„Gott hat alle Zeit der Welt …“   –   Barcelona Marathon 2014

Seit Stunden feiert die milde katalanische Märzsonne den Marathontag unter einer azurblauen Kuppel. Dann und wann sorgt eine leichte, vom Meer her wehende Brise für Abkühlung. Vielleicht nicht für jedermann ideale Laufbedingungen, wohl aber für mich: Das ist mein Tag, mein Laufwetter. Gerade lese ich zum dritten Mal in Folge das gewünschte Tempo von 5:30 Minuten für einen vollendeten Kilometer ab und die magische 30 km-Marke des Marathons liegt längst hinter mir. Ein Schweizer Uhrwerk könnte präziser nicht ticken. Noch ein paar Minuten, dann wird der Barcelona Marathon als weiterer Stern an meinem Marathonhimmel aufgehen. Natürlich jault es in meinem Innern, da unten zwischen Bauchnabel und großen Zehen. Jedoch nicht heftiger als die vielen Male zuvor um diese Zeit. Alles in scheinbar bester Ordnung … Warum bin ich dann nicht in Jubelstimmung? Positiv gespannt, von verhaltener Freude erfüllt, dankbar das Finish erwartend. Das schon. Aber doch auch reserviert und noch immer leise zweifelnd …

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„Gott hat alle Zeit der Welt …“ Meine ist leider endlich, dennoch werde ich heute nicht aus meinen Beinen heraus quetschen, was mutmaßlich und äußerstenfalls in ihnen steckt. Erstens, weil dieser Lauf nur die Funktion eines sehr langen Trainingslaufs erfüllt, denn später in diesem Jahr will ich viel weiter laufen, ultraweit. Zweitens verfolgt mich einmal mehr ein unheilvoller Schatten: Falls es so etwas überhaupt gibt, würde ich ihn als mangelndes „orthopädisches Selbstvertrauen“ beschreiben. Mein letzter Marathon war vor gut viereinhalb Monaten … Katholiken unter den Lesern wird dieser Satz sattsam bekannt vorkommen, immerhin leitet ein zum verwechseln ähnlicher jede Beichte ein. Zu beichten habe ich nichts, wohl aber von düsterem Geschehen zu berichten, das der emotionalen Verlorenheit früherer Beichtstuhlsitzungen kaum nachsteht. Nach dem Frankfurt Marathon glaubte ich vier Tage lang den Teufel in meiner Hüfte endgültig besiegt zu haben. Dann konnte ich plötzlich – von jetzt auf gleich – zwar aufstehen, doch nur noch unter starken Schmerzen gehen! Kurzfassung: Panikartiger Arztbesuch – Verdacht: Ermüdungsbruch in Höhe Oberschenkelhals – weiter gereicht zum MRT – Diagnose vergleichsweise harmlos: Partielle Entzündung der Hüftgelenkslippe (Labrum), vermutlich infolge ungewohnter Arbeitshaltung (also keine Laufverletzung), die wegen vieler Laufkilometer nie richtig ausheilen konnte – zwei Wochen Laufverbot – Entzündungshemmer schlucken – nach zwei Wochen wieder vorsichtig mit dem Laufen beginnen. Da war was! Oder ist da womöglich noch was? Nach (manchmal auch bei) vielen meiner fortan wieder gesteigerten Trainingsläufe spüre ich etwas „diffus Unangenehmes“ im Bereich der Hüfte. Bis zum Jahresende räume ich mir eine Schonfrist ein: Verhalten intensives Training und nie weiter als 20 km.

Am 1.1.2014 aber muss es sein: Wie jedes Jahr, eröffne ich auch dieses mit einem klassischen Marathontraining. Allerdings mit Furcht in der Läuferseele, was ich unverhohlen zugebe, weil es die Bescheidenheit meines Trainingsniveaus erklärt (Zielzeit etwa 3:45 h und nur vier Trainingstage pro Woche). Zunächst bekomme ich positive Rückmeldungen aus der Tiefe meines Hüftgelenks. Bis mir einer der ersten wirklich langen Läufe die orthopädische Instabilität neuerlich vor Augen führt. Hüfte, LWS, Gesäßmuskulatur links und zu allem Überfluss auch noch die Kniescheibe links protestieren vehement. Außerdem nervt die offensichtliche Tatsache, dass ein sechzig Jahre alter Körper nur sehr widerwillig Ausdauer aufbauen kann. Mein derzeitiges Können steht in krassem Widerspruch zum Wollen, dem unerträglichen Anspruch des geplanten Saisonhöhepunkts im August … Jedem Lichtblick-Training folgen unschöne Einheiten: Mindestens müde, oft auch mit Beschwerden. Daran hatte sich nichts geändert, als ich mit Ines in den Flieger nach Barcelona stieg …

… und darum stehe ich jetzt unter 17.000 Gleichgesinnten, morgens kurz vor halb neun und lasse mich vom Virus der ringsum grassierenden Hochstimmung nicht anstecken. Fühle mich eher den ausdruckslosen Gesichtern verbunden, oder jenen, denen innere Anspannung kantige Züge verleiht. Zuweilen brandet Jubel auf. Warum? Schon gestartet? Die Startaufstellung erfolgt ums Eck und von meiner Position hinter einer Halle habe ich keine Sichtverbindung zur Startlinie. Nichts rührt sich vor mir, es fehlen auch noch fünf Minuten. Neuerlich Jubel. Wie meist am Start bin ich viel zu egozentriert, um fremdsprachige Durchsagen zu entschlüsseln. Einerlei. – Die blonde Louise schnäbelt noch ein bisschen mit ihrem Freund (Mann?) jenseits der Absperrung. Aber nicht nur deswegen fällt sie mir auf: An ihrer Seite – abgewandt, sichtlich nicht stören wollend – harrt ihr Ebenbild dem Fortgang der Dinge. Heute kann man sie unterscheiden, die eineiigen Zwillinge aus Dänemark, denn auf der Startnummer der anderen steht „Mette“. Außerdem trägt Mette Pferdeschwanz und Louise hat die störende Haarpracht zum Knoten hochgesteckt. Und sonst? Okay, ich kann nicht lange genug hinsehen. So was macht man (-n) nicht. Meine verstohlen hin und her huschenden Blicke identifizieren jedenfalls keinen Unterschied zwischen den beiden ovalen Gesichtern. Wie geht man (-n) damit um, wenn es die Frau seiner Wahl und Leidenschaft als (fast?) exakte Kopie ein zweites Mal gibt?

