Bayerisches Doppel:   Teil eins in Thurmansbang

Aller guten Dinge sind drei    –   Dreiburgenland Marathon 2014

Nach Thurmansbang, Kreis Freyung-Grafenau, im Bayerischen Wald, eine halbe Autostunde nördlich von Passau, fahre ich gern zum Laufen. Fernab jeglicher Hektik inszeniert hier ein Hotelier seit 13 Jahren „seinen“ Marathonlauf, unterstützt von vielen Helfern des LC Dreiburgenland. Um keimenden Verdacht gleich im Ansatz zu ersticken: Die eine oder andere Übernachtung in seinem Haus fällt dabei sicher ab. Allerdings dürfte das nicht einmal seine persönlichen Kosten decken, von der investierten Vorbereitungszeit ganz zu schweigen. Was also treibt einen zu diesem Aufwand, der im Alltag über Langeweile sicher nicht zu klagen hat? Während der Siegerehrung wird sein Motiv immer wieder in Umrissen sichtbar, wenn er den gesundheitlichen Mehrwert des Laufsports preist. Einen stellt er vor, der sich laufend aus einem Strudel krankheitsbedingten Verfalls befreite. Und sich selbst skizziert er als dereinst übergewichten Klops, den nur der Einstieg in den Ausdauersport – mit inzwischen neun absolvierten Marathonläufen – vor dem körperlichen Ruin bewahrte.

Thurmansbang liegt inmitten einer der schönsten deutschen Landschaften, jedoch entsetzlich dezentral, wenn es ums Laufen geht. Entsprechend überschaubar entwickeln sich die Teilnehmerzahlen der vier Laufwettbewerbe: Zu Marathon, Halbmarathon, 12,45 km- und 5 km-Lauf treten insgesamt gut 200 Aktive an (einschließlich einiger Nordic Walker). Für uns Läufer hat das Vorteile: Keiner der unumgänglichen Fußwege, zum Abholen der Startnummer, zum Start, zum Duschen, zur Siegerehrung, etc. überschreitet 100 Meter. Ines begleitet mich heute zum ersten Mal, anlässlich meines dritten Starts bei einem Dreiburgenland Marathon. Sie wird mit unserer Hündin Roxi am 12,45 km-Lauf teilnehmen, der auch mit einigen Höhenmetern gewürzt ist. Kaum dem Auto entstiegen treffen wir Freunde und Bekannte. Bernie aus Augsburg zum Beispiel, der mit ein paar Laufkameraden der Laufgemeinschaft TOMJ angereist ist. Kurz vorm Start umarmen wir noch Sybille und Dennis, das ultralaufverrückte Paar aus meinem Verein. Irgendwie vermitteln die beiden den Eindruck auf dieser Seite des Globus noch nicht wieder richtig angekommen sein. Vor ein paar Tagen absolvierten sie noch ihr Ultratraining auf Rarotonga, einer der Cook-Inseln im Südpazifik. Nach 32 Kilometern hat man diese größte Insel des Archipels umrundet, wofür man sich bei schwülfeuchten 30°C im Schatten eher nicht so warm einzupacken braucht. Wahrlich kein Mekka des Laufsports, aber wenn man ohnehin dort ist …

Oft treibt der Zufall seltsame Blüten: Im letzten Jahr traf ich hier Sonja und Michael, ebenfalls ein laufendes Paar aus meinem Verein. Als gemischte Mannschaft errangen wir in der Marathonmannschaftswertung den zweiten Platz. Heute – gleichfalls ungeplant – werden Sybille, Dennis und ich denselben gemischten Dreier vorlegen. Ob wir die TG Viktoria Augsburg wieder aufs Treppchen hieven können? – Das „Häuflein der Aufrechten“ vor der Startlinie umfasst zwar deutlich mehr als sieben, endet aber bei etwa vierzig. Das war im Vorjahr nicht anders und bleibt mir auf ewig mit dem mysteriösesten aller Mysterien verknüpft: Kraxi stand am Start – wo ich auch stand – und er entging mir, obwohl – und das beunruhigt mich noch heute – meine Augen unablässig nach ihm suchten. Erst seit Kurzem trage ich beim Laufen eine Brille. Aber so verschwommen sind meine visuellen Eindrücke ohne „Restlichtverstärker“ nicht, dass mir ein bekanntes Gesicht zwischen dreißig, vierzig, fünfzig unbekannten entginge. Einzige Erklärung: Tarnkappen gibt es nicht nur im Märchen und Kraxi besitzt so ein Gerät …

