In der Parallelwelt   –   Knastmarathon Darmstadt 2014

Hinweis: Innerhalb der Haftanstalt besteht aus verständlichen Gründen Fotografierverbot. Daher ist dieser Laufbericht nur spärlich illustriert. Auf der Seite des Veranstalters kannst du dir einen visuellen Eindruck von der Veranstaltung verschaffen.

Es sind nur ein paar Schritte vom geparkten Auto zum Eingang. Einen Anflug von Beklommenheit kann ich jetzt nicht mehr leugnen. Mit Ines als Geleitschutz bin ich auf dem Weg zum siebten Marathon in diesem Jahr. Wirklich „nur“ ein Marathon, kein auf Ultra verlängertes Kämpfen und Leiden, dazu in brettflachem Terrain. Die innere Spannung hat folglich nichts mit der Aufgabe an sich zu tun. Mich bewegen die Umstände dieses Marathons, die ungewöhnlicher, schräger, bizarrer nicht sein könnten: Gleich lassen wir uns für acht Stunden hinter Gefängnismauern wegsperren, um an einer Laufveranstaltung teilzunehmen!

Vielläufer tendieren dann und wann zu „crazy locations“, um ihre Marathonstatistik zu verbessern; laufen im Bergwerk, in den Gängen eines Bürogebäudes, auf einer 400 m-Tartanbahn oder eben in einer Justizvollzugsanstalt. Was ging mir vor der Anmeldung eigentlich durch den Kopf? Nichts von wirklicher Bedeutung, wenn ich ehrlich bin. Neugier war sicher im Spiel, vor allem aber reizte der „Gag“. Bereits Ende November meldete ich mich an, um einen der wenigen Startplätze für externe Teilnehmer zu ergattern. Und dann war Denkpause. Erst vor etwa zwei Wochen, anlässlich Reiseplanung und neuerlichem Studium der Webseite, sickerte mir ins Bewusstsein, auf was ich mich da einlasse. Mehr als Umrisse vermag ein Webseiten-Text nicht zu skizzieren. Es blieben Fragezeichen und ich verzichtete bewusst auf Mutmaßungen, um mich nicht mit falschen Erwartungen aufzuladen. Die drängendste meiner Fragen beschäftigte sich jedoch nicht mit der Situation, die ich vorfinden würde. Ich war noch nie in einem Knast, noch nie in Gesellschaft von Inhaftierten: Wie werde ich mich dort „drin“ fühlen?

Zweimal öffnete sich die Pforte der Justizvollzugsanstalt Darmstadt-Eberstadt bereits und schloss sich wieder. „Die nächsten 11!“ lautete jeweils das knappe Kommando an die Wartenden. Dass keine längere Warteschlange entsteht, verdanken wir der Vergabe von Einlasszeiten. Tür auf – „Die nächsten 11!“ – und schwupp stehen wir im Empfangsbereich: Der wachhabende Beamte sitzt hinter Glas, vor uns beeilen sich zwei Bedienstete der JVA mit der Identitätskontrolle. Personalausweis wird kontrolliert, abgegeben und eingetütet. Wer will kann seine Wertsachen im selben Umschlag verwahren lassen. Haken auf der Teilnehmerliste, dann schließt sich ein leuchtend gift-grünes Bändchen um Ines’ und mein Handgelenk. „Knastmarathon JVA Darmstadt 2014“ steht drauf und eine Nummer. Klare Worte und kein Zweifel: Dieses Armband garantiert uns den problemlosen Weg in die Freiheit. Klingt bedrohlich, empfindet aber niemand so. Ausweiskontrolle und Kennzeichnung werden von den Beamten zwar peinlich genau, aber völlig entspannt und mit einem Lächeln vorgenommen. Witze machen die Runde, auch von der Ähnlichkeit der Armbänder mit jenen auf einer Neugeborenenstation ist die Rede, damit man die Babys nicht mehr verwechseln kann …

Treppe hoch zur nächsten Station: Gepäckstücke werden durchleutet, Männlein wie Weiblein per Metalldetektor auf Unbedenklichkeit gecheckt. Der Vorgang unterscheidet sich kaum vom Passieren der Sicherheitsschleuse auf Flughäfen. Und wenn, dann allenfalls durch die Freundlichkeit der Beamten hier. Alles geht glatt. Pistolen, MGs und Messer blieben zu Hause. Gleichfalls verbotene Kameras und Handys wurden im Auto deponiert. Am undurchschaubarsten gestaltet sich Teil drei der Einlasskontrolle: Im Besucherraum der Anstalt stehen (heute) Bierbänke im Karree. Wir müssen darauf Platz nehmen und zwar wechselweise, einer mit den Beinen nach innen, der nächste nach außen. Es dauert eine Weile bis sich das Bänke-Viereck gefüllt hat. An einer Wand des Besucheraumes hängt eine bunte Magnettafel. Darauf können Besucherkinder buchstabieren und sicher einiges mehr. Weiteres Spielzeug wird von Banknachbarn verdeckt. „Wie oft hier wohl Mütter mit Kindern dem einsitzenden Vater einen Besuch abstatten?“ raunt Ines mir schaudernd zu. Unwillkürlich kommt mir der witzige – vorm realen Hintergrund allerdings eher deplatzierte – Videospot gegen Raubkopierer in den Sinn: „Noch viermal Singen!“