Ich stehe im grauen Startblock. Das mit den Blöcken nehmen die hier genau: Einlasskontrolle. Die nehmen hier alles genau. Sogar meinen Ausweis musste ich gestern beim Abholen der Startnummer vorzeigen. Und vor dem Startblock wachen mindestens vier Ordner, der Läuferphalanx zugewandt, ein Schild hoch erhoben, drauf steht: „Stop“. Läufer benehmen sich manchmal undiszipliniert. Aber reicht denn das Absperrband nicht? Braucht es wirklich das zusätzliche, dreifach strikte „Stop“ der Tafeln? Wozu dieses demonstrative In-die-Schranken-weisen? Ein Aufschrei eilt die Startblöcke entlang nach hinten, anscheinend fiel der Startschuss ... Nichts rührt sich. Die Grauen stehen still vor dreimal „Stop“ samt Absperrband. 8:35 Uhr: Ein erster Ruck geht durch den grauen Block, weil die Ordner zurückweichen. Zurückweichen, ihre Position aber halten: Dreimal „Stop“! Quälend langsam rücken wir zur Ecke vor. Endlich gelingt mir ein Blick in Richtung Starttor. Konfetti flirrt durch die Luft, weiter vorne ein Schrei aus tausend Kehlen. Wieder tippeln wir ein Stück vorwärts, zugleich rieselt mir ein Schauer über den Rücken, trotz angenehm wärmender Sonne aus strahlend blauem Himmel: Freddie Mercurys Stimme elektrisiert die Menge und mich. Sein „Barceloooooona!“ hört man sicher noch am anderen Ende der Stadt. Was für ein Sänger, was für ein Lied!

Erneut bringen uns ein paar Schritte der Startlinie näher. Mit Freddie Mercury kriegen sie mich. Mit Freddie und diesem Panorama … Wenige Städte haben eine so phänomenale Startarena zu bieten. Wir stehen auf dem Gelände der Weltausstellung von 1929, zu beiden Seiten die Pavillons der Messe, hinter uns der prächtige, von Treppen und Springbrunnen gegliederte Aufstieg zum gewaltigen Bau des katalanischen Kunstmuseums (Museu National d’Art Catalunya = MNAC). Wie ein Palast thront das „MNAC“ auf dem „Montjuïc“, dem bis zum Meer vorspringenden Hausberg Barcelonas. Voraus, schon jenseits des Starttors, flankieren zwei venezianisch anmutende Türme den Laufweg. Sie markieren den Zugang zur „Plaça d’Espanya“, auf der sechsspurig der Verkehr lärmt, rund um einen verschwenderisch verzierten Brunnen. Weit im Westen erhebt sich der Tibidabo, dessen Rücken und Hänge die zweite natürliche Begrenzung der 1,5 Millionen Einwohner zählenden Metropole bilden. Eine herrliche Arena, in der wir Läufer nur heute Vorfahrt genießen.

Inzwischen hat’s der Letzte kapiert, sogar Udo: Block für Block wird gesondert auf die Strecke entlassen! Block für Block bekommt seinen eigenen Start. Nur ein paar Meter trennen mich nun noch vom Startportal und endlich weichen die Ordner zur Seite. 8:40 Uhr: Wieder rieselt es mir kalt den Rücken runter. Monumentalrock der Gruppe Europe schraubt sich tief in mein Hirn: „The final Countdown“! Unvermittelt ein „Puff!“ und grauweißes Konfetti schneit aus dem Himmelblau. Sch… auf orthopädische Unwägbarkeiten du Hasenfuß! Wach auf! Dies ist das fantastische Barcelona und du darfst hier Marathon laufen! Bevor noch der grau-weiße Konfettischauer den Boden erreicht, um sich mit den schon gelandeten roten, grünen, blauen vormaliger Startblöcke zu mischen, überschreite ich die Startlinie. Freies Laufen, nullkommanull Behinderungen. Was für eine Organisation! Note eins für das Startprozedere in Barcelona!

Leichter Auftakt: Zwischen Venedigs Türmen geht’s sachte bergab, dann auf die Plaça d’Espanya. Dicht besetzte Zuschauerspaliere bejubeln unsere ersten Schritte. Noch stelze ich ein bisschen „storchig“ über die von Polizei abgeriegelte Plaça. Wie erwartet, meldet sich das linke Knie. Doch beileibe nicht so vehement wie zuletzt im Training. Wenn’s drauf ankam, kooperierte mein Körper noch immer. Dieses Mal wieder? Optimismus macht sich breit, mündet in den festen Vorsatz den ganzen orthopädischen „Mist“ laufend hinter mir zu lassen. „Du musst es dir einfach rauslaufen!“ riet mir ein Ultraläufer einst in ähnlicher Situation. Ganz so einfach ist es nicht – selbstverständlich nicht –, aber ein Quantum Wahrheit enthält der Spruch dann doch …

Nur ein kleines Segment der Plaça laufen wir aus, verzweigen alsbald in die „Carrer de Sants“. Wo wohl Ines steht? Habe ich den kleinen orangefarbenen Fleck ihrer Jacke übersehen und sie mich? Durchaus möglich, denn noch zu Beginn der Carrer de Sants stehen die Schaulustigen in dicht geschlossenen Reihen. Schließlich sehe ich Ines, nur etwa 20 Meter voraus. Wild winkend mache ich auf mich aufmerksam, damit sie das Schnappschussgerät rechtzeitig auf mich anlegen kann … Ines gelingt das Kunststück eine Bildserie zu schießen und mich im letzten Moment noch abzuklatschen …

