Die Gnade der frühen Geburt  –  Eschollbrücker Ultra Marathon 50 km

Sonntag, 30. März 2014, Tag eins der Sommerzeit, in Runde vier von zehn:

Es endlich zu klären brennt ihm auf der Seele, das spüre ich; vor allem deshalb legt der schlaksige Sympath im gelben Dress, mit blauer Hose nun Backbord bei mir an: „Und du fährst extra von Augsburg hierher, um zu laufen?“ – Zwei, drei Läufer, in meinem Kielwasser schwimmend, weiß nicht genau wer und wie viele, brüteten schon vorzeiten in verschwitzten Köpfen über dieser Frage. Meinerseits zu unkonzentriert und ihrerseits zu halblaut, um alles zu verstehen, erhaschte ich nur den Fetzen: „ … so weit fahren für einen Lauf ohne besondere Atmosphäre …“ – „Das fällt mir leichter …“ erkläre ich „… als daheim 35 km alleine im Wald zu verbringen!“ Ein zustimmender Seufzer, wieder keine Ahnung von wem, leitet Sturzbäche von Wasser auf meine Mühlen. Dabei habe ich höchstens ein Drittel meiner Motive preisgegeben. Wahr ist außerdem, dass ich Hinblick auf mein gewaltiges Ultraziel im August nun zulegen muss. Den Auftakt vor zwei Wochen bildete der Barcelona Marathon. Danach steigerte ich mein Wochenpensum erstmals in diesem Jahr auf über 80 km. Und nun brauche ich den Fünfziger, um meine „Reichweite“ zu verlängern. Zweitens. Drittens – meist unausgesprochene Absicht, doch immer präsent – will ich meinen Marathonzähler um eins erhöhen. Die Gleichung für heute lautet:  119 + 1 = 120.

– – –

Deswegen also kam ich her, ins Rheinhessische Eschollbrücken, in Spuckweite neben der A 67 gelegen, unweit westlich von Pfungstadt und – wem das immer noch nichts sagt – ein paar Kilometer südwestlich von Darmstadt. Unwach und fröstelnd stehe ich am Start. Unwach, weil ich zwar in der Nähe nächtigte, mein Bewusstsein jedoch nur mit Widerwillen gehorcht, wenn sonntags ein Wecker um 6:45 Uhr (alte Zeit 5:45 Uhr) Aufstehen befiehlt. Fröstelnd, weil ich natürlich nicht bedachte, das eine Stunde früher zu beginnen auch ein paar Grad weniger bedeutet. Also habe ich nichts Langes im Gepäck und erlebe eine der seltenen Gelegenheiten Armlinge überzustreifen. Etwa 85 „Den-Wecker-richtig-Steller und -stellerinnen“ versammeln sich kurz vor 9 Uhr auf der Laufbahn des örtlichen Sportplatzes, um die 50 km-Distanz in Angriff zu nehmen. Ab 11 Uhr werden uns etwa 100 LäuferInnen auf den 5 km langen Rundkurs folgen, um ihre 25 km-Distanz auszutragen. Gelassen und unspektakulär, ohne Startschuss, einfach mit „Los!“, geht’s dann tatsächlich los. Von der Vorstart-Fiebrigkeit großer Marathonläufe – wie jüngst in Barcelona – fehlt hier jede Spur. Wer hier läuft, tut es zum x-ten Mal, sucht weder das „Event“, noch fehlt in seiner Kollektion nach „Baum pflanzen“ und „Sohn zeugen“ ein weiterer Mannbarkeitsritus. 50 km weit läuft ein Mensch des 21. Jahrhunderts nur aus einem Grund: Weil's ihm Spaß macht ...

Runde eins

Wie gesagt: „Los!“ Erste Meter holprig auf Gras, durch ein Tor, scharf rechts, auf sandig festen Weg. Nicht lange, dann steht da ein … Mann mit Hut und … Clownsnase und feuert schon mal an, schickt uns nach links. Wer ist das und was macht der da und wozu die Nase? Streckenposten der besonderen Art? Keine Zeit zum Grübeln, später klären; denn schon nach 80 Metern trappeln wir ein paar Meter aufwärts, um uns sogleich auf der Krone eines Hochwasserdamms wiederzufinden. Wen der vor wem schützt, kann ich nur vermuten: Ein Altwasserarm des Rheins windet sich, Luftlinie nur 7 km von hier entfernt, durch die Landschaft. Und die Fluten von Vater Rhein will sicher kein Eschollbrückener aus seinem Keller pumpen!? Feste, sandige, teils leicht geröllige Spuren im Gras erleichtern das Laufen auf dem Deich. Richtungswechsel: Erst halbrechts, alsbald rechtwinklig rechts, genau auf die A 67 zu. Schließlich runter vom Damm und sofort wieder rauf, neuerlich scharf rechts und ab in den Wald, bevor uns das ständige „Ssssttt … Ssstt … Schrrruummm … Ssssst!“ auf der an dieser Stelle nur 20 Meter entfernten Autobahn überrollen kann. Ein letztes Mal halbrechts, drei Minuten schnurgeradeaus und nach genau zwei Kilometern stoßen wir wieder auf den Mann mit der Clownsnase. Scharf nach links und tiefer in den Wald …