Kurze Ansprache des Streckenchefs: „Hob de Sträckn no mol gondrolliert und g’rammt. Weil a boar Baoan hom de Woch no a Hoiz außa zong. Jetz is’ frei, ouwa bosst’s drotzdem auf!” Ich übersetze für Dennis, der dem hier im „Boarischn Woid“ gesprochenen Idiom nicht so recht folgen kann, oder wenigstens so tut. Dennis steht heute ein bisschen neben sich. Die rechte Lust auf Marathonlaufen will sich so kurz nach dem Südseeabenteuer wohl nicht einstellen. Na und? Wenn es danach ginge bräuchte ich gar nicht erst loslaufen. Wo eigentlich Lauflust ungeduldig mit den Füßen scharren sollte, breitet sich ein eher banges Empfinden von „Wenn das mal nicht schief geht!?“ aus. Fraglos kriege ich die zwei Runden im Dreiburgenland heute gebacken, auch wenn dabei knapp 900 Höhenmeter zu überwinden sind. Aber was wird der Wettkampf in meinem Fahrgestell an Zerrüttungen hinterlassen? Wie wird sich das morgen früh anfühlen, wenn ich in Bad Staffelstein am Start des Obermain Marathons stehe?

Für Uneingeweihte: Ich bin nicht komplett verrückt noch zeitweise verwirrt. Auch Größenwahn und Leichtsinn gehören nicht zu meiner charakterlichen Grundausstattung. Alles ist nur Training. Wer mich kennt, weiß, dass ich diese spezielle Trainingsform „Zwei Marathons an zwei aufeinanderfolgenden Tagen“ nicht zum ersten Mal praktiziere. Vor harten Ultraläufen schwöre ich darauf. Nichts bringt einen Ultraläufer in relativ kurzer Zeit mehr voran, als ein Doppelpack von zwei, nicht zu langsam gelaufenen Marathons. Zwei solche Schläge mit der Keule gegen den Bewegungsapparat in Tateinheit mit der totalen Entleerung der Kohlenhydratspeicher müssen natürlich vorbereitet sein. Und genau aus dieser Quelle speisen sich meine Ängste: Ich bin nicht sicher, ob der Marathon in Barcelona vor vier und der 50 km-Lauf in Eschollbrücken vor zwei Wochen als Grundlage reichen. Wegen der reinen Distanz von 2 x 42 km hätte ich keine Bedenken. In Anbetracht von heute 900 und morgen 700 Höhenmeter allerdings umso mehr. Bis zuletzt zögerte ich mit der Anmeldung in Bad Staffelstein, entschloss mich dann aber doch meinen Saisonaufbau wie geplant umzusetzen …

Alle stehen bereit: Gute Wünsche in Richtung Sybille und Dennis. 10 Uhr: Startschuss und ab … sehr langsam ab, denn vom Start weg geht’s gleich bergauf … durch den Ortskern … an der fotografierenden Ines vorbei (ihr Start erfolgt in 30 min) … und weiter bergan … zunehmend steiler bergan … eine ziemliche Plackerei, wenn man nicht eingelaufen ist. Bald sehe ich von Sybille und Dennis nur noch die Hacken, wie von den meisten Mitläufern. Ich bremse mich, gebrauche dafür innerlich harte Worte. Es MUSS mir gelingen den Lauf nicht völlig derangiert und ausgepumpt zu überstehen. Einen der grundlegenden Paragraphen meines persönlichen Marathon-Gesetzbuches habe ich für heute und morgen außer Kraft gesetzt: Keine Selbstverpflichtung unter vier Stunden zu bleiben! Allerdings ist das alternative Zeitziel recht schwammig formuliert: Wenn’s einigermaßen läuft, unter vier Stunden bleiben, wenn nicht, dann nicht.