Die Runde ist komplett, der Diensthundeführer hat seinen Auftritt: „Taschen bitte zwischen die Beine, Reißverschlüsse geöffnet und die Hände auf die Knie! Und keine Sorge der Hund beißt nicht!“ Und dann erscheint die „Hauptperson“, der Drogenspürhund, ein ausgesucht hübscher Deutscher Schäferhund übrigens. Ines, die Hundenärrin, ist sofort aus dem Häuschen. Der Hundeführer hält dem Tier kurz etwas unter die Nase, dann beginnt der Vierbeiner die Runde. Schnüffelt voller Freude an Hosenbeinen, steckt die Nase in die Taschen. Einmal die Innen-, dann die Außenrunde. Unentwegt schwenkt er seine Rute im „Suchmodus“ hin und her. Das kenne ich von unserer Hündin Roxi, wenn sie einem im tiefen Gras verborgenen Ball nachspürt. Das „Suchwedeln“ unterscheidet sich deutlich vorm normalen, freudigen Schwanzwedeln. Die natürlich ergebnislose Suche endet für den braven Wuff mit Lob und Leckerli. Uns öffnet sie die Tür in die Haftanstalt …

Wüsste ich nicht zweifelsfrei, wo ich mich befinde und übersähe geflissentlich die vergitterten Fenster, ich fühlte mich sofort heimisch. Geometrisch klar, irgendwie aber auch nicht langweilig angeordnete Unterkunftsgebäude, zentraler gelegen ein Küchengebäude, Werkshallen, Sporthalle, Sportplatz, alles von gepflegten Außenanlagen eingerahmt und von alten, licht stehenden Kiefern beschirmt. Manche der Kasernen, in denen ich meine soldatischen Jahrzehnte zubrachte, wurden nach ähnlichem Schema erbaut und sahen dieser Anlage zum Verwechseln ähnlich. Erste, noch orientierungslose Schritte und schon stehen wir mitten in einer … einer … 6-/12-/24-Stundenlauf-Kulisse: Üppig bestückter Verpflegungstand, bereits mit Pylonen, Trassenband und Strichen auf dem Asphalt markierte Strecke, schmales Start-Ziel-Tor, Zeitmessmatten, laute Popmusik, die aus Lautsprechern dröhnt. Alsbald beginnt ein Moderator mit Erläuterungen zum Ablauf der Veranstaltung. Helfer wieseln umher, LäuferInnen haben es sich wartend unter Zeltdächern auf Stühlen und Bänken gemütlich gemacht. Flugs nehme ich Startnummer samt Finishershirt in Empfang und kann nun wahlweise mit Ersterer oder Letzterem zum Lauf antreten: Auf der Brustseite des Finishershirts prangen Startnummer und Vorname. Wow! Das hatte ich noch nie. Übrigens bringt einen die Startgebühr zum Knastmarathon nicht gerade an den Bettelstab: Lediglich 25 Euro waren zu überweisen!

Eine gute Stunde bleibt bis zum Start um 10 Uhr. Also erst einmal zur Toilette. Wo ist die? Schräg gegenüber stehen Türen offen. Vereinzelt habe ich dort Läufer reingehen und rauskommen sehen. Also entert Udo gleich mal das Häuschen. Treppe rauf, rein, noch eine Treppe rauf … zwei Männer ziehen sich im Vorraum um. „Gibt’s hier ein Klo?“ – „Ja, die Tür da hinten, aber da ist grad noch einer drauf!“ – Irgendwie nicht „offiziell“ kommt mir die „Location“ vor, aber was soll’s. Umhausung wird frei und Udo erledigt, was erledigt werden muss. Verlässt den Lokus und im Abgang dämmert ihm, dass er sich im Umkleidebereich jener Marathonis aufhält, die kein grünes Band am Handgelenk tragen ... Sein versehentliches „Eindringen“ ruft aber niemanden auf den Plan. Weder einen der … mein Gott, wie nenne ich sie jetzt? … also, weder einen der sich umziehenden Häftlinge, noch jemand vom dezent im Hintergrund stehenden Wachpersonal.

Startnummer aufs Hemd spicken, fertig. Ein Kaffee wäre nicht schlecht. Irgendwie verstreichen die Minuten. Ich versuche die Atmosphäre des Ortes jenseits der Laufveranstaltung zu atmen. Es gelingt mir nicht. Schon gar nicht wollen sich Bilder aus einschlägigen Filmen vor dem inneren Auge einstellen. Die Flucht aus Alcatraz, Gefängnis-Innenansichten aus Fernsehkrimis und diverse andere filmische „Einblicke“ ins Häftlingsleben passen so wenig hierher, wie … wie … wie … Sie haben einfach keinen Platz in diesem von Sonne durchfluteten Marathonsonntag. Apropos Sonne: Zum siebten Mal trete ich in diesem Jahr an und zum siebten Mal scheint die Sonne. Ich bin ein Glückspilz. Alles rosarot. Und doch: Das hier ist ein Knast! Man muss es sich vor Augen führen. Ich nicke in Richtung der vergitterten Fenster und spreche es halblaut vor Ines (aber mehr um mich selbst zu überzeugen) aus: „Dahinter sitzen Menschen. Eingesperrt.“ Menschen, die anderen Menschen so massiv geschadet haben, dass sich die Gesellschaft ihrer für einige Zeit „entledigte“. Das ist hier ein Ort des Strafvollzugs.