Das Waldstück erstreckt sich beiderseits der Autobahn A 67 und bedeckt ein annäherndes Rechteck von gerade mal 1,3 x 0,7 Kilometern. Diesseits der A 67 eine Rundstrecke von fünf Kilometern darin zu trassieren kann nur bedeuten, dass man uns viel von diesem Hain vorführen wird. Um deinen Rechtsdrall und den Drang diese Lektüre zur Seite zu legen nicht zu verstärken, unterlasse ich weitere Richtungsangaben. Nur noch das: Mit viel Fantasie formt der Kurs eine allseits verbeulte „8“, die so kein Zögling gemalt haben kann, weil frühkindliche Motorik Ecken nicht kennt.

Zum Geläuf darf ich dagegen nicht schweigen, weil es einem abschnittsweise die „Knochen“ malträtiert und einige Körner kostet (Haben das eigentlich alle gemerkt, der verharmlosenden Darstellung auf der Internetseite zum Trotz?). Das meint zum Beispiel 400 Meter holprigen, grasigen Feldweg. Wie viele Läufer haben sich je darüber den Kopf zerbrochen? Nein, ich meine nicht die – objektiv geringe – Gefahr auf solchem Boden zu stolpern, auch nicht die – objektiv schon etwas größere – Gefahr umzuknicken. Anders: Was bedeutet „holprig“ für die Ausdauer? „Holprig“ heißt einen Fuß tiefer, den nächsten wieder höher, spätestens den fünften oder sechsten erneut in eine Mulde zu setzen und so fort. Das sind versteckte Höhenmeter liebe Läufer! Mal eine hypothetische, aber sicher nicht allzu weit von der Realität entfernte Kalkulation: Um diese 400 Meter Feldweg zu überbrücken, brauchst du bei langsamem Tempo etwa 500 Schritte. Angenommen bei jedem zweiten beträgt die Holprigkeits-Höhendifferenz im Durchschnitt zwei Zentimeter. Dann ergibt das:  250 x 2 cm / 100 = 5 m  . Zehn Runden sind zu laufen, ergo summieren sich allein entlang des Feldrains 50 Höhenmeter.

Damit nicht genug: Kurz nach dem Feld dellt die Strecke ein, folgt gut 300 Meter einem Pfad, rein in den Forst und im spitzen Winkel wieder raus. Weicher Boden hier und zur Hälfte gleichfalls holprig. Auch das knochenharte Geläuf, das Wald und Eschollbrückener Wohngebiet trennt ist nicht ohne: Wellenförmig auf und ab bis zum Sportplatz. Und auf dem saugt dir frisch gemähter, federnder Fußballrasen auf unumgänglicher „Schikane“ den Saft aus den Muskeln. Der kleine „Irrgarten“ auf dem Spielfeld vollendet exakt die 5.000 Meter und wird geliebt! Wenn von niemandem sonst, dann von meinen Füßen, die’s gerne auch mal kuschelig haben.

Aber bitte kein Wehklagen und schon gar keine Kritik in vorstehenden Zeilen unterstellen. So will ich sie „keines Wegs“ verstanden wissen. Es soll lediglich zum Ausdruck kommen, dass diese grundsätzlich flache Strecke deutlich mehr vom Läufer fordert, als ein tatsächlich flaches, asphaltiertes Rund gleicher Länge. Und dieser Umstand wird – ohne allzu viel zu verraten – noch eine Rolle spielen …