Wir erkennen uns auf Anhieb wieder – die Strecke und ich. Immerhin hab ich sie bereits zweimal und dabei jeweils doppelt besichtigt. Es beginnt mit einem steilen Anstieg auf Asphalt, das Dorf verlassend und rauf in den Wald. Vorbei am Abzweig für die 12,45 km-Strecke, den nachher Ines nehmen wird. Noch ein steiler Buckel und dann bereits wieder hinab, brutal steil hinab, auf rissig buckligem Asphalt, unterminiert von Wurzeln. Noch länger hinab, hinab, hinab, zuletzt nach links in einen geschotterten Waldweg. Grün dominiert! Frisches Laub von Bäumen. Der Frühling hier hat gegenüber dem meines Heimatortes einen beachtlichen Vorsprung. Herrlich grünes Grün, von der Sonne zum Leuchten gebracht. Hab ich das noch nicht erwähnt? Die Sonne lacht vom Himmel! Dabei ist es kühl, zumal hier unter unerwartet dichtem Blätterdach. Ideale Laufvoraussetzungen also.

Wir erkennen uns auf Anhieb wieder – mein Körper und ich. Er mich, weil ich wieder dabei bin ihn ans Limit zu bugsieren, wie schon so oft zuvor. Ich ihn, weil er durch die bekannten Zipperlein zu mir spricht. Zuletzt in Eschollbrücken mucksmäuschenstill prescht Fräulein Patella gleich mit der Frage vor, ob das mein Ernst sei, das mit dem Tempo, dazu steil bergab. Fragen, auf die man dem Fragesteller keine befriedigende Antwort geben kann, ignoriert man am besten …

Erste Verpflegung noch im Wald. Mein Konzept heute und morgen: Ausreichend Energiegel in der Gesäßtasche und vom Tisch des Veranstalters nur Wasser zum Verdünnen. Bloß nicht wieder Cola-Wassergemisch anstauen, das dann kurz vorm Finale die Staumauer in falscher Richtung durchbricht …

Die Welt ist schön! Und meine Welt ist in Ordnung, so lange ich das unter Dauerbelastung immer wieder vorbehaltlos zu empfinden vermag. Vor mir öffnet sich der Laubwald, gibt den Blick frei in eine malerische Mulde. Wiesen, Felder, Waldränder, nach Frühling duftende Hecken. Schließlich abbiegen und sich in einer Allee blühender Obstbäume wiederfinden. Wundervolle Außenansicht. Innen sieht es nicht so gut aus, denn innen bin ich nicht ausgeruht. Die Parade der weißen Blütenpracht abnehmend geht es wieder bergauf, zunächst sanft aber irgendwie mühsam. Dann steiler und zurück unters Blätterdach, zuletzt auf weichem Geläuf, jäh ansteigend. Hohlweg, ich habe dich schon immer gehasst! Nicht weit, nur zweihundert Meter, aber steil. Herzfrequenz enteilt, Schweiß ergießt sich aus allen Poren. Brille ab und wischen. Endlich oben, wieder runter, wieder rauf und wieder runter, im Forst, allen neugierigen Blicken entzogen. Nur die Tiere des Waldes fragen sich, was diese Zweibeiner hier merkwürdig Zweckfreies tun. Wenn es sie denn gibt, die Tiere des Waldes, gesehen habe ich keine. Zuletzt stürme ich einmal mehr beherzt hinab, will Zeit gutmachen. Wald bleibt zurück, die Füße traben plötzlich auf Asphalt, ein Stück aufwärts und durch einen Weiler angefüllt mit samstäglicher Geschäftigkeit. Aktivität auf einer Baustelle, dort drüben wird Holz abgeladen, ein Bauer werkelt an seinem Traktor, Kinder spielen in einer Einfahrt …

Die nächsten Kilometer führen über Straßen. Deshalb habe ich Roxi, meine vierbeinige Trainingsgefährtin, an Ines abgetreten. Roxi wird Frauchen „beschützen“ und auf gut 12 km ihren Spaß haben. Erster Straßenbuckel rauf, wieder runter. Zweiter Straßenbuckel rauf und mit Blick auf eine ferne Burgruine neuerlich hinab. Später im Ziel werden Sybille und Dennis die Namensgebung dieses Marathons anzweifeln, denn nur eine Burg ist auf der Strecke des Dreiburgenland Marathons zu erspähen. Die Frage habe ich mir vor Jahren bereits mittels Internetrecherche beantwortet: Die Gegend hat tatsächlich drei alte Burgen zu bieten, doch nur die Silhouette von einer ist auf der Halbmarathonrunde zu sehen.