Mit vier Kilometern soll sie die längste Einkaufsstraße Europas sein, die Carrer de Sants. Jedenfalls stellte der Kommentar anlässlich unserer gestrigen Stadtrundfahrt diese Behauptung auf. Ich mache keine mondänen Shopping-Adressen aus, keine Nobelboutiquen, weder Glitzer noch Glamour. Nichts, was man entlang eines Rekord-Boulevards eigentlich erwarten würde. Dafür ist er auch zu weit vom Stadtkern entfernt. Kleine Geschäfte, Supermärkte, Dienstleister, eine Markthalle (am Sonntag natürlich geschlossen), Bankfilialen, hie und da eine Bar, kurz alles, was der Barcelonese im Ortsteil „Sants“ im Alltag so braucht. Die Straße ist nicht nur vier Kilometer lang, sie führt über diese Distanz auch schnurgeradeaus. Gut zwei Kilometer davon messe ich zum Einlaufen mit den Füßen ab. Begrenzt wird die Sicht einzig von ein paar Bodenwellen. Apropos Bodenwellen: So ganz ohne ist der Marathonkurs auf Barcelonas Straßen nicht. Ein paar Anstiege gilt es zu bewältigen. Sollte der Barcelona-Marathon in deiner Todo-Liste stehen, dann habe ich eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute: Die Anstiege gestalten sich sehr, sehr moderat. Die schlechte: Manchmal erstreckt sich so eine Rampe über mehrere Kilometer.

Nur eine Momentaufnahme, doch unumwunden: Ich fühle mich gut! Das Raunen aus Sehnen und Gelenken wird schwächer und ich beschließe die läuferischen Begleitgeräusche erst einmal zu ignorieren. Ach und das noch: Zum ersten Mal seit Monaten textil enthemmtes Laufen: Nur Singlet und Kurztight am Leib! Allein dafür lohnt sich die weite Anreise. Im Schatten der Straßenschluchten ist die Luft mit 15, 16 °C angenehm temperiert. An jeder der mit grellem Licht gefluteten Straßenkreuzungen lässt sich allerdings ahnen, was uns erwartet, wenn die Sonne höher am Himmel steht. Kurzes Wortgefecht im Dickicht meiner Synapsen: ‚Nicht wirklich akklimatisiert und dann gleich einen Marathon in mediterranem Umfeld!?’ – ‚Ach was du Bedenkenträger! Auch das kann dir heute nichts anhaben!’

Schweißtropfen sammeln sich auf der Stirn. Einfach wegwischen geht nicht mehr. Mit Marathon Nummer 119 beginnt für mich eine neue Zeitrechnung. Ungefähr seit Weihnachten habe ich mir angewöhnt mit Brille zu laufen. Ich war das extreme Verdrehen der Augen zum (oft fehlerhaften) Entziffern der Trainingsdaten endgültig leid. Nun also mit Brille. Das erfordert Sorgfalt beim Schweißwischen. Entweder die Brille kurz abnehmen oder die Schweißperlen schon am Haaransatz bekämpfen. Suppt etwas auf die Augenprothese, dann war’s das mit der klaren Sicht. Wie? Was ich bei Regen mache? Da verfolge ich eine einfache Strategie: Es darf nicht regnen. Zumindest nicht mehr als ein paar Spritzer, denn langkrempige Baseballkappen sind meine Sache nicht. Zu nervig. Außerdem gucke ich unter so was ziemlich dümmlich in die Welt (Nein, ich bin nicht eitel, nur selbstkritisch vorm Spiegel).

Erst Richtungswechsel Nummer zwei und schon fünf Kilometer gelaufen. Es ist mir gelungen meine Pace bei etwa 5:30 km/min einzupendeln. Genau das habe ich mir vorgenommen, um am Ende unter vier Stunden zu bleiben. Sicher wäre mehr drin, aber darum geht es nicht. Zweiundvierzig Kilometer weit laufen und morgen orthopädisch gut drauf sein! Dass ich das noch kann, will ich mir hier beweisen. Keine Tempoexperimente, kein Verausgaben, Haushalten mit der Kraft. Die erste Verpflegungsstelle: Ich suche nach dem versprochenen isotonischen Getränk, das es an jeder Tränke geben soll. Fünf, sechs Tische mit Wasser lasse ich aus und finde dahinter tatsächlich einen tiefseeblauen Zaubertrank. Der Inhalt dreier Becher rauscht durch meine Kehle. Im Augenblick noch zu üppig. Aber Temperatur und Schweißverlust werden zunehmen.

Auch an den Verpflegungsständen gewinnt die Organisation des Barcelona Marathon einen Oscar. Den für sparsamen Ressourceneinsatz: Wasser wird zwar in Kunststoffflaschen gereicht, jedoch in 0,3 l Portionen. Gerade genug zum Trinken plus Erfrischen. Beim Isogetränk unterzieht man sich sogar der lästigen Übung die 0,5 l Flaschen einigermaßen mühsam aufzuschrauben, um die Flüssigkeit in Pappbechern auszuschenken. Und wenn ich schon beim Lobhudeln bin: Tatsächlich steht an jedem der 13 (!) Verpflegungsstellen Iso bereit; bis zur Halbzeit jeden fünften Kilometer, danach sogar in 2,5 km-Abständen.