Runde eins endet nach 28:30 min vor einem von zwei Verpflegungsständen. Der zweite steht bei Kilometer 3 im Wald und offeriert nur Wasser. Hier im Ziel ist der Tisch reichlich gedeckt: Vielerlei Festes, das ich ohnehin nicht runter bekomme; Wasser, Tee, Apfelschorle, Cola. Was vergessen? Ich wohl nicht, der Veranstalter aber das Iso-Getränk. Gerne zahle ich zwei, drei Euro mehr, um meinem Magen rehydrierungs-freundliche Labsal anzubieten. Bei Wettkämpfen, die 4, 5 oder mehr Stunden dauern, kommt der Wiederaufnahme ausgeschwitzten Wassers oberste Priorität zu. Die höchstmögliche Rehydrierungsrate setzt eine Zuckerkonzentration von 4 bis 8 % im Getränk voraus. Bei Cola liegt sie erheblich drüber, bei Wasser „homöopathisch verdünnt“ darunter, und bei Tee ist sie vom Konsumenten gar nicht abschätzbar. Fruchtsäfte – auch verdünnt – ergeben ohnehin kein sinnvolles Sportgetränk, wenn man sie unter Belastung trinkt. Ich will nicht beckmessern, nur mal wieder die Fakten in Erinnerung rufen … In Eile und Verlegenheit greife ich zu Apfelschorle und verdünne es mit einem Becher Wasser. Im Davonlaufen schmiede ich mein Trinkkonzept für die kommenden Runden: Ein Becher Cola des Zuckers wegen, verdünnt mit einem, später zwei Bechern Wasser, für mehr Flüssigkeit und um die Zuckerkonzentration im Magen zu senken …

Runde zwei

Sie steht noch da, die Clownsnase und wird nun persönlich: „Gut Udo! Weiter so!“ Verwundert entferne ich mich Richtung Damm. Woher kennt der meinen Namen … ? Von einem „Strom“ der Läufer kann seit geraumer Zeit keine Rede mehr sein. Nein auch nicht Fluss, weder Bach, noch Rinnsal. Um den Vergleich auf die Spitze zu treiben: Stell dir einen undichten Wasserhahn vor, aus dem es unstet tröpfelt … Manche gehorchen dem menschlichen Herdentrieb und bilden Gespanne, zu zweit, dritt, viert … So auch jetzt, so weit mein Auge dem Verlauf des Deiches folgen kann. Ich laufe derzeit solo. Müsste ich mich als Läufer charakterisieren, wäre diese Eigenheit herauszustellen: Ich orientiere mich nicht an anderen, hänge mich nicht an, kenne auch keinen Drang wegzulaufen. Seltene Ausnahmen – Windschatten suchend oder bei akuter Schwäche in die Waden eines Vordermanns verbissen – bestätigen nur die Regel. Weder suche ich „Einsamkeit im Wettkampf“, noch will ich mich in irgendeiner Weise abheben. Es geht darum den eigenen Rhythmus und das zur Tagesform passende Tempo zu finden. Oder zumindest das Wunschtempo zu justieren.

Ich glaube mein Tagestempo gefunden zu haben. Es pendelt je nach Wegbeschaffenheit zwischen 5:40 bis 5:50 min/km. Ist das zu schnell? Man braucht wenig Fantasie, um mein Tagesziel zu erraten: Fünf Stunden minus eine Sekunde für 50 km. Das sollte möglich sein. Für diese Absicht bin ich derzeit zu schnell. Wer sich auskennt im Laufgeschäft, weiß, dass durchschnittlich 15 Sekunden pro gelaufenem Kilometer einen gewichtigen Unterschied machen. Kann ich das durchstehen? Ich fühle mich gut, aber nicht voll ausgeruht. Woher auch? Nach Barcelona trainierte ich hart, erhöhte mein Wochenpensum merklich und trat diesen Wettkampf ohne schulmäßiges Tapering an. Dieser Fünfziger ist ein Trainingslauf, ein weiterer Test, nicht mehr und nicht weniger. Übrigens kein Test meiner Ausdauer. Nach Barcelona weiß ich ungefähr, wo ich stehe und bin sicher die zehn Runden durchstehen zu können. Ich brauche einen weiteren Beweis für den orthopädischen Aufwärtstrend!! Barcelona, den Lauf ohnehin, vor allem aber die Tage unmittelbar danach, empfand ich als Durchbruch. Keine Fahrgestellprobleme während des Laufs und keine erwähnenswerten Nachwehen. Vor allem konnte ich mich danach im Training rasch wieder voll belasten. Infolge eines gelungenen Finishs ausgeschüttete Glückshormone bewirken dergleichen. Daran knabbert der Trainingsalltag, Erinnerung verblasst, Zwicken stellt sich vermehrt wieder ein, und darum brauche ich heute eine weitere Bestätigung: 50 km ohne Rebellion meines Bewegungsapparats!