10 km gelaufen und im Straßengraben lauert ein bisschen hässliche Panik. Beim Blick auf die Uhr springt sie mir katzengleich ins Genick: 52:30 min!? Deutlich zu flott! … … … Oder doch nicht? … … … Vielleicht nicht, denn an dieser Stelle befinde ich mich kurz hinterm tiefsten Streckenpunkt und damit etwa 100 m unter Startniveau. Trotzdem nehme ich mir vor die Steigungen noch verhaltener zu „ertippeln“. – Gar nicht selten brausen Autos vorbei. So stark hatte ich den Verkehr nicht in Erinnerung. Mein Entschluss Roxi nicht mitzunehmen war also goldrichtig. Sie mir kilometerweit an den Fuß „zu klemmen“ und zu führen, hätte mich viel Aufmerksamkeit und Nerven gekostet. – Erneut hinab und in lang gezogenem „S“ alsbald wieder hinan. Wiesen links und rechts, dahinter, mal näher, mal weiter entfernt, erstrahlen Waldränder in hellem Grün. Letztes Jahr um diese Zeit schlief die Natur noch, viel zu lange widerstand jener Winter meinen barschen Verwünschungen. Rein in den nächsten Weiler. Stopp am zweiten Verpflegungspunkt. Meine Startnummer wird notiert, ein Gel verklebt mir Mund und Rachen, zwei Becher Wasser spülen nach und weiter …

Weiter und … natürlich runter … und selbstverständlich wieder rauf … Ich komme mir vor wie ein stampfender Kahn auf wogender See, den die Dünung alle paar hundert Meter hebt … senkt … hebt … senkt. Ausnahmsweise länger talwärts nun und vorbei an der Einmündung der 12,45 km-Strecke. Ein paar Nordic Walker stöckeln noch vom Waldrand her, die Läufer sind längst durch. Walker? Das sieht dann doch mehr nach Wandertag aus. Wozu also die langen Stecken? Ein Statussymbol? – Kurz hinter der Einmündung jogge ich durch die Talsohle. Ein Moment, auf den ich mich schon seit einiger Zeit freue. Grund ist ein kleiner Bach, beschaulich unter Erlengehölz (?) gluckernd, sich mehrfach zwischen Wiesenstücken teilend und wieder vereinigend. Sein Wasser tränkt eine große Kolonie sattgelber Butterblumen. Wunderschön, auch wenn das Idyll vom grauen Asphalt übergangslos beschnitten wird.

Ein steiles „S“ bringt mein Blut zum Sieden. Der pulsierende Saft spült alle schönen Bilder aus dem Kopf. Kleine, nein winzige Schrittchen, Kraft sparen für Runde zwei und … für morgen. Immer wieder denke ich an morgen. Natürlich laufe/lebe ich im Augenblick und genieße jede Sekunde, die mich Form und Streckenprofil genießen lassen. Aber das „Morgen!“ ist wichtig, um zu keinem Zeitpunkt die Tempokontrolle zu verlieren. Keine Eskapaden Udo! – Oben angekommen. Beidseits der Straße verlieren sich ein paar Behausungen im Bayerischen „Outback“. Sind es sechs Anwesen? Sieben? Acht? Egal. Steil talwärts, an einem Fischteich mit kleinem Wasserrad vorbei. Hübsche Spielerei. Vorbei auch an einer kleinen Kapelle, symptomatisch für die tiefe Religiosität früherer Tage. Und vorbei an weiteren (Nordic) Wanderern.