Bei diesen oberflächlichen Feststellungen – ausgesprochen oder gedacht – bleibt es vorerst. Was in den Zellenblocks vor sich geht entzieht sich der Einsicht. Egal wie dramatisch oder auch undramatisch es sich dort leben mag – das Weggesperrtsein passt nicht zum Festcharakter einer – besser: dieser – Laufveranstaltung. Animiert von Vorbildern und eingedenk meiner morgendlich endlosen Anlaufzeit lasse ich Ines unterm Zeltdach zurück und trabe mich ein bisschen warm. Zugleich eine willkommene Möglichkeit die Strecke in Augenschein zu nehmen. Oder will ich mich einfach nur ein bisschen umsehen im Knast? Die Strecke zu beschreiben ist einfach und ein Ding der Unmöglichkeit zugleich. Einfach: Im Grunde laufen wir eine Hälfte hin und die zweite Hälfte zurück. Eine Wendestrecke also. Unmöglich: Das jedoch um viele Ecken plus „Ausbeulung“. Nur wer den Pfeilen in der von meinem Forerunner aufgezeichneten „Spur“ folgt (auf die Skizze klicken), wird sich zurechtfinden. Bei Start beginnen, jeweils in der rechten Hälfte der Spur bleiben, bis zur Wende, dann zurück, der „Aussackung“ um eine Werkshalle folgen, um schließlich nach exakt 1,758125 km das Ziel zu erreichen. Nach der 24. Wiederholung der Schleife werde ich die volle Marathondistanz absolviert haben …

… zum 125. Mal absolviert haben. Ein kleines Jubiläum. Nein, eigentlich ein großes, denn hinter jeder, der wenigen, zum Feiern taugenden Jubelzahlen, die mir noch vergönnt sein werden, steht eine ziemliche Lebenslaufleistung. Erkämpft unter unsäglichen Mühen in nur 12 Jahren. Da stört auch nicht, dass andere im Feld weit mehr Marathons vorzuweisen haben. Auf dem Rücken eines Schweden lese ich, dass er zu seinem 350. Marathonsieg unterwegs ist. Den Moderator höre ich von einem 74jährigen Athleten reden, der mehr als 200 Mal die Ziellinie überschritten hat. Mein Stern strahlt nicht so hell, wie manch anderer, ein aufmerksamer Beobachter wird ihn am Läuferhimmel dennoch nicht übersehen.

Ein Jubiläum also: Wie es begehen? Gemütlich am lockeren Zügel oder meine Pferdchen an die Kandarre nehmen? Ich entschied mich im Vorfeld für Letzteres, aber nicht auf Biegen und Brechen. Ich muss übermorgen wieder trainieren können! Wegen der Ultralauferei der letzten Zeit, in Tateinheit mit wenig Tempoarbeit steht allerdings keine anspruchsvolle Zielzeit im Raum. Vermutlich stellt eine Zeit knapp unter 3:40 h mein derzeitiges Limit dar – wenn alles passt. Also loslaufen, Tempo finden und schauen, was geht.

Die Aufwärmrunde konfrontiert mich mit der Realität: Wachposten in allen Ecken, um Annäherungen an die Außenmauern der JVA frühzeitig zu unterbinden. Mauern, deren schiere Höhe jeden Fluchtversuch aussichtslos erscheinen lässt. Mauern, auf deren Kronen jedes Erklettern in Wolken von rasierklingenscharfem Stacheldraht blutig enden müsste. Allerdings vermitteln die Wachen einen extrem entspannten (um nicht zu sagen „gelangweilten“) Eindruck. Der Himmel über den Mauern erstrahlt in frischem Blau und die Sonne wärmt mir angenehm den Nacken. Vielleicht laufen mir deshalb keine Schauer über den Rücken, lassen mich weiterhin an ein Laufereignis wie viele andere glauben …

Auf dem Parkplatz vor der Haftanstalt trafen wir Matthias und Dominique, zwei Bayern aus Nördlingen. Sie laufen für die „Ries Hornets“*. Ihre athletische, austrainiert wirkende Erscheinung kennzeichnet sie als schnelle Läufer. So was kann täuschen, bei den beiden offensichtlich nicht. Freimütig bekennt Dominique, dass sie stets versuchen unter drei Stunden zu bleiben. Das werde ihm heute jedoch nicht gelingen, da er beruflich und (Knie-) verletzungsbedingt einen ziemlichen Trainingsrückstand zu beklagen habe. Außerdem sorgt er sich wegen der 24 identischen, eintönigen Runden. An diesen Umstand habe ich bislang keinen einzigen Gedanken verschwendet. Nach mehreren 6-, einem 12- und einem 24-Stundenlauf, der sich aus über 200 verdammt „ähnlichen“ Runden zusammensetzte, halte ich mich für „strecken-mental“ unanfechtbar. An sich widerstrebt es mir Sprüche zu klopfen. Fasst einer Wahrheiten prägnant in Worte, gestatte ich mir schon mal eine Ausnahme: Zur Not laufe ich Marathon auch in einer Telefonzelle!**

*) Hornet: Englisch für „Hornisse“; Ries: Als „Nördlinger Ries“ wird ein nahezu kreisrundes, flaches, von Hügeln umgrenztes Gebiet bezeichnet (Ausdehnung 22 x 24 km). Es entstand vor 14,6 Millionen Jahren durch einen Meteoriteneinschlag. Lage: Etwa mittig zwischen den Städten Stuttgart, Nürnberg und München auf Bayerischem Gebiet.