Und es lässt sich gut an: Mit Staunen nehme ich das beinahe totale Schweigen der ewigen Meckerer unterhalb der Gürtellinie zur Kenntnis. Noch vorgestern, anlässlich eines popligen 10 km-Joggs, wimmerten die Kniescheiben gramerfüllt vor sich hin. Heute Funkstille! „Atmosphärisches Rauschen“ aber keine Notsignale aus dem orthopädischen Kosmos. Vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb Bruder Leichtfuß sein Tempo beibehält …

„Das sieht gut aus Udo! Mach weiter so!“ Meinen Namen entnimmt er der Startliste, die vor ihm auf einer Art Notenständer liegt. Geheimnis gelüftet. Aber was für eine Aufführung soll das werden? Er steht auf einem nur zentimeterhohen Podest, trägt Steppschuhe und verspricht mit angedeuteten Tanzschritten schon mal mehr. Fred Astaire an der Laufstrecke? Wird er demnächst eine kesse Sohle aufs vielleicht 1 x 1 m messende Parkett steppen? Ansonsten gibt es wenig aus dieser Runde zu berichten: Frau mit zwei Hunden an der Leine beim Gassigehen. Heute gehört der Waldweg uns und das zehnbeinige Gespann stapft nebenan durchs taufeuchte Gras. Danke!

Rundenabschluss nach 57:30 min, zur Belohnung Cola und Wasser wie geplant.

Runde drei

Die Clownsnase fungiert auch als Polizist. Dem fast schon erwarteten „Super Udo! Super Kasimir*! Weiter so!“ folgt nach Sekunden ein forderndes „Bitte links laufen, wegen Gegenverkehr! Gewöhnt euch dran!“ Dass da gar kein Gegenverkehr unterwegs ist, ficht ihn nicht an. Anscheinend eine Frage frühkindlicher Verkehrserziehung mit der man nicht rechtzeitig genug beginnen kann.

*) Der Name wurde von der Redaktion geändert ist dem Veranstalter aber bekannt (Leider konnte Udo sich den Namen des zufällig nahebei laufenden Kameraden nicht merken).

Sieht man mal davon ab, dass ich mangels Tapering auf unfrischen Haxen unterwegs bin, ist mein Glück eigentlich vollkommen. Nix tut weh und die Sonne scheint. Wer auch immer für das Laufwetter heute verantwortlich zeichnet, hat viel für mich übrig. Mein Lieblingshimmelskörper präsentiert sich nicht nur in strahlender Schönheit, man hat die Luft über Nacht auch so weit runtergekühlt, dass sich der Wasserverlust in Grenzen hält. Ach ja! Dem Erfinder von Armlingen wollte ich noch ein kleines Denkmal setzen: Es läuft sich ganz vorzüglich in ihnen und die Option sie abstreifen zu können beruhigt mich ungemein.

Wer sich zu Frühlingserwachen unvermittelt aus dem (muss wohl so sein) weniger gut geheizten Bayern nach Südhessen „beamt“, darf sich verzückt an erstem Grün erfreuen, sich zwischen ausschlagenden Bäumen, grünen Sträuchern und duftend blühenden Büschen tummeln. Angesichts einer in blendendem Weiß erblühenden Hecke stört nicht einmal das Röhren von der nahen Autobahn. Womit hab’ ich das verdient? Barcelona unter azurblauem Himmel und heute schon wieder so ein Tag.

Runde vier

Die Gunst gewährt er jedem, versteht sich von selbst. Aber warum soll mich das dran hindern, die Rotnase ungemein sympathisch zu finden und als persönlichen Unterstützer zu vereinnahmen. Starke Leistung sein Auftritt. Unterstellte fünf Stunden im Kreis ’rum zu rennen ist anstrengend, zugegeben. Aber um einiges länger auf einem Podest auszuharren und sich dabei den Mund fransig zu lobpreisen, scheint mir dann doch zumindest kleinkunstpreisverdächtig. Genau zwanzig Mal jogge ich an ihm vorbei, lasse die Begegnung (Darbietung?) zweimal irritiert auf mich wirken, um mich auf die übrigen 18 Wiederholungen der ultrakurzen Szene zu freuen …