Ein erster Blickfang erwartet uns jetzt und parallel dazu der wohl anspruchsvollste Anstieg des Kurses: Das Stadion „Camp Nou“, die 100.000 Sitze-Arena des FC Barcelona, wurde in die Ausläufer des Tibidabo gebaut. Lächerlich flache Ausläufer, wenn man im „Hop on, hop off Sightseeing Bus“ sitzt, durchaus schweißtreibend für Marathonis, die den Fußballpalast per pedes umrunden. Hier also spielt „Barça“. „Més que un club“ (deutsch: Mehr als nur ein Verein) meint der katalanische Volksmund und tatsächlich erstaunt die Omnipräsenz des FC Barcelona und seiner Spieler im Stadtbild. An bald jeder Ecke locken Läden oder Kioske des FCB. Neben Eintrittskarten für den nächsten Kick kann der Fan jede Art von Devotionalien in den Vereins- und Trikotfarben Gelb-Rot (auch Farbmix der katalanischen Flagge) oder Rot-Blau erwerben. Übrigens wird es dir kaum gelingen hundert Meter auf einem der belebteren Trottoirs zu schlendern, ohne dabei einem halb- oder vollwüchsigen Enthusiasten in Barça-Uniform zu begegnen …

Auch im Marathonfeld laufen etliche Reklame für ihren FCB: Mal im Trikot der „10“, des Ballkünstlers Lionel Messi, mit schlichtem Aufdruck des Vereinswappens oder gar unter geschulterter Vereinsfahne. Diese Totalidentifikation einer Stadt und ihrer Menschen mit dem ansässigen Fußballclub entspringt vermutlich ausgeprägtem, katalanischem Separatismus. Dass ich hier in Katalonien und NICHT in Spanien unterwegs bin, beweisen auch diverse andere demonstrativ zur Schau gestellte Marathon-Outfits. Man (auch frau!) ist eben zuerst Katalane, dann ganz lange nix. Erst zuletzt – aber nur, falls es dem FC Bayern gelungen sein sollte „Barça“ aus der Champions League zu kicken – entwickelt sich zaghaft patriotische Hinwendung zu den Königlichen oder Athletischen in Madrid. – Zwei Großveranstaltungen an einem Tag, in einer Stadt und am selben Ort? „Camp Nou – 16/03/2014 – 17 h, Barça – Osasuna“ verkündet die Leuchtschrift über den Kassenhäuschen. Warum eigentlich nicht? In einer halben Stunde ist der letzte Läufer hier durch und außer ein paar Absperrgittern braucht man nichts wegzuräumen.

Man könnte meinen der Stadtregierung Barcelonas wären die Straßennamen ausgegangen. Immerhin tauften sie die breiteste und mit drei (!) durch Grünstreifen getrennte Fahrbahnen am großzügigsten angelegte Avenida der Stadt auf den einfallslosen Namen „Diagonal“. Wieso ausgerechnet „Diagonal“? – Die teilweise von Palmen gesäumte Verkehrsader schlägt eine 10 Kilometer lange, absolut geradlinige Schneise durch die Stadt. Dabei schneidet sie den Schachbrettgrundriss Barcelonas in schrägem Winkel, eben diagonal. Der schnellere Verkehr rauscht sechsspurig und bidirektional über die mittlere Fahrbahn dahin, während der Marathontross über eine der Seitenfahrbahnen stadteinwärts zuckelt. 10 km geradeaus? Das wäre die Höchststrafe, der maximale Strecken-Albtraum. Zum Glück verlassen wir nach gut tausend Metern die „Diagonal“ und orientieren uns wieder in Richtung Startgelände. Nach ziemlich genau 55 Minuten pfeift die Zeitnahme für die ersten zehn Kilometer. Natürlich bin ich damit hoch zufrieden. Fahrplan eingehalten. Die Anstiege haben zwar etwas mehr Körner gekostet, dafür war die Lufttemperatur noch recht moderat und mein Bewegungsapparat fühlt sich unerwartet locker an.

In Höhe des „Parc de Joan Miró“ – also nur einen Katzensprung von der Plaça d’Espanya und dem Startbereich entfernt – wird Ines auf mich warten. Wie vereinbart halte ich mich am linken Fahrbahnrand, damit sie mich im nach wie vor dicht gestaffelten Feld ausmachen kann. Dann die glückliche Begegnung: Fotos, gute Wünsche und Abschied für gut zweieinhalb Stunden. Keine hundert Meter weiter wechsele ich umsichtig von der linken zur rechten Flanke des Feldes, schere zum Bürgersteig hin aus und bringe nun meinerseits die Kamera in Anschlag. Das zeitraubende Manöver dient der Absicht Marathonis vor der Skulptur „Frau und Vogel“ von Joan Miró einzufangen. Frauen, Vögel und Sterne gehören zu den bevorzugten, allerdings stark abstrahierten Elementen, die der 1893 in Barcelona geborene Joan Miró in einer späteren Schaffensphase häufig in seinen Bildern und Objekten verwendete. 1982 schuf er in einer Ecke des nach ihm benannten Parks mit „Frau und Vogel“ eines seiner bekanntesten, mit 22 Metern größten und zugleich von jedermann kostenlos zu bewundernden Kunstwerke.

Vor dem wohl erfreulichsten Bruch mit der Tradition, den ich Spaniern – pardon Katalanen – in dieser Form kaum zugetraut hätte, biegen wir in Richtung Stadtzentrum ab. Wir passieren das Einkaufszentrum „Las Arenas“. Den mehrgeschossigen Ziegelstein-Rundbau hielt ich nach erster flüchtiger Betrachtung für das, wonach er noch immer aussieht: Eine Stierkampfarena. Nach der Änderung des Tierschutzgesetzes in ganz Katalonien fand jedoch im September 2011 der letzte Stierkampf in Barcelona statt (nicht in dieser Arena). Und „Las Arenas“ wurde zu einer anderen Art Folterkammer umgebaut, in der nun keine verletzten Stiere mehr in den Wahnsinn getrieben werden. Ihre Opferrolle haben die Jünger des Konsums übernommen …

Ein kurzer Schlenker und wir erreichen die „Gran Via (de les Corts Catalanes)“. Seit unserer Ankunft vorgestern (unser Hotel liegt ganz in der Nähe) habe ich mich mehrmals gefragt, welchen Status diese „große Straße“, die breit angelegte Allee in der Stadt wohl haben mag. Sagenhafte, völlig geradlinige 13 Kilometer durchpflügt sie einigermaßen parallel zur Küstenlinie die Stadt. Verkehrsader, Einkaufsmeile mit Restaurants und Hotels, Zufahrt zu Sehenswürdigkeiten, Sitz von Firmen und Instituten: Nichts davon schwerpunktmäßig, dafür an allem beteiligt. Ich erinnere mich an die „Gran Via“ in Madrid. Dort ist die „große Straße“ das Zentrum des Handels. Der Marathon der langen Geraden: Zwei Kilometer schattige Kühle gönnt uns die „Gran Via“, dann biegen wir auf den „Passeig de Gràcia“ Richtung Nordwesten ab und augenblicklich erzeugt dieser Marathon neue Empfindungen. Volle Sonne auf Nacken und Rücken, außerdem leicht bergan – zum ersten Mal komme ich brachial ins Schwitzen. Zudem beginnt in dieser Straße der touristisch sicher interessanteste Abschnitt. Doch dazu muss ich ein wenig abschweifen …