**) An die Teeny-Fraktion meiner Leser: Als Telefonzellen bezeichnete man bis vor 30 Jahren kleine gelbe, verglaste Kästen, in denen der Besucher aufrecht stehen konnte. Die gelbe Farbe symbolisierte den Betreiber, die „Bundespost“, eine damals staatliche Einrichtung. In den Telefonzellen war eine ortsfeste Fernsprecheinrichtung, das so genannte „Festnetztelefon“, als „öffentlicher Fernsprecher“ aufgehängt. Oft funktionierten die Apparate nicht, weil sie Vandalismus zum Opfer fielen. Wer in den Zellen telefonierte (und nur das war möglich, andere Netzdienste waren noch nicht erfunden) fror sich im Winter den Hintern ab und erlitt im Sommer einen Hitzschlag.

Wenn schon falsche Wege einschlagen, dann konsequent: Noch mal aufs „Insassen-Klo“ und überschüssige Flüssigkeit entsorgen. Auf einen der inhaftierten Läufer treffe ich dort noch, die übrigen haben sich bereits unters Laufvolk gemischt. Am Handwaschbecken gehen wir ausgesucht höflich miteinander um. Zumindest von meiner Seite Ausdruck einer gewissen Unsicherheit: Wie soll einer, der wieder raus darf, umgehen mit einem, dem dieser Weg verschlossen bleibt? – Ich melde mich bei Ines zurück und langsam schlendern wir in Richtung Startaufstellung. „The final countdown“ dröhnt aus den Boxen, rollt seinen monumentalen Schallteppich durchs Areal. Sicher noch in der hintersten Zelle zu hören. Ines verabschiedet mich mit guten Wünschen, will mir nicht bis zu meinem Startplatz folgen. Ein letzter Gruß in Richtung Matthias und Dominique, im Kopf der Startaufstellung stehend, dann reihe ich mich irgendwo weiter hinten ein.

Nach drei Umläufen haben sich erste Eindrücke zur Gewissheit verdichtet. Zunächst betrifft das meine heutige Verfassung: Im Ziel werde ich ein Wochenpensum von „nur“ 75 km erlaufen haben. In den beiden Wochen davor waren es jeweils mehr als 100 km. Der Knastmarathon bildet also die letzte Trainingseinheit einer Regenerationswoche, bevor ich das Pensum neuerlich steigere. Wie erwartet – weil es mir in Regenerationswochen immer so erging –, fühle ich mich keinen Deut frischer als etwa vor zwei Wochen beim Stromberg Extremlauf. Eher im Gegenteil. Der Knastmarathon wird also kein „Spaziergang“ werden. Zumal die (derzeit noch „liebe“) Sonne uns in ein, zwei Stunden letzte Flausen aus Hirn und Körper sengen wird … Meine Orthopädie gibt sich heute zurückhaltend störrisch. Klar „zieht“ es an den üblichen Stellen, aber sonst kann ich mich nicht beklagen.

Die zweite Feststellung dreht sich um meine Zielzeit. Ich wollte „loslaufen, Tempo finden und schauen, was geht“. Und bei Letzterem liegt der Hund begraben: Ich kann nicht erkennen, was geht. Natürlich habe ich versäumt mir auf 1,7xxx km bezogene Rundenzeiten zu errechnen. Und mein Forerunner will mich schon nach der ersten Runde mit viel zu viel Distanz betrügen. Eine ziemliche Weile werde ich ohne wirkliche Tempoinfo kreisen. Laufgefühl und GPS machen mich glauben, mit einer Pace von knapp unter 5:20 min/km unterwegs zu sein. Aber ich kann mich auch täuschen.

Wettkampftaktisches und körperliches Befinden beschäftigen mich allerdings viel weniger, als Eindrücke entlang der Strecke. Pro Runde zweimal Freude, wenn ich in Ines’ lachende Augen blicke und von ihr Ansporn einheimse. Nach den Auftaktrunden verzieht sie sich mit einem Stuhl hinter die Umkleidezelte, genießt dort die Sonne und eine kurzweilige Lektüre. Ab da gilt meine ungeteilte Aufmerksamkeit den Zaungästen, die urplötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, an zwei Abschnitten des Kurses auftauchen. Schwarz-gelbes Trassenband markiert die Grenze zwischen ihnen und uns. Sie wurden als Zuschauer vorm Start angekündigt, verbringen auf diese Weise ihren heutigen Aufenthalt im Freien. Von „Freigang“ sprach der Moderator anscheinend irrtümlich***. Häftlinge in Anstaltskleidung begutachen uns. Sie tragen einheitlich weinrotes Sweatshirt und hellbraungraubeige (?) Schlabberhose, sind demnach weit weniger trist ausstaffiert, als man erwarten könnte (wenn man denn etwas erwartet hat). Dass Insassen deutscher Haftanstalten nicht als schwarz-weiße, wie Zebras gestreifte Karikaturen ihren eingeschränkten Lebensraum bevölkern war mir klar. Diese Verkleidung bleibt einer externen Läuferin, samt ihrem ebenso ausstaffierten Begleiter vorbehalten. Bis zum Ende der Veranstaltung finde ich keine rechte Einstellung zu diesem Aufzug. Selbst hätte ich es nie gewagt in so einem Fummel zu erscheinen, der sicher als reiner Ulk, spaßig, augenzwinkernd, gemeint ist. Doch wie wirkt das auf „echte“ Häftlinge? Auf jene, die sich Runden drehend in dieselbe Richtung bewegen oder als Helfer unterstützen und vor allem auf jene, die den merkwürdigen Zug der Lemminge beäugen?

***) Unter „Freigang“ versteht man ein zeitweises Verlassen der Haftanstalt, unter oder ohne Aufsicht, mit der Auflage nach Ablauf der zugestandenen Zeit zurückzukehren.