Ich bezeichne mich gerne als mundfaulen Typen, in Wettkämpfen ohnehin, aber auch ganz allgemein. Gerade merke ich, dass das so vielleicht gar nicht stimmt. Immerhin plaudere ich munter auf den gelb-blauen Schlaks an meiner Seite ein. Scheint eher, dass ich möglichen Unterhaltungen defensiv aus dem Weg gehe, im Falle eines unausweichlichen Wortwechsels aber durchaus redselige Attacken reite. Das hat er nun davon! Er hat angefangen! Frug mich, wie es denn angehe, die weite Anreise für einen weitgehend „atmosphärearmen“ Wettkampf in Kauf zu nehmen. Dafür muss er sich nun einen Teil meiner Planung anhören und diverse längstläuferische Meriten meiner Vergangenheit (Futur und Imperfekt nutzen Läufer gerne in ihrer Rede, wenn es im Präsens grad’ nicht so doll klappt …). Wieso quatsche ich den armen Kerl so zu? Nur für die lauwarmen Empfindungen des „Mein-Haus-mein-Pferd-meine-Yacht-Effektes“? Was auch immer an Menschlichem dahinter stecken mag, Runde vier vergeht kurzweilig wie im Flug. Allerdings: Wie jedes andere Dopingmittel hat auch dies mentale Nebenwirkungen und die beschleunigen meine Atmung.

Runde fünf

„Links bleiben! Denkt dran, gleich kommen die Halbmarathonläufer!“ Der rotnäsige Verkehrslotse bleibt konsequent. „Halbmarathonläufer“ hat er gesagt, obschon das so nicht stimmt. Die um 11 Uhr, also in etwa 5 min, zu ihrer Mission Entsandten drehen schließlich 5 Runden, mithin 25 km. Aus dem Auge aber ausnahmsweise nicht aus dem Sinn: Eigentlich könnte die Clownsnase ein Foto von mir schießen. Andernfalls bliebe ich im zu schreibenden Laufbericht unsichtbar. Gedacht, getan: Dammrunde beenden, beim Auserwählten stoppen, mein Anliegen vorbringen, ihm die Digicam in die Hand drücken und weiter. „Aber mach dich vorher bemerkbar, damit ich rechtzeitig bereit bin!“ schickt er mir noch unsicher hinterher …

Irgendwann in den folgenden Minuten huscht die Spitzengruppe der 25 km-Läufer vorbei. Ab jetzt wird’s lebhafter auf der Strecke. Und gleichfalls irgendwann kommt mir in den Sinn, wie verzichtbar Armlinge mittlerweile sind. Also degradiere ich sie zu Pulswärmern. Bis zum Startgelände will ich mir überlegen, ob ich sie in dieser schlampigen Position belasse oder zur Seite lege. Viele Schritte brauche ich nicht, um die wulstige, jetzt komplett unnütze Existenz der Armlinge zu vergessen …

Runde sechs

Mit gut gefülltem Bauch (Wasser plus Cola) zuckele ich betont langsam zum Foto-Shooting. Am Set herrscht allerdings arge technische Verwirrung, was ich schon von weitem erkenne. Die verwirrte Rotnase und eine scheinbar gleichermaßen hilflose Dame stecken die Köpfe zusammen (jedenfalls ist das meine Interpretation der Szene). Darum bleibt mein Winken ohne Reaktion und selbst nach der herrisch ausgestoßenen Anweisung „Foto!!“ schenkt man mir keine Beachtung. „Ich weiß nicht wo man den Apparat einschaltet!“ schallt es mir aufgeregt entgegen, als ich das Set erreiche. „Macht nix! Ich laufe noch mal ein Stück zurück!“ entgegne ich entspannt, händige ihm das nunmehr schussbereite Kästchen wieder aus und jogge den anderen Läufern ein paar Meter entgegen (Will gar nicht wissen, was die sich dabei denken). Also dann: Äktschen! Gottlob gelingt gleich der erste Schuss, ein zweiter Catwalk bleibt mir erspart.

