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Zum Laichen und Sterben ziehen die Lachse den Fluss hinauf  –  Gletschermarathon Pitztal

Zitate stammen aus dem Songtext „Zum Laichen und Sterben ...“ von Thees Uhlmann (vollständiger Text siehe unten)

Heimfahrt von Imst in Tirol Richtung Augsburg, irgendwo im Allgäu: Aus den Autolautsprechern dröhnt Thees Uhlmanns Rocksong „Zum Laichen und Sterben ziehen die Lachse den Fluss hinauf“. Kennen sicher wenige, obwohl nicht alt, voller eingängiger Akkorde und spannender Reime. Ich stelle die Lautstärke knapp unterhalb der Schmerzgrenze ein. Aus den Augenwinkeln sehe ich meine Beifahrerin Sybille rhythmisch zucken. Offensichtlich nicht vor Schmerz – von dem sie reichlich in ihren Beinen mit heim nimmt –, sondern im Takt der packenden Beats. Ist es Zufall, dass mich ausgerechnet dieser Song jetzt so mitreißt?

„Das Leben ist hart, aber das nehm' ich in Kauf
Zum Laichen und Sterben ziehen die Lachse den Fluss hinauf …“

„…Wenn es eine Lektion gibt, habe ich sie gelernt
Das Leben ist wie Feuer, es brennt und es wärmt“

Wir sind beide gut drauf. Was mich angeht, so sagt das nicht unbedingt etwas über Erfolg oder Misserfolg beim heutigen Bergab-Marathon-Abenteuer aus. Nach einem Finish fühle ich mich eigentlich immer gelöst, weil ich es wieder einmal geschafft habe. Und dass ich einen einmal begonnenen Marathon zu Ende laufe, überrascht inzwischen – es war heute Nummer 110 – auch niemand mehr.

Wie komme ich überhaupt nach Imst und ins Pitztal zum Gletschermarathon? An einem Wochenende, das mich eigentlich in der abschließenden Erholungsphase vor einer harten Ultraprüfung sehen sollte? Um das zu erklären, komme ich nicht umhin zunächst vom Scheitern zu sprechen. Nichts stimmte in diesem Jahr. Meine Form passte sich dem Wetter des ersten Halbjahrs an, hinkte den Erwartungen ständig hinterher. Im Januar kam ich nicht richtig aus den „Startlöchern“, später warf mich eine Erkältung zurück und diverse Trainingsfehler lassen sich auch nicht wegdiskutieren. Wer mich kennt, weiß, dass ich ein geplantes Wettkampfprogramm trotz Rückschlägen gnadenlos durchziehe. Immer in der Hoffnung der Knoten könnte doch noch platzen. In diesem Jahr heiligte der Erfolg nicht die Mittel und wirklich schön war’s zumeist auch nicht, da oft kalt und sehr, sehr nass. Dann das Highlight des Sommeralm Marathons bei Kraxi in der Steiermark. Superwetter, Superstimmung, Superlauf. Und ausgerechnet der bricht mir dann endgültig das Genick. Ines erkältet sich im kalten Wind auf der Sommeralm und gibt die Bazillen mit dreitägiger Verspätung an mich weiter. Vier Tage kein Training, danach ein 28 km-Test in heimischen Wäldern. Es war heiß. Zugegeben. Und meine Trainingsstrecke war gespickt mit Hügeln. Auch wahr. Trotzdem hätte ich mich unterwegs und danach nicht so verheerend kraftlos fühlen dürfen. Dieser Test drängt mich in die Ecke, erzwingt eine Entscheidung, die ich schon früher hätte fällen sollen: Ich verzichte auf den Ultra-Saisonhöhepunkt, weil alles andere als ein schmerzhaftes Scheitern unwahrscheinlich ist.