… und vom Jugendstil reden. Also von einer Kunstrichtung, die auf das Ende des 19. und die Anfänge des 20. Jahrhunderts datiert. In und um Barcelona, das im Spanischen Bürgerkrieg keine wesentlichen Verluste von Bausubstanz zu beklagen hatte, entwickelte sich eine bedeutende architektonische Spielart des Jugendstils, der „Modernisme Català“. Berühmtester Vertreter dieses recht verspielt anmutenden Zuckerbäckerstiles war der Architekt „Antoni Gaudí (1852 – 1926)“. Kirchen, Wohn- und Geschäftshäuser, sogar Fabriken hat dieser geniale Künstler hinterlassen. Darunter auch das Wohnhaus „Casa Battló“, vor dessen beeindruckender Fassade ich mir einen Fotostopp nicht verkneifen kann. Keine zweihundert Meter weiter, auf der anderen Straßenseite steht der nächste Geniestreich Gaudís, die Wohnanlage „Casa Milà“. Leider habe ich von dieser Attraktion kein Foto anzubieten, da die Fassade gegenwärtig wegen Renovierung verhüllt ist. Das bei der Besichtigung entstandene Bild (von der Straße aus so nicht zu sehen) zeigt das spektakuläre, wellenförmig angelegte Dach. Wie bei allen Bauwerken widmete Gaudí auch bei der Casa Milá den Ausgängen der Treppenhäuser zum Dach und den Schornsteinen besondere künstlerische Sorgfalt.

Es gäbe zu diesen Gebäuden unendlich viel zu erzählen, aber dafür habe ich keine Zeit. Rasch (und außerordentlich dankbar) tauche ich an der nächsten Ecke wieder in den Schatten einer anderen Straße ab. Schloss oder Kulisse eines Fantasyfilmes könnte man meinen, sieht sich jedoch nur einem weiteren Zeugnis des Modernisme gegenüber, der „Casa de Les Punxes“. Wieder ein Wohn- und Geschäftshaus eines anderen Barceloneser Architekten. Die Spannung wächst, denn von unserer Stadtbesichtigung weiß ich, dass Gaudís Meisterwerk nun nicht mehr weit entfernt sein kann. Ein weiteres Mal biegen wir rechtwinklig ab und dann ist es so weit: „La Sagrada Familia“, die auf Dauer wohl meistbesuchte Baustelle Europas, rückt ins Blickfeld. Gaudís unvollendetes Werk, an dem er von 1882 bis zu seinem Tod im Jahr 1926 fieberhaft arbeitete. „Meister, wann wird die Kirche denn fertig sein?“ sollen ihn seine Mitarbeiter angesichts seiner ruhelos besessenen Arbeitsweise gefragt haben. Worauf er ihnen schmunzelnd antwortete: „Seid unbesorgt! Mein Auftraggeber hat keine Eile! Gott hat alle Zeit der Welt …“

Wir passieren die umstritten moderne, bereits von Gaudís Nachfolgern in seinem Sinne gestaltete Passionsfassade mit ihren vier Türmen. Eine Unzahl himmelhoher Baukräne verunstaltet die Kirche. Wie gelbe Schmarotzerpflanzen überwuchern Gittertürme und Ausleger den sakralen Kern. Meine gestrige Verwirrung kommt mir wieder in den Sinn: Ich kannte das Gotteshaus von Bildern und wusste auch, dass es unvollendet ist (Fertigstellung für 2026 geplant, dem 100. Todestag von Gaudí). Doch wie war es möglich Aufnahmen der Basilika anzufertigen, auf denen weder Kräne noch andere Bauaktivitäten ins Auge fielen? Schein und Sein passen überhaupt nicht zusammen. Die Kräne müssen doch seit Jahrzehnten dort stehen!? Die Lösung ist ebenso einfach wie – zumindest in meinen Augen – beschämend: Wegretuschiert! Gott hat keine Eile und Augenwischerei nicht nötig ...

Zwei Fotostopps ist mir die Attraktion wert, um ein paar Bilder von „La Sagrada Familia“ samt „La Familia Maratona“ davor einzusacken. Auch heute steht wieder die Endlosschlange vor den Kassenhäuschen, die uns wegen der Aussicht auf zwei Stunden Anstehen gestern zum Aufgeben zwang. Ines formulierte es als heiligen Auftrag: 2026 wiederkommen und die dann (hoffentlich) vollendete Kirche besichtigen! Rein profane Spekulation und doch nicht uninteressant: Mein wievielter Marathon wird das dann wohl sein? Und: Welches Tempo werde ich mit 72 Lenzen in den Beinen noch realisieren können?

Gut zwei Kilometer hin, dieselben zwei Kilometer wieder zurück, erst sachte auf- dann abwärts. Der Blick voraus in die erste von zwei ätzenden Wendeschleifen verliert sich in ungewisser Ferne. Wenn ich „ätzend“ schreibe, dann weniger um mein Gefühl auszudrücken als in der Absicht die schiere Eintönigkeit dieser „Schikane“ darzustellen. Auch, um die mentale Belastung zu apostrophieren, die schlecht vorbereitete, oder psychisch instabile Marathonis auf diesem Streckenteil zu ertragen haben. Abgesehen von gesichtslosen, mehrgeschossigen Wohnblöcken und einer tausendköpfigen Flut von Läufern auf Gegenkurs gibt es nichts zu sehen. Wärmer ist es hier auch, weil wir überwiegend in der Sonne laufen müssen. Wie bitte? Nein, mir macht das nichts aus. Zur Not laufe ich einen Marathon auch in einer Telefonzelle. Wenn es sein muss, fokussiere ich jeden Gedanken auf das Finish und blende alles andere aus. Und augenblicklich, exakt an dieser Stelle in Barcelona belastet mich rein gar nichts. Einerseits, weil mir nach 20 Kilometern noch immer nichts weh tut (oder schon einige Zeit nicht mehr, nachdem das Zwicken der ersten Kilometer verstummte). Zudem ahne ich schon jetzt, dass mein Ausdauervorrat dieses Tempo ohne Schwierigkeiten bis zum Finish nähren wird.