Ich bestreite einen weiteren Abschnitt in Begleitung. Er kennt mich aus dem Läuferforum, hat sich aber noch mal rückversichert, ob ich auch wirklich „der“ Udo bin. An diese spezielle Art der Erstwahrnehmung, die sich dabei vollziehende Metamorphose von der virtuellen Internetexistenz zum laufenden Wesen aus Fleisch und Blut, werde ich mich wohl nie so richtig gewöhnen. Ich kenne ihn nicht und er weiß so viel von mir, als hätten wir ganze Abende am Tresen einer Bar munter plaudernd versoffen. Wie vorhin wird einiges vorgetragen, zur Kenntnis genommen, erklärt, berichtet, nachgefragt, kommentiert und erläutert. Läufe, Leistungen, Umstände .. und wieder bin ich es, der hauptsächlich redet. Hoffentlich kommen meine Sätze nicht irgendwie aufdringlich oder belehrend rüber. Die Gefahr besteht schließlich immer, wenn man eine Sache mit bestimmten Motiven, einer festen Überzeugung und nach fixen Regeln betreibt und mit jemandem darüber spricht; mit jemandem, der sich derselben Sache verschrieben hat, nur eben mit abweichenden Motiven, Überzeugungen, Regeln. Wieder stellt sich nach ein paar durchquatschten Kilometern eine gewisse Kurzatmigkeit ein, diesmal schon intensiver.

Ich nehme die Parade der Rundenzähler ab, die sich auf dem Spielfeld niedergelassen haben, wetze in spitzem Winkel holprig, sandig um einen Baum, biege auf die Zielgerade ein, höre zum x-ten Male meinen Namen aus dem Lautsprecher und vollende den dreißigsten Kilometer nach 2:53:30 h.

Runde sieben

Natürlich spüre ich die 30 Kilometer in den Beinen, ahne jedoch keinerlei Anflug von Schwäche und meinen Knochen geht es nach wie vor ganz ausgezeichnet. Wer würde in solcher Verfassung zurückstecken, sein Tempo senken und neu justieren? Udo jedenfalls nicht, zumal „nur“ noch 20 Kilometer fehlen. So wie ich mich seit Stunden fühle, kann mir doch nichts mehr den Tag vergällen! Ich werde mit wehen Füßen und müde finishen – wie immer – aber ansonsten ohne Zwischenfälle ankommen. Denkt’s und trabt von hinnen …

Runde acht

… von hinnen, bis sich der dritte Begleiter des Tages an seine Fersen heftet. Und der entpuppt sich als Klette. Zum einen, weil wir munter parlierend eine Menge Zeit totschlagen können; vor allem jedoch, weil er meine Schrittmacherdienste schätzt. „Du läufst wie ein Uhrwerk! Da sieht man die Erfahrung!“ Wer hört ein solches Kompliment nicht gerne? Wie oft ich ähnliche Entfernungen schon hinter mich brachte, hat er früheren Gesprächen entnommen. Später wird er mich mit einiger Skepsis in der Stimme fragen, ob es mich nervt, wenn er sich so penetrant an meine Hacken heftet. Und ich werde antworten, dass mir die äußeren Umstände eines Wettkampfs ziemlich egal sind, Hauptsache das Wetter passt …

Er hat sich erklärt und so gehe ich davon aus, dass unser trautes Tête-à-Tête bis zum Finish überdauern wird. Ich halte ohnehin durch und sein Akku – das kann ich mehrfach beobachten und einschätzen – verfügt über noch mehr Ladung als meiner. Also viel Zeit, um sich auszutauschen. Läuferisch – so fängt es immer an – und dann erzählt man sich sein Leben. Vielleicht nicht das ganze, bestimmt auch nicht alles, aber lass es nur lange genug (weit genug) dauern, dann wird aus dem Fremden ein Bekannter. Er hat erst fünf Marathons auf dem Kerbholz und läuft heute seinen ersten Ultra. Ein läuferischer Spätzünder, wie ich damals (klingt wie ewig her, war aber erst vor 12 Jahren). Zum Laufen kam er, weil Fußball nicht mehr ging. Wenn ich das richtig verstehe, verbiss er sich als Verteidiger in die Hacken gegnerischer Stürmer und das in höherklassigen Amateurligen.

Ein paar Kilometer lang bietet uns die berufliche Existenz genügend Gesprächsstoff, meine ehemalige, mehr jedoch seine aktuelle. Beide waren/sind wir Staatsdiener. Allerdings gehört er jener Truppe an, für die der Ernstfall jeden Tag stattfindet. Mit gegenseitigem Wehklagen vertreiben wir uns die Zeit und starten in …