Es bedrückt mich, wenngleich ich weiß, dass schon ganz anderen, wahrhaft begnadeten Sportlern die Belohnung nach eisenhartem Training über einen langen Zeitraum versagt blieb. Dass sie kläglich scheiterten, wenn sie wider besseres Wissen auf einen Start nicht verzichteten. Was geschieht, wenn ein Spitzenathlet zwar will aber nicht kann? Trainer, Verband und Medien – und damit wir als Öffentlichkeit – reagieren in solchen Fällen allzu oft mit „Liebesentzug“. Also tritt er an und … landet unter ferner liefen. Der Druck ist groß. Mich hat niemand im Fokus und von meinem Ehrgeiz mal abgesehen werden keine Interessen verletzt. Und doch stinkt es mir gewaltig. Aber nicht lange. Wiedergutmachung muss her, ich will alternativ irgendwas, irgendwo, irgendwann finishen. Wenigstens meinen Marathonzähler um eins höher setzen. Mindestens ein bisschen Laufspaß haben, ohne fixes (Zeit-) Ziel. Frei nach Thees Uhlmann:

„Als meine erste Saite riss dachte ich, das Ding wär' kaputt
Ich hab' so geweint, als wär' sie Asche und Schutt
Jetzt hab' ich eine Gitarre und ich werde reisen
Ich werd' nicht müd', die Dinge die ich liebe zu preisen“

Der Gletschermarathon, Laufstrecke vom oberen Pitztal nach Imst in Tirol, rückt zwangsläufig in mein Blickfeld, weil keine andere Veranstaltung an diesem Wochenende in Reichweite ist. Sybille, eine Läuferin aus meinem Verein, Rennsteiglauffinalistin, die sich auf den Allgäu Panorama Ultra Marathon (70 km, 3.000 Hm) im August vorbereitet, habe ich kurzerhand zur Stippvisite ins Pitztal überredet. Sie zögerte, denn dieser Lauf ist „besonders“. Vor allem ein besonderes Wagnis für jene, die dergleichen noch nicht unternahmen: Ingesamt geht es etwa 1.000 Hm abwärts und das ausschließlich auf Asphalt. Zu Beginn eine gehörige Steigung, zwei weitere im letzten Drittel und – hinterhältigerweise – auf den letzten drei Kilometern.

Es sind also nicht nur die höchstens 6°C hier oben auf 1745 m Seehöhe kurz vorm Start für Sybilles und mein Frösteln verantwortlich. Wir bangen um unsere Oberschenkel und malen uns insgeheim aus, was der bevorstehende „Abfahrtslauf“ ihnen antun wird. Beide wollen wir in der kommenden Woche wieder trainieren, die Ultrafrau Sybille einen Zyklus mit sehr vielen Kilometern … Was auch immer passieren wird, Laufbekannte werden unser Schicksal teilen. Sybille trifft Freunde aus Göttingen, ein Laufpaar, das hier in der Nähe Urlaub macht und die Gelegenheit für einen Marathon nutzt. Gerade mal drei Wochen ist es her, dass ich Bernhard und Gefährtin Alex beim Sommeralm Marathon begegnete. Bernhard nimmt die Strecke heute zum dritten mal unter die Füße und schwärmt schon vorab von Publikum und Natur.

Zeit vom Wetter zu reden. Das tun in diesem Jahr alle, weil es die Jahreszeiten neu definiert und unberechenbar ist. Unberechenbar schlecht zumeist, zu lange eiskalt, zu nass, dann zu heiß und schließlich wieder nur mies. Und nun diese Überraschung: Ein paar verhuschte Wolken hängen vorm Azurblau und an den Steilhängen noch rum, ansonsten präsentiert sich der Himmel verheißungsvoll. Ich kann es kaum glauben, aber uns steht ein sonniger Lauf bevor! Mehr als alles andere würde mich das beflügeln. 8:20 Uhr: Nebelschwaden (= eine Wolke) ziehen über den Startplatz im Weiler Mandarfen. Der Ort besteht aus Hotels, Cafes, einer Liftstation und grandiosen Ausblicken, vor allem zu den vergletscherten Massiven der Ötztaler Alpen. Der Nebel kann mich nicht erschrecken, vermittelt immerhin eine Vorstellung davon, welche Sichtverhältnisse die letzten Tage hier oben herrschten.