Ich passiere eine der Hauptattraktionen der Gegend, das Museumsdorf Bayerischer Wald. Von außen ist von den musealen Gebäuden so gut wie nichts zu sehen. Natürlich nicht, man soll schließlich Eintritt bezahlen. Über den Parkplatz, vorbei am Haupteingang. Nach kurzer Tunnelröhre – sie unterquert die Bundesstraße –, gefolgt von Treppenstufen muss ich erst wieder meinen Laufrhythmus finden … was mir erst am Ufer des Dreiburgensees gelingt. Wieder Labsal für die Seele: Spiegelndes Wasser, eingerahmt von Wald. Der Uferweg gibt sich anfangs harmlos flach, wirbt um Vertrauen. Schenkt man es ihm, erwischt einen der kurze, steile Buckel umso hinterhältiger. Oben angekommen fällt der Blick auf den dritten Verpflegungsstand. Wasser und weiter. Ich bin allein. Kein Mensch, nicht mal Spaziergänger auf dem breiten Waldweg. An der schmalsten Stelle führt ein Steig über den hier sumpfigen See. Oder teilt er ihn in zwei Gewässer? Taleinwärts, allerdings zu weit entfernt für Details, brüten zwei alte Bekannte. Wie in den Vorjahren gründet das Schwanenpaar auch heuer wieder eine Familie …

Durch schattigen Tann empor, eine Minute, zwei, ziemlich anstrengend. Tatsächlich ein paar flache Meter in der Sonne, dann … ja genau das … mit langen, flotten Schritten hinunter zur Bundesstraße, davor rechts. Nun folgt die unangenehmste Passage des Kurses: Auf grasigem (dank Trockenheit heute nicht so schmierigem), bisweilen steinigem Wiesenweg aufwärts. Linker Hand, nur Meter entfernt, donnern und zischen Autos vorbei. Ein frischer, kalter Wind bläst mir entgegen. Willkommen zur Kühlung und um die Abgase von meiner Nase fernzuhalten. Weiter auf zerfurchtem Feldweg, in den Vorjahren schmierig, pfützig, heute trocken und bucklig. Endlich runter und zur nächsten Tränke, noch 3 Kilometer bis ins Ziel.

Und die haben es dann noch mal in sich. Im guten wie im harten Sinne. Das beschauliche Wiesental macht die lärmende Bundesstraße schnell vergessen. Bach, Bäume, Hecken, Frühlingsblumen, Vögelgezwitscher. Aber leider mit permanentem Aufwärtstrend. Einmal für hundert Meter steil. Dann sanft, stetig, einlullend. Der Puls tuckert leicht erhöht vor sich hin. An dieser Stelle überblickt man ein paar hundert Streckenmeter. Vereinzelt Läufer, von hier wie unbeirrt krabbelnde Ameisen anmutend. Weit voraus die ersten Häuser von Thurmansbang. Noch zwei Kilometer. Zuletzt und bereits wieder auf Asphalt wird’s steiler. Unterführung, dann Straße überqueren, abgeschirmt von der Freiwilligen Feuerwehr. Am Dorfrand aufwärts, hundertfünfzig Meter, links ab, endlich eben … ach nein … eben gibt’s hier nicht … schon wieder leicht abschüssig. Fürs Auge eine Weide, für meine Füße pure Barbarei: Kopfsteinpflaster. Etwa einen Kilometer erkunde ich von Thurmansbang. Zuletzt noch ein brutal steiler, gottlob kurzer Aufschwung, kurz darauf durchs Ziel … 1:55:30 h zeigt die Uhr.

Ich schnappe mir ein angebotenes Gel, trinke Wasser und werde mit – immerhin! – spärlichem Beifall in die zweite Runde entlassen. Ines ist nirgendwo zu sehen. Sie kann erst ein paar Minuten im Ziel sein und hat jetzt sicher genug mit sich selbst (und mit Roxi) zu tun. Ihre Form ist in diesem Jahr mangels Motivation noch nicht so gut entwickelt. 12,45 km mit so vielen Höhenmetern dürften sie ziemlich geschlaucht haben.