Mit aller Vorsicht lege ich meine Beobachtungen und Schlussfolgerungen vor. Ich kann nur beschreiben und deuten, was ich sehe. Habe mit keinem Insassen sprechen können (Hätte ich es denn gewollt?). Was mir sofort ins Auge fällt, ist der hohe Anteil fremdländischer Gesichter****. Vermutlich türkischer Abstammung, auch ein asiatisches Konterfei fällt mir auf und solche, deren Vorfahren einst unter nordafrikanischer oder arabischer Sonne lebten. Auch die schwarze Hautfarbe ist vertreten. Darüber hinaus ethnische Einschläge, die ich gar nicht zuzuordnen weiß. Ist der Anteil von Straftätern mit ausländischen Wurzeln tatsächlich so hoch oder heben sie sich in der Masse nur besser ab? Ich gebe zu, dass die scheinbare Überzahl fremder Ethnien mein Bild vom friedlichen Mitbürger oder Gast mit Migrationshintergrund ein wenig erschüttert. Ich registriere ihre Blicke, meist ausdruckslos. Was mag in den Köpfen vorgehen? Die meisten stehen, einige rauchen, betrachten die in beiden Richtungen vorüberziehende Schar. Etliche nehmen keinerlei Notiz vom Geschehen, halten sich weiter hinten zwischen den Bäumen auf. Zwei spielen Schach, eine Runde hat sich unmittelbar neben der Strecke auf einer Sitzbank zum Kartenspiel gefunden. Ein Bein der Schachspieler hängt über das schwarz-gelbe Trassenband und einer der Kartenspieler hockt sogar „ganzkörperlich“ im offensichtlich „verbotenen“ Bereich. Und keinen der unübersehbar postierten Bediensteten stört es. Unverkrampfter kann man Unverkrampftheit nicht demonstrieren …

****) Man möge mir verzeihen, wenn ich mich nicht der üblichen, politische Korrektheit transportierenden Wortwahl befleißige. Das ist weder böse Absicht, noch sagt es etwas über meine Einstellung aus. Mir fehlt lediglich Übung darin.

Aber halt! Da ist noch die Ecke der „bösen Buben“. So jedenfalls taufe ich jenes Areal, in dem sich eine weitere, recht zahlreiche Gruppe von Häftlingen sonnt. Manche tatsächlich mit freiem, nicht selten tätowiertem Oberkörper. „Böse Buben“ ist eine pure Unterstellung, mangels Wissen. Doch warum ist das Freigelände dieser Gruppe extra abgesichert? Warum sind diese Männer durch einen hohen, stacheldrahtbewehrten Zaun von uns isoliert? Atmet dort eine Versammlung besonders hoher Haftstrafen frische Luft? Sind diese Häftlinge gewaltbereiter als die anderen oder muss die Anstaltsleitung bei ihnen eher mit Ausbruchsversuchen rechnen? Ich ziehe es jedenfalls vor, keine allzu neugierigen Blicke in Richtung dieses Zauns zu werfen …

Von der Fraktion der Zugucker, Schach- und Kartenspieler hinterm gelb-schwarzen Trassenband schallt wenig herüber. Zuweilen ein anspornender Zuruf für einen der kreisenden Insassen, von diesem mit knapper Handbewegung quittiert. Durch die Zaunmaschen der Böse-Buben-Ecke frozzelt es sich anscheinend besser. Immerhin bekomme ich bei meinen 24 Stippvisiten die eine oder andere launige Bemerkung zu hören. Mir gelten sie nicht, dessen bin ich sicher, wenngleich ich die Botschaften keinmal zu entziffern vermag. Steht eine der laufenden Frauen im Fokus? Auch so ein Umstand, den ich nicht recht einzuordnen weiß: Die JVA-Darmstadt-Eberstadt ist ein reiner Männerknast. Seltsamerweise besteht die Wachmannschaft aber auch aus Frauen. Nicht, dass ich Frauen die erforderliche Standhaftigkeit und Härte abspräche sich gegenüber Männern zu behaupten. Dennoch hätte ich die Anwesenheit weiblicher Bewacher im Männerknast vorab ins Reich der Fabel verwiesen. Alles nur Klischeedenken?

Apropos Klischeedenken: Es will mir scheinen, als hätte hier drin zu leben egalisierende Wirkung auf das Aussehen der Insassen. Auffällig viele, kurz geschorene Köpfe, auffällig viel tätowierte Hautfläche, auffällig viele Muskelpakete, auffällig viele junge Gesichter. Was davon ist symptomatisch und was eingebildet? Ich war Soldat. Betrachtet man eine angetretene Kompanie, uniform gekleidet, dann fällt es jedem schwer darin Persönlichkeiten auszumachen und Unterschiede. Mit jeder Runde wird mein Blick differenzierter, nehme ich mehr wahr. Aber verstehe ich auch mehr? Ein alter, hagerer Häfltling fällt mir auf. Seine buschig wirre Kopfbehaarung will meinem Klischee widersprechen. Und doch: Viele dieser Männer verströmen die Aura „schwerer Jungs“, gerade so, wie sie sich der „gemeine Tatort-Seher“ vorstellt …

High Noon und der Wunsch nach Hitzefrei kommt auf. Vorhin verdunkelten fette Quellwolken den Himmel. In dieser Zeit herrschten für eine oder zwei Runden tatsächlich ideale Bedingungen. Seit die Sonne die lästigen Wolkenbiester verjagt hat, scheint sie ihre Ausfallzeit durch besonders intensive Bestrahlung nachholen zu wollen. Zu Beginn jeder zweiten Runde gönne ich mir einen Becher Wasser, werde das Durstgefühl aber trotzdem nicht los. Normalerweise müsste ich unter diesen Umständen im eigenen Saft buchstäblich schwimmen. Doch weder perlt der Schweiß, noch trieft meine Laufmontur in gewohnter Weise. Eine Warnung?