Startschuss und los geht’s – in die falsche Richtung. Bergan zunächst und Richtung Talschluss. Kilometer verbraten lautet die Devise, denn die „Direttissima“ Mandarfen-Imst wäre um zwei Kilometer zu kurz. Also sofort aufwärts, mit schlafendem Kreislauf und ebensolcher Muskulatur. Das ist bei mir so, wenn ich einem Marathon einigermaßen ehrgeizlos entgegen sehe. Irgendwo entlang vieler hundert Marathon- und Ultrastrecken ist mir die aufputschende Adrenalinausschüttung infolge Lampenfiebers abhanden gekommen. Ich müsste mich einlaufen, wollte ich schon den ersten Schritt munter und entschlossen setzen. Doch dazu bin ich schlicht zu bequem. Wie? Ultraläufer und zu faul zum Einlaufen? Nein, das ist kein Widerspruch. Schon gar nicht in Altersklasse M60 und wenn man vor vier Uhr nachts aufstehen musste, um rechtzeitig in Mandarfen am Start gähnen zu können …

Durch feuchten Dunst aufwärts und zusehen wie sich Sybilles Hacken immer weiter entfernen. Wenn ich nicht schon tausend Mal erlebt hätte, wie mein Motor nach ein paar Minuten anspringt, ich wettete keinen Heller auf ein heute erfolgreiches Finish. Ganz ehrlich: Ich quäle mich aufwärts. Von schräg oben bricht plötzlich Sonne ins Geschehen, umgibt alle Läufer mit einer gespenstischen Aureole. Noch ein paar Schritte, dann reißt der Vorhang auf und vor uns liegt die Gletscherwelt der Ötztaler Alpen … für eine Minute … dann ist die Auftaktschleife abgearbeitet. Auf der Fahrstraße geht’s zurück in Richtung Startbereich und … bergab! Plötzlich Unruhe im Feld auf 1.800 Metern Seehöhe: Drei vom Läufertross aufgescheuchte Rindviecher veranstalten eine Mini-Stampede, fallen aber am Straßenrand rasch wieder in gewohnt behäbigen Trott. Kann ich von mir nicht behaupten: Zwar fehlt es an verlässlich genauem Gespür fürs augenblickliche Tempo mangels Einlaufen, dennoch bin ich für meine Verhältnisse ziemlich schnell unterwegs. Zu schnell? Merke: Den qualvollen Marathontod stirbt man auf den finalen Kilometern, verursacht wird er jedoch oft in der ersten halben Stunde. Übereifrige Marathonis haben was von Selbstmördern, die sich von hohen Brücken, Gebäuden oder in Abgründe stürzen. Es erwischt sie erst nach einigen Sekunden, doch aufzuhalten ist ihr Schicksal schon nach dem ersten Schritt nicht mehr …

Mandarfen, der Startort, liegt hinter mir, eingelaufen bin ich nun, aber weiterhin ziemlich „desorientiert“. Im ständigen Gefälle spüre ich kaum Anstrengung, obwohl recht forsch zielwärts rauschend. Mein Bewegungsapparat reagiert dafür wie gewohnt. Erst zwickt’s unten, dann weiter oben, dann noch hier und später da. Nach und nach „pfeift“ es aus diversen Löchern, gottlob nicht aus dem letzten. Also kein Grund zur Beunruhigung. Der Fahrer eines alten Autos wird auch erst panisch, wenn er gewohntes Klappern nicht mehr hört, weil seine Kiste dann den Geist aufgegeben hat. Mittlerweile habe ich wieder zu Sybille aufgeschlossen. Auch sie vermag die Signale aus ihrer orthopädischen Abteilung nicht recht zu deuten, steht aber unter dem Eindruck der „Angst des Läufers um seine Oberschenkel“.

Einig sind wir uns in der Verblüffung über das Wetter. Was für meteorologische Schreckensszenarien im Vorfeld auch durch die Köpfe gespuckt haben mögen, mit jeder Minute ziehen sich die Wolken weiter zurück und es kann nicht mehr lange dauern bis wir in wärmendem Sonnenschein laufen. Viel früher als von mir erwartet taucht der die Bergwelt in zauberhaftes Morgenlicht, prahlt mit satten Farben, kitzelt im Auge, streichelt mit wohliger Wärme den Nacken. Bedenkt man frühes Aufstehen, weite Anfahrt und übliche Morgenmuffeligkeit, dann war ich bisher schon in recht aufgeräumter Stimmung. Und die macht nun einen gewaltigen Satz, als wollte sie die Spitzen der Pitztaler Felsriesen erreichen. Licht und kräftige Farben sind mir Lebenselixier – wie sehr, weiß ich immer erst nach einer langen, düsteren Phase der Entbehrung.