Erster und längster Anstieg. Knapp 1:56 h für Runde eins war zu schnell. Kein Zweifel. Allerdings stellt einen das Profil der Halbmarathonrunde, was die Tempofindung für eine bestimmte Zielzeit angeht, vor ein schier unlösbares Problem. Anfangs lange und steil bergwärts, dann ewig runter, bis unter Startniveau. Im zweiten Streckenteil tendenziell aufwärts, allerdings von vielen abschüssigen Passagen unterbrochen. Ich bremse mich am ersten Berg. Winzige Schrittchen. Tippeln. Energie sparen. Kraft ist noch da. Ein zweites Mal kämpfe ich mich durch den Wald. An jedem Buckel lasse ich Zeit. Ganz selten hole ich jemanden ein, noch seltener vernehme ich sich nähernde Schritte hinter meinem Rücken. Abschnitt für Abschnitt genieße ich wunderschöne Ausblicke – zum zweiten Mal. Aber auch die Energie fressenden Anstiege wiederholen sich. Besonders gemein: Erst die herrlich blühende Obstbaumallee, schon sanft bergwärts trabend, dann der Blick in den dunkel drohenden Schlund, gefolgt vom vermaledeiten, sausteilen, weichgründigen Hohlweg. 200 Meter (gefühlt 2.000) mit heftig pumpendem Herzen bergan. Wieder Brille ab, wischen, noch mal wischen, Brille wieder auf. Irgendwann oben, alles beruhigt sich …

Diesmal brauche ich länger für die ersten 10 Kilometer, was mich weder erstaunt noch beunruhigt. Ich werde mich nicht verausgaben! Wenn nötig, werfe ich die Zielzeit Sub4h einfach über Bord! ‚Verstanden Udo? Kein Risiko! Denk’ an morgen! Es geht dir aktuell ausgezeichnet und das soll so bleiben!’ Ein bisschen zwickt es an den neuralgischen Stellen, aber das war nach den wilden Abwärtspassagen im Wald nicht anders zu erwarten.

Auf Asphalt im wogenden Hügelmeer des Bayerischen Waldes: Irgendwann erspähe ich Sybille weit voraus. Sie scheint langsamer geworden zu sein. Tatsächlich verkürzt sich unser Abstand. In einer der Kurven erspäht sie mich und wir winken uns zu. Auf, ab, auf, … Gel schlucken, mit Wasser nachspülen … ab, auf, ab. Sybille hat zwei Gänge runtergeschaltet, uns trennt nun höchstens noch eine Minute. Vor zwei Stunden war ich das letzte Mal auf diesem Nebensträßchen unterwegs und wenig hat sich verändert. Jetzt um die Mittagszeit brauchen wir es nur noch vereinzelt mit Fahrzeugen zu teilen, was ich dankbar registriere. Am Himmel sind dicke Wolken aufgezogen, eher hilfreich als drohend.

Sieben Kilometer vor dem Finish: Der Buckel am Zaun des Museumsdorfes dient mir als eine Art Lackmustest für meinen Bewegungsapparat: Wie „sauer“ fühlt er sich bereits an? Natürlich muss ich nach über drei Stunden Laufarbeit mehr Willen aufwenden, um ausreichend Kraft zu mobilisieren. Und die mechanische Beanspruchung, das Ziepen und Ziehen in Sehnen und Gelenken, ist nicht zu überhören. Zusammengefasst registriere ich allerdings kein Alarmzeichen. Weder eines für den Rest dieser, noch für die ganze morgen zu bewältigende Strecke … Optimismus und Gute-Laune-Pegel erreichen einen vorläufigen Tageshöchststand. Dergleichen führte nicht selten zu Übermut gefolgt von riskanten Laufkapriolen …

Mit unwiderstehlichem Lächeln, jenen sagenhaften Sirenen der griechischen Mythologie nacheifernd, winkt mir Sybille vom gegenüberliegenden Seeufer zu. Ich hätte gute Lust und wohl auch genug Saft in den Akkus, um dem „ewigen Lockruf des Weibes“ zu folgen, um die verbleibenden 300 Meter Abstand rasch zu verkürzen. Anders als Odysseus muss man mich allerdings nicht fesseln, damit ich dem Zauber widerstehe. Rechtzeitig erschrecke ich vor meinen Absichten und den möglichen Folgen einer kleinen Aufholjagd. Ich zwinge mich stehenzubleiben, die Kamera aufs andere Seeufer auszurichten, ein bisschen am Zoomknopf zu spielen, ein Foto von Sybille zu schießen und das alles hauptsächlich aus einem Grund: Zeit verschenken, Abstand auf Uneinholbarkeit verlängern, Gedanken ans Einholen mit Stumpf und Stiel ausrotten!