Nach acht Runden multipliziere ich die verstrichene Zeit mit „3“ und erschrecke ein bisschen: Ich bin zu langsam. Nicht mal auf Zielzeit-Kurs 3:45 h, von erträumten 3:40 h ganz zu schweigen. Das GPS-Klötzchen am Handgelenk liefert nach wie vor stark fehlerbehaftete Daten. Ob hohe Mauer und massenhaft Metall (Stacheldraht, Maschendrahtzäune, Hallentore) die Satellitensignale infolge Reflexion, Überlagerung, Beugung und anderer Welleneffekte verzerren? Soweit ich das beurteilen kann, bleibt die Abweichung immerhin konstant. Damit lassen die Kilometerzeiten zumindest Rückschlüsse auf die Tempoentwicklung zu. Derzeit laufe ich zwar zu langsam, dafür aber ziemlich konstant. Die später verfügbare Statistik weist für die Runden 5 bis 13 eine maximale Zeitdifferenz von gerade Mal 4 Sekunden aus. Schwer nachvollziehbar, weil ich um Runde zehn herum gegen eine heraufziehende Schwäche kämpfe, sogar einen frühzeitigen Einbruch befürchte. Zum Glück verliert sich das Gefühl dann wieder …

Einige in Weinrot und Hellbraungraubeige folgen noch immer dem Geschehen. Scheinbar unbewegt, wohl kaum desinteressiert, sonst hätten sie sich längst abgewandt. Schachpartie und Kartenrunde gehen weiter, noch mehr Zigaretten gehen in Rauch auf. Unvermittelt dann der Augenblick der Wahrheit. Ich erlebe ihn nur, weil ich just in diesem Moment die gelb-schwarze Trassierung passiere. Das Leben hier drin mag in unverkrampften Bahnen verlaufen, aber es verläuft in unfreien Bahnen. Mit entschiedener Geste schickt einer der Bewacher die Häftlinge ins Gebäude zurück. Folgsam – ein treffenderes Wort fällt mir nicht ein – wenden sich die Insassen vom Geschehen ab. Ich laufe in einer anderen Welt. Eine Art Parallelwelt zu der, aus der ich komme und in die zurück will. Hier gelten dieselben physikalischen Grundlagen, wie jenseits des meterhohen Bollwerks. Das Leben in diesem hermetisch abgeschirmten Kokon folgt allerdings besonderen Gesetzen. Gesetze, die feste Rollen verteilen. Die einen weisen an, die anderen gehorchen. Was immer laute Popmusik, bunter Laufzirkus und das entspannte Miteinander (Nebeneinander?) der letzten drei Stunden suggeriert haben mögen: Das hier ist ein Gefängnis und denen, die hier leben, hat man die Freiheit entzogen.

Vermutlich sitzen die Häftlinge jetzt beim Mittagessen, während wir weiter, ohne uniformes Publikum unsere Runden drehen. Habe ich meine Antennen zu weit ausgefahren? Denke ich zu viel nach über diesen Ort, seine Regeln und seine Menschen? Will ich womöglich nur vor mir selbst rechtfertigen hier zu sein, mir den besonderen Kick zu verschaffen? Sie standen hinter der Absperrung und viele sahen uns zu. Ich lief an ihnen vorbei und schielte (möglichst unauffällig) zu ihnen rüber. Fühlten sie sich beäugt? Vorgeführt? Oder sollte eher ich mich gemustert fühlen? Hier drin müssen die Tage in ätzender Gleichförmigkeit verlaufen, da kann man eine bunte Schar unablässig kreisender Irrer doch einfach als hochwillkommene Abwechslung betrachten. Warum kann ich es nicht damit bewenden lassen? Erst im Nachhinein werde ich verstehen, was mich in diesen Stunden ein bisschen verstört: Wir sehen einander zwar an, zu echtem Verstehen fehlen jedoch Kontakt und Kommunikation.

Ich passe mein sportliches Ziel den Umständen an. 1:53:09 h für die erste Hälfte und die Tatsache, dass mir das Laufen zunehmend schwerer fällt, sprechen eine klare Sprache. Zudem bin ich langsamer geworden. Ein paar Sekunden pro Kilometer nur, aber langsamer. Ich werde versuchen dieses Tempo bis zum Ende durchzustehen. Sieht Ines mir an, dass ich schon jetzt mehr Willen investieren muss, als mir recht sein kann? Ab und an steht sie da, applaudiert, feuert mich an, fragt: „Brauchst du ein Gel?“. Tut gut. Sorgen wird sie sich keine machen. Ich hab’s immer durchgestanden, wieso sollte das heute anders sein? Durchstehen ist für andere im kreisenden Tross sicher schwieriger. Viele der Gesichter sind von der stundenlangen Anstrengung und sicher auch vom unablässig brennenden Stern gezeichnet. Häufig überhole ich gehende Läufer. Auch solche ohne das leuchtend grüne Band am Handgelenk. Zwischen den inhaftierten Marathonis besteht ein hohes Maß an Solidarität. Mehrmals beobachte ich, wie einer der laufenden Insassen einem anderen beispringt, einen Becher Wasser reicht, einen motivierenden Satz übermittelt, stückweit begleitet.