„Ich packe meinen Kopf in das Maul des Löwen
Leg mich in den Wind und flieg mit den Möwen“

Keine Ahnung, was ich heute wert bin, nach den Trainingsausfällen und Behinderungen der letzten Zeit. Keine Ahnung, wie mir 1.000 Höhenmeter „Abfahrt“ über Asphalt bekommen werden. Klingt es merkwürdig, wenn ich fehlende Erfahrung dafür geltend mache? Fehlende Erfahrung nach 109 Ultras und Marathons? Eine Menge Holz, aber in meiner Sammlung findet sich kein Krieger, der mit einer solchen Keule auf meine Beine eingedroschen hätte. Wenn ich mich nicht einbremse, gehe ich hohes Risiko. Andererseits: Was soll schon passieren? Maximal eine quälende Schlussphase, jaulende Beine, morgen ein kapitaler Muskelkater. Nichts, was ich nicht schon etliche Male durchlitten und weggesteckt hätte. Klingt nach Abwägen und Entscheiden. Dass ich um Nullkommanix reduziere, hat indes andere Gründe. Einer flitzt vor mir her, ist weiblich und ein paar Jahrzehnte jünger. Quasi als stete Aufforderung an einen alternden Mann nicht lahmarschig zurückzustecken. Dann ist da noch die vage Aussicht in meiner Altersklasse mal wieder aufs Treppchen zu steigen, wenn bis auf zwei die wirklich guten Laufopas zum Ausschlafen in ihren Kissen blieben. Den Ausschlag gibt fraglos pure Lust am Laufen, geweckt und nachhaltig angeheizt von dem endlich wieder strahlenden Stern am Himmel hinter mir …

Nach einem Fotostopp hänge ich ein paar Meter hinter Sybille her, laufe gerade neben einem Mann im kanariengelben Shirt. „Na Udo, läuft’s gut?“ fragt mich der und erst jetzt erkenne ich Charly vom Team TOMJ (sprich „Tomi“; Anfangsbuchstaben der Gründungsmitglieder) aus Augsburg. „Jetzt schon noch!“ antworte ich wahrheitsgemäß und gutgelaunt. Natürlich soll es spaßig klingen, obschon in meiner Antwort auch die Befürchtung mitschwingt, die Schussfahrt auf Asphalt könnte meine Beine „schroten“ (Sybilles Wortwahl übrigens, die sie auf der Heimfahrt prägen und damit das tatsächliche Geschehen prägnant zusammenfassen wird). Vom Straßenrand wird gerade wieder „scharf geschossen“. Alex, die Lebensgefährtin von Bernhard, richtet zum wiederholten Mal die Kamera auf uns. Von Bernhard ist schon lange nichts mehr zu sehen, vermutlich wird er deutlich unter 3:30 h finishen.

Ist es nur das berühmte Haar in der Suppe? Wahrscheinlich. Wir sind per Wettkampfreglement verpflichtet auf der rechten Straßenseite zu laufen. Der Gegenverkehr fließt meist zügig vorbei, wer in unserer Richtung unterwegs ist, übt sich im Kolonnenspringen zwischen Läufern. Alle Motorisierten nehmen Rücksicht, fahren vorausschauend und vorsichtig. Im gesamten Streckenverlauf beobachte ich nicht eine Gefahrensituation. Also alles gut? Beinahe. Leider animiert das gute Wetter viele zu Ausflügen und die Abgasfahnen vorbei tuckernder Fahrzeuge stinken ziemlich zum Himmel …

Die Zeit vergeht wie im Flug und die Kilometer „rauschen“ nur so vorbei. Ich genieße das hohe Tempo, mehr noch mit dem Kilometer-Zählen kaum nachzukommen. Wie hart es ist, merke ich eigentlich nur an der Spannung einer zunehmend gestressten Beinmuskulatur. Das Gefühl einsetzender Ermüdung will sich dagegen nicht einstellen. Die Bilder rechts und links der Strecke gleichen sich: Jäh aufragende sattgrüne Bergflanken, bewaldet oder mit Felsbändern durchsetzt und in saftige Wiesen auslaufend. Unverrückbar und majestätisch recken sie sich gen Himmel. Zu ihren Kronen aus felsigen Zinnen, sicher tausend Meter weiter oben, erhascht man nur beiläufige Blicke, wenn Einschnitte im Massiv es zulassen. Dann und wann rauschen Bäche herab. Viel Wasser, das mehr stürzt, fällt, gischtet, als zu fließen.