Wende, trinken und wieder zurück. Die recht langatmige Widmung lese ich auf dem Rücken einer zierlich drahtigen Läuferin:

… a mis hijos Paula y Hugo ... a Eduardo ... a mis padres ... a mis hermanas ... a mi familia ... a mis amigas ... ¡¡Va por vosotras!!

(... für meine Kinder Paula und Hugo … für Eduardo … für meine Eltern … für meine Schwestern … für meine Familie … für meine Freundinnen … Ich laufe für euch!!)

Für wen die alles unterwegs ist! Fehlt nur noch Katalonien und die Welt. Aber hat sie nicht den alles entscheidenden Menschen in ihrer Aufzählung vergessen? Denjenigen, für den wir eigentlich alle laufen, zumindest laufen sollten, im Grunde auch den einzigen, für den das Kilometerfressen in dieser Dimension überhaupt Bedeutung hat: Sich selbst!? Paula, Hugo und Eduardo, ihre ganze Familie, alle Freunde drückten sie sicher auch dann an die Brust, wenn sie keine (Marathon-) Läuferin wäre, wenn sie sich auf ihre Rolle als Mutter, Ehefrau, Tochter, Schwester und Freundin beschränkte … Ein paar nachdenkliche Schritte weit frage ich mich ernsthaft, ob die Dame im pinkfarbenen Shirt darüber anders denkt.

Pausenloses, sich rasch intensivierendes Pfeifen unterbricht diesen Gedanken und schon tappe ich über die Matten der Halbmarathon-Zeitnahme. Mit 1:57:35 h halte ich beinahe beängstigend genau den selbst gesetzten Zeitplan ein. Oder nicht? ‚Das sind nur zweieinhalb Minuten Gutschrift, um unter 4 h zu bleiben. Kein wirklicher Puffer, wenn du zum Ende hin einbrichst!’ Die beiden Sätze denke ich so nicht, so klar ausformuliert. Sie drängen sich mir als lästige Empfindung auf, als Reflex aus den Tiefen meiner Kämpferseele und als solcher wohl nicht zu verhindern.

Wendeschleife abgearbeitet, ein, zwei, drei Richtungswechsel, Kilometer 22, 23, 24, 25 inmitten urbaner Eintönigkeit. Straßen, Wohnblocks, Geschäfte … dann Geschäfte, Wohnblocks, Straßen. Und oft verliert sich der Kopf der Läuferschlange in lichtgrauer, verschwommener Ferne. Jeder Stadtmarathon hat sie, diese „Füllkilometer“. An ihnen kann man ermessen, wie irrsinnig weit ein Marathon tatsächlich ist. Um 42.195 Meter zu addieren müssen einen Streckenplaner auch in die Wüste optischer Belanglosigkeit schicken. Laufe ich im Ausland, gebärdet sich die Monotonie allerdings nicht so aufdringlich: Nach wenigen Stunden Aufenthalt reizt auch noch das eigentlich Reizlose, weil es fremd ist, nicht vollends alltäglich. Immer wieder gibt es etwas zu sehen, dessen Bedeutung mir fremd ist. Oder eine Inschrift will mittels meines eingeschränkten Spanisch- und nicht vorhandenen Katalanisch-Wortschatzes entschlüsselt werden …

Der Tourist in mir ist wieder wach: Ein flaches, schwarzes, mit spiegelnden Ornamenten verziertes Gebäude taucht vor mir auf. Daneben erhebt sich, als offensichtlicher architektonischer Kontrapunkt (wenn so nicht gewollt, dann ein Geniestreich des Zufalls) ein helles Hochhaus. Diagonale Verstrebungen lockern die Fassade auf, halten sie vielleicht auch zusammen. Dem so verschiedenen Duo ist augenscheinlich nur eines gemein: Ihr dreieckiger Grundriss. Dem hellen, aufragenden Lulatsch unterstelle ich Bürogebäude zu sein, das dunkle, keilförmig flache stellt sich per Aufschrift vor: „Museu Blau“ (Naturwissenschaftliches Museum der Stadt Barcelona). Abrupt wende ich dem Ensemble den Rücken zu und strebe in spitzem Winkel davon. Auf geht’s in die zweite, mit etwa 2,5 km noch längere Wendeschleife.

Warum kommt mir diese Stichstrecke attraktiver vor? Zunächst die unvermeidlichen Wohnanlagen, sogar Wohntürme mit 20 Stockwerken oder mehr, dann der Übergang in einen von Büropalästen dominierten Stadtteil. Liegt es an der abwechslungsreicheren Bebauung? Jedenfalls verbringe ich die Kilometer 26 bis 31 auf der „Diagonal“. Richtig. Auf der Straße mit dem einfallslosen Namen war ich heute schon unterwegs. Das ist jetzt anderthalb Stunden her und liegt von hier aus fast 10 Kilometer weiter westlich … Im Laufgepäck trage ich ein wenig Spannung mit mir rum. Sie richtet sich auf einen Turm, den Ines und ich beim Sightseeing von erhöhter Position häufiger ausmachen konnten. Ein Turm, über dessen Funktion wir nichts in Erfahrung brachten, obwohl Höhe und eigenwillige Form das Stadtbild durchaus prägen. Nun wächst er langsam vor mir auf der „Torre Agbar“. Er muss einigen Menschen auf dem Reißbrett gefallen haben, zumindest den Geldgebern, dem Planer und den Stadtvätern. Wie sonst hätte der in meinen Augen hässliche Stummel sonst verwirklicht werden können? Ich sage nicht, woran er mich erinnert, vermute aber deine Assoziation zeitigt dasselbe Ergebnis. Und diese Ähnlichkeit soll den Verantwortlichen entgangen sein? Aus der Nähe ist er nicht hübscher anzusehen, der Torre Agbar, outet sich mit spiegelnder, vermutlich von Sonnenschutzverblendung herrührender Oberflächentextur jedoch als schnöder Büroturm. Enttäuschtes Abwenden ist vorgesehen, denn unweit des Turmfußes erreiche ich die Wende.