Minuten und Runden ziehen sich in die Länge wie Kaugummi. Einstein lässt grüßen! Körperlich anstrengend ist es immer, mental verlangt der Kurs mir mehr ab als sonst. Es macht einen Unterschied, ob man mit fix vorgegebener Rundenzahl kreist oder eine feste Zahl von Stunden mit Laufschritten zu füllen hat. 16 von 24 Runden habe ich geschafft, werde wohl um die 3:50 h finishen, wenn nichts Böses dazwischen kommt. Anders der schnelle Matthias: Lange hielt er sich bedeckt und hinter den führenden Läufern. Er schonte seine Reserven und ging für alle unerwartet vor kurzem in Führung. „Super Matthias!“ schmettere ich ihm bei der nächsten Begegnung entgegen. Sein Lächeln, mehr noch seine von der langen Distanz völlig unbeeindruckt wirkende Verfassung, geben mir die Gewissheit den baldigen Sieger anzufeuern.

Noch 7 Runden, dann sechs. Ines hat inzwischen feste Position im Zielbereich bezogen, lädt meine mentalen Akkus zweimal pro Runde mit Lächeln und Beifall auf. Matthias finished als Sieger, steht trinkend in Höhe des Zieltors. Ich gratuliere verbal, dann klatschen wir uns ab. 2:55:52 h, eine tolle Leistung! Beim Abklatschen scheint ein wenig Energie auf mich übergesprungen zu sein. Für ein paar Minuten trabe ich weniger beschwerlich. Den Rest sollen Energiegel und Wasser besorgen. Der Verpflegungstisch steht in einer der Kurven des Zielbereichs. Häftlinge als Helfer schenken dort seit Stunden unablässig ein. Und wirklich jedes Mal streckt sich mir eine Hand mit vollem Becher entgegen. Aufmerksamkeit, die bis zum Schluss nicht erlahmt. Außer Wasser, haben sie noch Apfelschorle und Cola im Angebot. Keine Experimente Udo! Es gibt sicher diskretere Orte, um sich zu übergeben, als die Wege in einer Haftanstalt.

Noch fünf Runden, dann vier. Inzwischen wurde ein weiterer Teil der Insassen in die frische Luft entlassen, wieder bis zur gelb-schwarzen Trassierung, nur auf der gegenüberliegenden Seite des Kurses. Auch aus ihrer Mitte hört man erstaunlich wenig Anfeuerung für die Marathon laufenden Mithäftlinge. Kann sein, ich komme nur nie im richtigen Augenblick vorbei. Kann sein, ich irre mich. Doch vielleicht schafft die Fähigkeit sich freiwillig einer Marathon-Tortur zu unterziehen Distanz zu den übrigen Insassen!? Eine Parallelwelt in der Parallelwelt?

Noch drei Runden. Ich bin nicht eingebrochen, empfinde mein Tempo aber als grenzwertig. Erwähnenswert mehr wäre heute selbst dann nicht drin gewesen, wenn ich sorglos hätte drauflos kämpfen können. Immer häufiger überhole ich jetzt Mitläufer. Jene in Karneval-Sträflingskleidung, mal einen Schweden, häufig laufende Häftlinge und andere. Entlang der hohen Mauer brennt die Sonne erbarmungslos. Der Durst wächst und so trinke ich bei jeder Gelegenheit. Noch zwei Runden. Ines klatscht, jubelt, feuert mich an. Zwei Runden, das sind immerhin noch fast dreieinhalb Kilometer. Egal: Vor dem inneren Auge sehe ich eine Kilometertafel: „39“. Das hilft. Wieso das hilft? Keine Ahnung. In Höhe der „39“ fühlte ich manchmal unerwartete Kräfte. Und wenn nicht das, dann machte die Zahl mir Mut, verkündete ein baldiges Ende des Leidens. Nur noch „lächerliche“ drei Kilometer lautet ihre Botschaft. Noch zwei Runden … schließlich beginnt die letzte. Ich zweifele nicht, dass Ines es weiß, will aber sicher gehen und rufe ihr zu: „Letzte Runde!“ Sie nickt bestätigend und verpasst mir einen letzten mentalen Nachbrenner … Abschiede: Zum letzten Mal die scharfe Wende, zum letzten Mal um die Halle, zum letzten Mal auf das Wachhäuschen im Mauereck zu, zum letzten Mal an der langen Mauer entlang. Und dann bin ich im Ziel.

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Trinken, trinken, trinken … dann duschen, essen, ausruhen, Massage. Es gibt von allem viel und reichlich. Alles im unglaublich geringen Startgeld von 25 Euro eingeschlossen. Eine kleine Kompanie Helfer verlagert die Verpflegung Zug um Zug in die Sporthalle, wo um 16 Uhr die Siegerehrung beginnen wird. Wir nehmen teil, obwohl eine Alterklassenwertung unterbleibt. Irgendwie Ehrensache. Groß ist dennoch mein Erstaunen, dass die langen Sitzreihen in der Halle die vielen Menschen kaum aufnehmen können. Auch das ist hier anders. Meist finden Siegerehrungen vor spärlichen Reihen statt, die sich fortschreitend lichten. Reden werden gehalten. Der Anstaltsleiter, eine Vertreterin des hessischen Justizministeriums, ein Abgesandter des Darmstädter Magistrats, ein Sportfunktionär … reine Nervensache. Immerhin wird in Umrissen deutlich, worüber ich mir bisher die wenigsten Gedanken machte: Kern dieser Marathonveranstaltung ist ein Projekt zur Resozialisierung von Häftlingen. Sport als Angebot und Mittel, um sich selbst als Persönlichkeit zu erfahren, die das eigene Schicksal steuern kann. Dann spricht der Organisator des Ganzen, bedankt sich in Richtung Ministerium für Geld und Aufmerksamkeit, bei allen anderen für die Unterstützung, bei uns Externen fürs Kommen und mit ungewöhnlichem Nachdruck bei seinen Häftlingen, dass sie durchgehalten haben.