Runde neun

Wehklagen über eine ausufernde Bürokratie, die Polizisten zu lange davon abhält, sich um ihre eigentlichen Aufgaben zu kümmern. Immer verzwicktere Verwaltungsvorschriften werden erlassen, Formblätter kreiert, Richtlinien ersonnen. Und die Politik? Die verstrickt sich in heiße Debatten zum notwendigen Abbau von Bürokratie, während vor den allerorten wiehernden Amtsschimmeln ständig neue Hindernisse aus dem Boden wachsen. Handlungen, vor allem wenn sie schwerwiegend in die Rechte von Menschen eingreifen, müssen lückenlos dokumentiert werden. Selbstverständlich. Doch für den Rest seiner Dienstzeit gehört der Schutzmann (erinnert sich noch jemand an diesen an sich sehr wichtigen Begriff?) auf die Straße, damit die schweren Jungs sich seltener dorthin trauen …

Reden ist nicht alles. Eine gute Beziehung zeichnet sich auch dadurch aus, dass man harmonisch zusammen schweigen kann. Minutenlange Redepausen tun Not, weil mich Sprechen zunehmend anstrengt. Neben der höherfrequenten Atmung habe ich auch das Gefühl mit der Erzeugung von Schallwellen Ausdauerenergie zu verpulvern. Klappe halten für mehr Kilometer – das ist ungefähr so sinnvoll, wie Scheinwerfer aus am Auto, um Benzin zu sparen. Egal. Es hilft. Noch 9, 8, … Kilometer. Die Schritte fallen mir nun um ein Vielfaches schwerer als vorhin. Meinen Sozius habe ich schon mehrfach mit der Überlegung belästigt das Tempo zu senken – nur der Entschluss dazu reift nicht. Aus drei Gründen hauptsächlich: Erstens ist es nicht mehr weit. Zweitens lähmt stundenlanges Laufen vor allem jenen Teil des Geistes, in dem ungute Wahrnehmungen unumgängliche Reaktionen auslösen. Das „Drittens“ liefert mein Schatten, dessen Hoffnung auf konstante Geschwindigkeit ich nicht enttäuschen möchte.

Stille. Laufen. Manchmal raschelnde Schritte in alten Laubresten, dann wieder dumpfes Trappeln zwischen Grassoden oder scharrend auf sandigem Geläuf. Der Spaß ist vorbei. Der hält selten bis zum Schluss, so wie vor zwei Wochen in Barcelona. Jetzt ist kämpfen angesagt und ich weiß, dass auch das zu erfolgreichem Training gehört. Jene noch ferne Bewährungsprobe, auf die ich mich auch hier vorbereitete, wird mich mehrmals und zum Ende hin ganz sicher in Situationen arger körperlicher Bedrängnis führen. Die kann ich jetzt üben! Also durchhalten.

Die knubbelige Passage entlang des Feldes und der spitzwinklige Abstecher auf weichem Waldboden liegen zum vorletzten Mal hinter uns. Und dann geht alles dramatisch schnell: Ich spüre einen Anflug von Übelkeit. Alarmstufe rot! Dringlicher kann mein Körper nicht signalisieren, dass ich zu schnell unterwegs bin. Also sage ich: „Wenn du in dem Tempo weiterlaufen willst, dann ab jetzt alleine! Mir wird schlecht!“ Was er entgegnet verstehe ich schon nicht mehr, weil es mich zum Streckenrand zieht. Husten, würgen, übergeben. Ich zerfalle in zwei Personen. Die eine steht gebeugt da und fügt sich in das Unausweichliche. Die andere guckt ihr dabei zu und wundert sich: Dass mir schlecht wird und ich mich übergeben muss ist nichts Neues. Hatten wir schon. Aber nahezu übergangslos, binnen nicht mal einer Minute? Und was will da eigentlich raus? Ich hab’ mäßig getrunken, dürfte fast nichts mehr drin sein. Tatsächlich bricht sich auch nur wenig Bahn …

Aufrichten, tief durchatmen, angehen, antraben … Der Leib bleibt eine Weile in Aufruhr, wenn sich das Innerste nach außen kehrt. Du hast dann das Gefühl nicht mehr laufen zu können. Aber das täuscht. Entsprechende Erfahrungen liegen vor und so bleibe ich ruhig, trabe verhalten in Richtung Sportplatz, mit mäßigem Tempo über den Rasen und vollende Runde neun.