Kilometer 31: Wendeschleife abgehakt, noch keine wirkliche Ermüdung, seit geraumer und wohl auch in nächster Zeit laufen wir in praller Sonne. Ich spüre die Wärme zwar, sie macht mir trotz fehlender Akklimatisierung jedoch keine Schwierigkeiten. Was gibt’s zu sehen? Einen hübschen, roten Backsteinturm zum Beispiel. Das Meer ist nur ein paar Steinwürfe weit entfernt, also könnte es sich um einen ehemaligen Leuchtturm handeln (tatsächlich ein Wasserturm, dem Internet sei Dank). Auf dem fälligen Foto verewigt sich auch eine Schwedin in schwarzer Lang(!)tight, die wohl demnächst den Hitzetod erleiden wird. Was zieht die eigentlich im Schwedischen Winter an? Glück gehabt! Hinter der nächsten Ecke wartet eine lebensverlängernde Maßnahme auf sie: Aus mehreren Gestellen sprüht feiner Wassernebel. Ein Geschenk, das sie, wie die meisten anderen LäuferInnen, mit Wohlgefallen annimmt.

50 etwas steilere Meter aufwärts, dann ist es endlich so weit: Zu meiner Linken reicht der Blick hinüber zu einem der Sandstrände Barcelonas und weit hinaus aufs Mittelmeer. Winzige, weiße Dreiecke pflügen weit draußen durch mittäglichen Dunst und die blaue See. Noch neun Kilometer und es geht mir gut. Viel besser, als ich noch vor Tagen zu hoffen wagte. Mein Tempo bleibt konstant, obschon ich inzwischen viel unkonzentrierter laufe, automatischer. Sie fielen mir schon kurz hinter der Halbmarathonmarke auf, danach immer häufiger und treten nun scharenweise in Erscheinung: Läufer, die gehen müssen oder immer langsamer werden. Manchmal muss ich sie im Slalom überholen, denn selbst in dieser Spätphase des Marathons läuft das Feld noch ziemlich dicht.

Weg vom Meer, stadteinwärts: Die von Palmen gesäumte Allee schlägt eine überaus reizvolle Blickschneise in die Stadt: Weit voraus erkennt man die Baustelle von La Sagrada Familia und dahinter bauen sich die grünen Hänge des Tibidabo auf. Überhaupt stehen mir jetzt wieder einige der spektakuläreren Kilometer bevor. Wir steuern auf das historische Zentrum Barcelonas zu. Beherrschen einen Hochgefühle, weil man durch diesen Triumphbogen läuft, oder setzt er sie nur frei, da es nach glücklich absolvierten 36 Kilometern reichlich Grund dazu gibt? Wie dem auch sei: Ich fühle mich beinahe von Schritt zu Schritt besser. Was soll noch passieren? Die Kraft wird nicht versiegen, das müsste ich schon lange spüren. Und noch immer laufe ich rund, ohne wesentliche Beschwerden.

An der „Plaça de Catalunya“ ändern wir die Richtung und streben wieder der Küste zu. Hier im pulsierenden Herzen der Stadt stehen die Zuschauer dicht an dicht. Ich habe es bisher nicht erwähnt, war aber überrascht wie viele Menschen auch in den Außenbezirken und zu früherer Stunde sich den „Zug der Lemminge“ ansehen wollten. Katalanen sind Südländer, entsprechend temperamentvoll feuern sie uns Läufer an. Die dabei verwendeten Formeln in katalanischer Sprache könnte ich nicht fehlerfrei wiedergeben, drum lasse ich es sein. Meinen Vornamen vermag ich dagegen einwandfrei zu buchstabieren und den lasen auch einige Zuschauer von meiner Startnummer ab, um gezielt mich zu unterstützen.

Quer durchs malerische Gotische Viertel (Barri Gòtic) hin zu Kilometer 38 und dem nächsten baulichen Höhepunkt, der Kathedrale von Barcelona. Von dort auf die „Via Laietana“ und minutenlang vorbei an weiteren Zeugnissen des Katalanischen Jugendstils. Dass meine Beine selbstverständlich inzwischen schwerer werden, bemerke ich zwar, kann mich damit aber infolge optischer Reizüberflutung so gar nicht beschäftigen. Wir erreichen den Hafen von Barcelona mit seinem Wald aus Masten vertäut liegender Segelyachten. Parallel zum Hafenbecken passieren wir ein weiteres Kunstwerk, den Kopf – „The Head“ (1992) – des US-Amerikaners Roy Lichtenstein, dann, weniger kunstvoll als originell, die mehr als überlebensgroße Languste mit dem lustigen Gesicht, „La Gamba de Mariscal“. Meine eigentliche Aufmerksamkeit richtet sich jedoch auf den rechten Moment für eine Aufnahme von Christoph Kolumbus. Eigentlich schon vor Jahrhunderten verblichen, thront der Seefahrer heute noch weithin sichtbar auf einer Säule in luftiger Höhe und weist den Weg in die neue Welt. Zwar zeigt sein ausgestreckter Finger nicht nach Amerika, dafür meerwärts, denn über den Seeweg entdeckte er einst das unbekannte Land.