„MEX“ steht auf dem Nummernschild des Vans, dessen Insasse uns bald jeden zweiten Kilometer überholt, kurz darauf rechts oder links ranfährt und mit hoch erhobenem Smartphon Fotos sammelt. Fotos von seiner Angebeteten, die etliche Kilometer vergnügt vor mir her trabt. Beim Überholen ruft er ihr Erbauliches durch das herab gelassene Seitenfenster zu; jedenfalls lacht sie mehrmals glockenhell auf. Nach dem fälligen Foto feuert er an, winkt und schenkt ihr wohl auch das eine oder andere Handküsschen. Wie? Nein, natürlich keine Mexikaner. Es handelt sich um die Anfangsbuchstaben eines ungarischen Kennzeichens. Allerdings nähme mich auch die Teilnahme einer mexikanischen Läuferin nicht wunder, weil in der Urlaubszeit viele Ausländer das international besetzte Feld verstärken. Französisch sprach man am Start und auch englische Brocken waren zu vernehmen. Deutsche, Schweizer und Italiener sowieso. Natürlich Holländer, die zwischen Mai und September zu dieser Landschaft gehören, wie die Kuh zur Alm. Der ganz nahe Osten begegnete mir in Form eines polnischen Trikots und ein Tscheche war auch nicht zu übersehen.

Zuweilen umgibt mich Dunkelheit und Kunstlicht, wenn meine Schritte in einem der nicht seltenen Tunnel verhallen. Tunnel im Talgrund? Es handelt sich samt und sonders um Bauwerke, die den Verkehr im Winter vor Lawinenabgängen schützen sollen. Ohne diese Verbauungen wären die höher gelegenen Abschnitte des Pitztals nach Lawinen tagelang von der Außenwelt abgeschnitten.

Kilometer 19, 20, 21. Seit geraumer Zeit warte ich auf den ersten Anstieg. Leider habe ich mir weder das Streckenprofil eingeprägt, noch während der Herfahrt auf Distanzen geachtet. „Halbzeit!“ rufe ich Sybille zu, die unverdrossen Tempo hält. Wie immer in solchen Situationen, halte ich mich mindestens einen halben Schritt seitlich hinter ihr, will sie nicht mit mir unterstellter „Führungsarbeit“ zu mehr Tempo animieren. Vermutlich haben sie „Paarläufe“ mit ihrem Lebensgefährten Dennis – gleichfalls Ultraläufer – in dieser Hinsicht „abgehärtet“, aber man kann nie wissen …

Kaum einen Kilometer später begehe ich dann schnöden Verrat an Sybille und obendrein meiner guten Absicht. Die Straße gewinnt merklich an Gefälle, das mich auffordert „es rollen zu lassen“. Im Nu bin ich ein paar Meter vor Sybille, die ihr Tempo stoisch hält. Sie will ihre Oberschenkel auf dem harten Straßenbelag nicht „verheizen“, das ist mir schon klar. Allerdings könnte ihre Taktik genau diese Folgen haben, weil sie die jetzt höhere, jedem Schritt innewohnende Wucht ein wenig abbremsen muss. Vermehrte exzentrische (= nachgebende) Muskelarbeit! Nach langen Pausen ohne Bergab-Training mündet die bei mir ausnahmslos in kapitalem Muskelkater. Um die Nachwehen so klein wie möglich zu halten, verlängere ich die Schrittweite und bewahre mir einen möglichst flüssigen Laufstil. Noch geht das, weil meine Haxen nicht schmerzen. Doch dazu wird es kommen, da bin ich ziemlich sicher …

Gut 25 Kilometer gelaufen, zum ersten Mal geht’s wieder aufwärts. Ich stoppe für ein Foto und blicke mich nach Sybille um. Klingt vielleicht komisch ist aber so: Bisher habe ich mich das nicht getraut. Denn nach was hätte es ausgesehen? Entweder nach Aufforderung „Lauf schneller!“ oder nach Kontrolle, ob es mir gelingt sie „abzuhängen“. Fände ich echt „peinlich“ (im ersten Fall zusätzlich fatal) solche falschen Signale zu versenden. Und weiter bergan, was mich durchaus anstrengt. Doch wie sehr? Etwas? Normal? Schon frühzeitige Ermüdung signalisierend? Nach über zwanzig Kilometern Gefälle vermag ich das nicht eindeutig zu sagen. Ein starkes Stück! Von jemandem mit meiner Wettkampferfahrung sollte man eigentlich annehmen, dass er jede denkbare Situation schon einmal durchlebt hat.

