicklich schießt mir Wasser in die Augen und ich reiße jubelnd die Arme hoch. Zoe! Was für ein hübscher Name. Jetzt habe ich zwei Enkeltöchter, Amelie und Zoe. Für ein paar Schritte hat der Marathon keinerlei Bedeutung mehr …

Zoes Geburt wirkt wie ein Booster und Babsi hat ihn gezündet. Die letzte, in Wahrheit noch einmal ziemlich fordernde Steigung flitze ich hinauf als hätte der Marathon gerade erst begonnen. Wie im Zeitraffer nähere ich mich dem müden Vordermann. Dass ich nach harten 42 Kilometern einer Rakete gleich an ihm vorbeizische, wird er kaum kapieren. Zoe heißt mein Treibstoff! Mit allem hätte ich heute gerechnet, aber nicht mir dir, Zoe! Noch hundert Meter, dann runter von der Straße, Wanderweg abwärts, steil abwärts zuletzt, Kurve nach links und mit irrsinniger Freude durchs Ziel.

Ergebnis: 5:24:16 h, Platz 24 von 36 Männern

Fazit zur Veranstaltung

Glänzend vorbereitet und durchgeführt, wie letztes Jahr und das Jahr davor und davor und davor … wäre eine treffende Darstellung. Nur eben nicht genug des Lobes für eine Laufveranstaltung, die ihresgleichen sucht aber bestimmt nirgendwo findet. Was Babsi, Kraxi und ein großer Stab an ständigen und gelegentlichen Helfern zwischen Pöllauer Tal und Sommeralm auf die Beine stellen, bringt nur zu Wege, wer sich mit ganzer Hingabe dem Hobby Laufsport verschrieben hat. Zuwendung und Gastfreundschaft der Veranstalter sind beispiellos.

Für wirklich wenig Startgeld erhältst du ein Maß an Aufmerksamkeit und Rundum-sorglos-Orga das man nicht hoch genug bewerten kann. Alles inklusive: Strecke, jede Menge Verpflegungsstationen, engagierte Helfer, Zielverpflegung, Transporte, gemeinsames Essen nach dem Lauf, Duschen, Medaille, Siegerehrung und – weil das den beiden Veranstaltern immer noch nicht auszureichen scheint – eine Tombola, bei der nur wenige leer ausgehen.

Mit welcher Leidenschaft und Liebe fürs Detail Kraxi und Babsi zu Werke gehen, kann man zum Beispiel an der diesjährigen Finishermedaille erkennen. Alleine die 50 vorrätigen Unikate verursachten viele Stunden Arbeit: Kieselsteine suchen (-> Familie Kranixfeld), Löcher für das Band bohren (-> Kraxi), Steine in Serviettentechnik bedrucken (-> Babsi und ihre Söhne). Die Servietten spendierte übrigens der Hauptsponsor, der sie eigens für diesen Sommeralm Marathon drucken ließ.

Ich versuche stets Reklame für Sponsoren auszublenden. Für ebendiesen Hauptsponsor, die Firma SMB, Industrieanlagenbau GmbH, mache ich eine Ausnahme. Da fließen nämlich nicht nur Geld und Sachspenden. Der Leiter der Grazer Filiale und andere Mitarbeiter helfen am Veranstaltungstag höchstselbst mit, betreiben Labestationen und gewährleisten die Fahrdienste mit Firmenfahrzeugen.

Nun hätte ich fast die wunderschöne Strecke im Steirer Almenland vergessen. Bei miesem Wetter ist es überall mies, bei schönem Wetter bedeutet der Sommeralm Marathon 42 km Pflege für die Seele von Menschen, die Landschaften lieben.

Wer sich für 1.770 Höhenmeter ausreichend trainiert weiß und den Weg zum Sommeralm Marathon nicht findet ist selber schuld. Denn er bringt sich um ein in jeder Hinsicht einmaliges, nirgendwo sonst so intensiv zu erfahrendes Lauferlebnis. Ich gebe durchaus häufig positive Empfehlungen für Laufveranstaltungen ab. Für den Sommeralm Marathon müsste eine Note oder ein Prädikat allerdings erst noch erfunden werden. Vielleicht dieses: „Note eins mit fünf Sternchen“!

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