Auch ohne Tempoabenteuer habe ich reichlich zu kämpfen. Vor allem als auf die idyllische Ruhe rund um den See die lärmende Betriebsamkeit neben der Bundesstraße folgt. Jedes vorbei zischende Fahrzeug betont meinen schneckengleichen Trab. Das fühlt sich wie Bloßstellung an, als zeigte man mit dem Finger auf die lahme Ente. Aufwärts watscheln. Langsam. Genug Zeit. Zeit wofür fragst du? Hat mir wirklich jemand geglaubt (außer mir selbst vielleicht), dass ich heute ein Überschreiten des Vier-Stunden-Limits hinnehmen würde? Abwärts. Schneller jetzt, vorbei am letzten Verpflegungspunkt, das Angebot von Flüssigem dankend ablehnend. Noch drei Kilometer und nun mag ich nicht mehr stehenbleiben.

Zu Beginn des langen Schlussanstiegs kommen die Läufer der 5 km-Runde am Waldrand entgegen und reihen sich vor mir ein. Die letzten zweieinhalb Kilometer werden wir gemeinsam traben. Weit voraus – beruhigend weit voraus! – erhasche ich dann und wann einen Blick auf Sybille. Thurmansbang rückt näher. Unterführung, dann die Straße überqueren. Wo ist die absichernde Feuerwehr geblieben? Schon beim Biertrinken, während hier noch zwei Wettbewerbe laufen? Noch einmal bergan, noch einmal das unangenehme Kopfsteinpflaster. Vorbei an der Schule von Thurmansbang und vorbei an etlichen Feuerwehrfahrzeugen und Feuerwehrleuten. Was tun die hier? Wieso haben sie die Streckensicherung abgebrochen? Blick zur Uhr: Es bleiben reichlich acht Minuten für die letzten etwa vierhundert Meter. Also setze ich die Trippelschrittchen am letzten gemein steilen Straßenbuckel noch ein wenig kürzer als zuvor. Nur nichts mehr riskieren! Die letzten Meter fallen mir leicht, wie immer so kurz vorm Ziel, in der Sicherheit ein weiteres Finish einzufahren. Aber ich merke auch, dass mir die schonende Verwaltung meiner Kraftreserven gelungen ist. Gut so! Ich winke Ines zu, die sich gerade am Zielkanal mit der Kamera in Stellung bringt und überschreite nach 3:55:31 h die Ziellinie.

– – –

Mangels leistungsfähigerer Teilnehmer darf ich den Pokal für den Altersklassensieger M60 mit nach Hause nehmen. Wie bereits im letzten Jahr, nur hatte ich da wenigstens Konkurrenz. Heute blieb ich in meiner Altersklasse Solist, war überhaupt der älteste Teilnehmer der gesamten Marathonkonkurrenz (schon ein ziemlich merkwürdiges Gefühl).

In der Mannschaftswertung erringen Sybille (3:53:39 h, zugleich AK-Siegerin), Dennis (3:45:05 h) und ich immerhin den dritten Platz für die TG Viktoria Augsburg.

 

Ines’ und Roxis 12,45 km-Lauf

Ines kämpft mit zwei Gewalten. Die eine heißt Schwerkraft und wo fühlt man sie am deutlichsten? Natürlich beim Bergauflaufen. Auf den Namen Roxi hört die andere und zerrt an Ines’ Gliedmaßen, als gälte es die Konkurrenz zu gewinnen. Zwischen diesen Kräften reibt sich Ines einigermaßen auf. Aber sich zu erschöpfen heißt nicht, dass man keinen Spaß haben kann. Der kommt auf der abwechslungsreichen, schönen Strecke nicht zu kurz. Nach 1:21:10 h lassen sich Zwei- und Vierbeiner eine Medaille umhängen …

 

Fazit zur Veranstaltung

Dazu wiederhole ich meine Wertung von 2007 und 2013, denn es hat sich nichts entscheidend verändert: Sieht man davon ab, dass viel zu wenige Läufer dieses fantastische Angebot nutzen, dann lassen sich nur Lobeshymen auf Organisation, Strecke, Natur und den Erlebniswert des Dreiburgenland Marathon singen. Die Sportkameraden in Thurmansbang verdienen ohne Zweifel ein deutlich größeres Teilnehmerfeld.

 

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