Runde 10

Mein Magen hat sich beruhigt. Aufs Trinken habe ich zu Beginn der Abschlussrunde verzichtet. Das geht. Zwar bin ich fortgeschritten dehydriert, aber auch mit zähflüssigem Blut sollten die verbleibenden fünf Kilometer zu packen sein. Auf dem Damm finde ich aus dem Schontrab sogar zu passablem Tempo zurück. Wer nun glaubt, die Laufzeit wäre mir nach diesem Warnschuss gleichgültig, kennt mich nicht wirklich. Der Angriff schlug eine Bresche, aber noch steht die Festung …

Zeit mich bei der Rotnase für die Unterstützung zu bedanken, zumindest auf der Strecke sehe ich sie zum letzten Mal. Mit guten Wünschen für die verbleibenden Meter und auch sonst werde ich entlassen. Abschnittsweise nehme ich Abschied von kurzen, mittleren und langen Geraden. Von hübschen Aus- oder Einsichten, von blühenden Büschen. Mit so schweren Beinen wie meinen fällt dieser Abschied allerdings leicht. Die zweite Tränke am Ende einer langen Gerade kommt in Sicht. Kurz dahinter sind es nur noch zwei Kilometer und dafür bleiben mir fast zwanzig Minuten. Ich fühle mich sicher, habe wieder volle Kontrolle über meinen Körper. Verleitet mich diese Empfindung zu unbewusster Tempoverschärfung? Wieder reitet Übelkeit eine jähe Attacke. Schon in Höhe der Beifall klatschenden Besatzung der Tränke würde ich gerne … halte aber noch ein paar Meter durch, brauche keine Zeugen und fürchte auch nichts mehr als sinnloses Kümmern …

Ich verstehe es nicht! Der Waldboden vor mir hat eine erstaunliche Menge Cola-Wasser-Gemisch aufzusaugen. Dreimal, viermal … ein letztes Mal krampft der Bauch. Und wieder antraben. Wie kann das sein? Anscheinend war mein Magen während der letzten drei, vier Runden schon abgeschottet. Da kam nichts mehr durch. Die Übelkeit ist vorbei. An ihre Stelle setzt sich Schwäche. Nun geht fast nichts mehr. Ich will auch nicht mehr schneller, bloß nicht noch mal … Sub5h bleibt dennoch ungefährdet. Nein, das Ziel verliere ich nicht aus den Augen und ja, die Festung liegt in Trümmern, aber die Besatzung wehrt sich immer noch. Letzter Kilometer. Könnte man Schwäche in Flaschen abfüllen, würde meine reichen um alle müden Läufer Deutschlands für eine ziemliche Weile damit zu versorgen. Schritt um Schritt Richtung Ziellinie. Noch um diese Ecke, noch ein paar anstrengende Rasenmeter, auf die Rundenzähler zu (ich kann hören wie sie denken: „Der ist fertig!“), Beifall einsammeln, ab in den Zielkanal, dann auf die Tartanbahn, letzte Meter und geschafft …

Ich brauche eine Viertelstunde, um wieder zu Kräften zu kommen. Brennender Durst zeugt von weit fortgeschrittener Dehydrierung. Kein Grund die Dinge zu dramatisieren. Ich habe mich schlicht überschätzt. Hätte ich das eigentlich geplante Tempo von 6 min/km umgesetzt, wäre nichts passiert. So was kommt vor oder neuhochdeutsch, weil’s cooler klingt: Shit happens! Am Ende habe ich mit 4:55:16 h mein Ziel erreicht. Schließlich wird mir auch noch die Gnade der frühen Geburt zuteil: Dritter Platz in Altersklasse M60. Je älter du wirst, umso leichter ergatterst du einen Platz auf dem Treppchen. In diesem Fall hätte ich mich der Siegerehrung sogar nur durch böswillig frühe Abreise entziehen können: In der Altersklasse M60 gingen nur drei Läufer an den Start. Zu meiner Ehrenrettung gilt es anzuführen, dass der Altersklassensieger nur rund 9 min schneller war. Bemerkenswert auch die hohe Rate an Aussteigern: Von über 80 Startern kamen lediglich 55 ins Ziel … Sonnenschein und Wärme ist nicht jedermanns Laufwetter.

Fazit zur Veranstaltung

Der Eschollbrücker Ultra Marathon ist eine jener kleinen aber feinen Veranstaltungen, die man sich nicht entgehen lassen sollte. Zumindest wenn die Anreise keinen allzu hohen Aufwand bedeutet. Liebevolle Organisation, reichliche Versorgung, gut präparierte Strecke.

Die 5 km-Runde wird einem nicht langweilig, wenn man Bäume mag. Und Zuschauer wird bei einer derart kleinen Veranstaltung niemand ernsthaft erwarten. Entsprechend setzte sich das Feld auch überwiegend aus recht leistungsstarken Läufern und Läuferinnen zusammen. Die Startgebühr von 24 Euro liegt im erträglichen Rahmen.

 

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