Siegerehrung: Frauen, Männer, … Beifall. Dann die Sonderwertung – für den Mann am Mikro und inzwischen auch für uns der entscheidende Teil der Ehrungen. Drei der Häftlinge werden für ihre Laufleistungen ausgezeichnet. Wann habe ich zuletzt so wenig routinierte, so unverstellte, so überbordend ausbrechende Freude gesehen, wie in den Gesichtern dieser drei Häftlinge? Ich bin gerührt und applaudiere. Ein würdiger Abschluss einer denkwürdigen Veranstaltung …

Ergebnis: 3:48:33 h, Platz 52 gesamt, Platz 1 in M60

Hinweis:
Zu diesem Lauf und meinen sonstigen läuferischen Aktivitäten ist ein Artikel in der Augsburger Allgemeinen Zeitung erschienen

Nachwort

Immer wieder bricht sich die Opfer-Täter-Diskussion Bahn. Wie viel man für jene tut, deren kriminelle Energie sich gegen andere Menschen richtete, deren Leben schädigte oder zumindest ihr Eigentum. Und wie wenig sich die Gesellschaft um die Opfer schert, die oft ein Leben lang von den Straftaten gezeichnet sind. Ich kann verstehen, wenn der eine oder andere den Darstellungen, Schlussfolgerungen oder auch nur der Tatsache meiner Teilnahme an dieser Veranstaltung an sich, die Anerkennung versagt. Insbesondere bei jenen, die selbst zum Opfer wurden, oder Beziehungen zu Opfern pflegen. Ganz sicher wäre auch ich nicht in der JVA Darmstadt-Eberstadt angetreten, wäre mir dergleichen je selbst widerfahren. Nicht Betroffener zu sein, macht es einem leichter. Ich fuhr ohne bestimmte Erwartungen dorthin, hatte natürlich anerzogene Vorbehalte und Klischees im Kopf. Was ich gesehen habe, muss mein Kopf noch weiter überdenken. Sollte ich je pauschale Vorurteile gegenüber Inhaftierten besessen haben, dann sind sie nun ausgeräumt.

Vor der Kritik, dass sich Menschen für „solche“ Menschen engagieren, dass weitere Menschen mit „solchen“ Menschen gemeinsam einen Marathon laufen, bitte ich folgenden Gedanken zu überprüfen: Keine Gesellschaft der Welt hat das Recht Menschen, die die bestehenden Gesetze brechen, auf Dauer wegzusperren (von gewissen Ausnahmen abgesehen). Es muss die Hoffnung bestehen, nach einer „Bedenkzeit“ wieder frei zu kommen. Eine Bedenkzeit, deren Dauer sich nach der Schwere des Vergehens richtet. Nach dieser Zeit wird der Häftling zum freien Mann und lebt unter anderen freien Menschen. Viele werden neuerlich straffällig, weil sie nichts dazu lernen konnten oder wollten. Weil sie ihre Bedenkzeit ungenutzt verstreichen ließen. Wer sich dagegen aus freien Stücken im Knast vom Nichtläufer zum Marathonfinisher gequält hat, wird draußen mehr mit sich anzufangen wissen. Dessen Perspektive ist nicht länger auf ungesetzliches Handeln verengt. Der weiß, wer er ist und welche Kraft in ihm steckt! Geld kann man verdienen oder stehlen. In keinem Fall kann man sich damit einen Marathonsieg erkaufen!

Das Marathonprojekt in der JVA ist ein Angebot im Rahmen der Resozialisierung von Häftlingen. Was ist dir lieber: Einem verurteilt einsitzenden Rechtsbrecher einen möglichen Weg in die Rechtschaffenheit zu zeigen, oder sein fortschreitendes, wiederholtes Abgleiten in die Kriminalität zu riskieren, aus dem nur wieder neues Leid entstehen kann?

Fazit zur Veranstaltung

Eine Wertung der Strecke ist kaum sinnvoll. Es ist die in einer umschlossenen Anlage bestmögliche, flache Strecke.

Ich schlage niemandem vor in der JVA-Darmstadt-Eberstadt Marathon zu laufen. Das Ganze begann für mich als Gag, hinterließ mich jedoch beeindruckt und zwang mich zum Nachdenken. Es sollte wirklich nur teilnehmen, wer frei von gewissen Vorbehalten ist. Für mich erwies sich der Lauf als wirklich fantastistische Veranstaltung, mit ungeahnten Einblicken und etlichen emotionalen Momenten. Gerne wieder, wenn es mir in die Planung passt.

Die Organisation des Knastmarathon ließ weniger als keine Wünsche offen. Alle Abläufe waren auf den Punkt präzise organisiert. Die strengen Sicherheitsvorkehrungen stören die lockere Atmosphäre des Laufes in keiner Weise. Ausnahmslos alle Beteiligten und auch unbeteiligte Zaungäste trugen mit Disziplin zum Gelingen bei. Für 25 Euro Startgeld wird man schwerlich eine Laufveranstaltung finden, wo man vom Moment des Eintreffens bis zum Verlassen der Siegerehrung derart umsorgt und mit Unmengen an Verpflegung überhäuft wird.

Ein toller, rundherum gelungener Marathonlauf!

 

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