Vorbei am „Monomento a Cristóbal Colón”, vorbei auch am „Palacio de Aduana“ (ehedem Sitz des Zollamtes) und hinein in die „Avenida del Paral·lel“. Die heißt wirklich so und man schreibt sie auch so, mit diesem Punkt zwischen den zwei „L“. Natürlich komme ich nicht umhin das World Wide Web auszuwringen, um der Herkunft dieser Straßenbezeichnung auf den Grund zu gehen. Angeblich heißt die Avenida „Paral·lel“, weil sie als einzige Straße Barcelonas parallel zum Äquator verläuft … Im Moment interessiert mich das herzlich wenig. Dafür sehr, dass ich nur noch zwei Kilometer vor mir habe. Von Bedeutung ist gleichfalls, dass ich diese Distanz bergan zurücklegen muss. In praller Mittagssonne bei deutlich mehr als 20°C bringe ich dem Wassergott nun reichlich Opfer dar. Körperlich anstrengend aber nicht wirklich unangenehm, wenn man so nach Sonnenschein und Wärme giert wie ich.

Ich berausche mich an meiner Stärke, weil ich nicht langsamer werde, eher im Gegenteil. Und ich berausche mich an der Schwäche meiner „Gegner“, von denen viele entweder ihre Ausdauer überschätzt oder den Wettkampf falsch eingeteilt haben. Ich schlängele mich durch Trauben gehender, kriechender, schlappender, trottender Läufer. Dieser Schlussanstieg bricht vielen das Genick, die bisher eisern durchgehalten haben. Später werde ich Ines meinen Eindruck schildern, insgesamt bald an die tausend Leute überholt zu haben, mich im Stillen aber der völligen Übertreibung verdächtigen. Das wahre Ausmaß ahne ich nicht einmal: Die umfangreiche, für jeden Läufer veröffentlichte Laufstatistik sieht mich nach etwa der Hälfte des Wettkampfs an der schlechtesten Position, auf Platz 9.404. Bis zum Finish arbeite ich mich um unvorstellbare 2.623 Plätze auf Rang 6.781 nach vorn. Allein im Anstieg der beiden finalen Kilometer lasse ich mehr als 700 (!) Läufer hinter mir. Warum ich das so ausführlich erwähne? Erstens habe ich es in diesem Ausmaß noch nie erlebt. Zum anderen, damit es Marathonaspiranten zeigt, was passiert, wenn sie ihre Ausdauer richtig einschätzen: Dann sammeln sie Läufer um Läufer ein und schöpfen Kraft aus der Schwäche der anderen. Aber auch um vor leichtfertiger Selbstüberschätzung zu warnen. Neben den körperlichen Härten des Einbrechens kämpfst du dann mit der Demütigung vorbei ziehender Kontrahenten.

Noch 600 Meter und mein raumgreifender Blick erfasst bereits den Brunnen auf der „Plaça d’Espanya“. Aber eigentlich halte ich nach Ines Ausschau. Sie wollte ein paar Meter vor der Plaça auf mich warten, wo die Zuschauer mutmaßlich nicht so dicht gedrängt stehen. Da an diesem Tag alles klappt, klappt auch das: Ich winke Ines zu und weiß in diesen Sekunden nicht, wer sich mehr über die Begegnung freut. Kurzes Abklatschen und weiter, noch 300 Meter. Blick zur Uhr: Unter 3:55 h könnte noch klappen. Wie immer in solcher Situation ist die spontan gefasste Zielvorstellung völlig unbedeutend. Doch noch jedes Mal fachte sie meinen Ehrgeiz an und half mir auf dem finalen Abschnitt. Über die Plaça d’Espanya, jetzt links, zwischen den Venezianischen Türmen hindurch, vorbei an massenhaft und frenetisch anfeuernden Zuschauern und endlich, erleichterten Herzens und nach 3:54:48 h durchs Marathontor.

Geschafft und das mit weniger Mühe als gedacht. Von verhaltener Freude erfüllt und dankbar für das 119. Finish schlendere ich in Richtung Treffpunkt mit Ines. Viele Fragen sind geklärt. Auch jene, die mir im Licht der hellen katalanischen Sonne nun selbst besonders irrational vorkommt: Kann ich noch einen Marathon durchstehen? Eine letzte, ganz entscheidende Frage werden erst die nächsten Tagen beantworten: Bleiben orthopädische Folgen aus? Denn nur dann kann ich mein Pensum weiter steigern, um mich auf den Saisonhöhepunkt im August vorzubereiten ...

Fazit zur Veranstaltung

Barcelona bietet eine fantastisch organisierte, in allen Details absolut durchdachte Massenlaufveranstaltung mit nahezu 17.000 Läufern und Läuferinnen. Natürlich bist du als einzelner Läufer nur eine Startnummer von vielen. Dennoch hat man in jeder Sekunde, ob beim Startprozedere, unterwegs an den Verpflegungsständen oder bei der Zielversorgung das Gefühl „da hat einer wirklich mitgedacht“. Ein Detail von vielen: Kurz hinter dem Zieleinlauf sitzen versetzt neben- und in mehreren Reihen hintereinander Damen auf einem Stuhl, ein Fußbänkchen vor sich und „scannen“ mit ihren Augen alle Füße auf geliehene Zeitnahmechips. Du brauchst nur noch den Fuß ein wenig heben, den Rest erledigen die Damen. Wer sich schon einmal nach einem Marathon bücken musste, um seinen Schuh aufzuschnüren, weiß den Wert dieser kleinen Gefälligkeit sehr zu schätzen … Mit 60 Euro bei Voranmeldung ist der Lauf nicht annähernd so teuer, wie vergleichbare Läufe in Deutschland.

Die Strecke ist mit vielen „Hinguckern“ gespickt. Die paar „Füllkilometer“ in weniger attraktiven Gegenden fallen dabei nicht ins Gewicht. Belastungen ergeben sich aus zwar sachten, dafür kilometerlangen Anstiegen, der überwiegend schattenlosen zweiten Hälfte und mental aus oft weithin einsehbaren, endlos wirkenden Geraden.

Gesamturteil: Wer es zeitlich und finanziell schultern kann, sollte sich Barcelona keinesfalls entgehen lassen.

 

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