Neuerlich runter und wieder ziemlich flott. Ehe ich mich versehe huscht die weiße, auf den Asphalt gepinselte „30“ vorbei. Wie immer stimmt sie mich auf das Finale ein. Nur noch zwölf Kilometer, das ist nicht mehr weit. Kilometer 31: Ich finde mich in einer weiteren Steigung wieder, etwa anderthalb Kilometer weit und fordernd. Und diesmal ist mein Laufgefühl eindeutig. Eindeutig erfreulich: Ich spüre keinerlei Kräfteverschleiß und trabe erstaunlich flott bergwärts durch die Ortschaft Wenns.

Langsam verändert die Landschaft ihren Charakter. Das Pitztal öffnet sich zum Inntal hin, die schroffen Flanken treten zurück und man kann bereits ahnen wo Imst und damit das Ziel liegen wird. Das klotzige Massiv des Thaneller, einer der Imster Hausberge, beherrscht mehr und mehr die Szenerie. Die Aussicht hat sich verändert, präsentiert sich aber nicht weniger spektakulär. Diesen Marathon sollte man unbedingt bei Sonnenschein und guten Sichtverhältnissen laufen! Wieder durch ein Dorf. Keine Ahnung wie es heißt, doch hier wie schon zuvor dasselbe Bild. Die Bevölkerung nimmt Anteil an diesem sportlichen Ereignis, steht Spalier, klatscht, feuert an.

Wenn meine Knochen das auch noch überstehen, kann ich mich glücklich schätzen! Steil geht es jetzt hinab, dem Inntal zu, einmal auch durch eine Serpentine. Ich behalte meine Taktik bei und lasse es laufen. Nicht bremsen, so wenig wie möglich exzentrische Muskelarbeit. Natürlich tut das jetzt weh, aber es fehlen nur noch fünf Kilometer und ich halte es aus. Wie schon eine Weile zuvor, sammele ich einen Läufer nach dem anderen ein. Offensichtlich lag ich mit meiner Selbsteinschätzung heute richtig. Nur bloß nicht an morgen denken, an den unvermeidlichen Muskelkater! Weiter runter. Einen weiteren Kilometer, zwei, drei ... Hoch über seiner Klamm wechsele ich von einer Uferseite des Inns zur anderen. War er nicht zu sehen oder schaute ich nur einfach nicht hin? Keine Erinnerung. Ein Kreisverkehr, man weist mich ein, nein, eher abwärts. Wieder etliche hundert Schritte, die mir durch Mark und Bein fahren. Runter, runter, … wie lange noch?

Dann eine scharfe Rechtskehre und es ist überstanden. Lass mich präzise sein: Die tausend Höhenmeter abwärts sind überstanden, zum Ziel fehlen noch volle drei Kilometer. Drei „echt gemeine“ Kilometer, denn peu à peu trabe ich in eine Steigung. Auch in dieser Phase ist mein Laufgefühl wieder eindeutig. Diesmal aber eindeutig unerfreulich: Schwere Beine stehen für fortgeschrittene Ermüdung. Wegen des raschen Übergangs von „flott runter“ auf „langsam rauf“ empfinde ich es doppelt hart. Wo habe ich die Ausdauer gelassen? Noch vor 10 Kilometern fühlte ich mich kaum angegriffen, seither ging’s rasant und fast nur runter. Und nun „Flasche leer“? Wie kann das sein? Schritt für Schritt wandelt sich der strahlende Freund zum Feind, treibt mir das Wasser aus den Poren und auf die Stirn. Immer steiler erhebt sich das Band der Straße und ich werde langsamer. Als „vernichtend“ hatte Bernhard heute morgen die beiden Schlusskilometer deklariert und hatte recht damit. Um den Maßstab zurechtzurücken: Objektiv betrachtet und gemessen ist die Steigung lächerlich und mein Tempo noch immer ganz passabel – irgendwo bei 5:30 min/km. Aber es geht um die Kilometer 40 und 41, die letzten eines Marathons und ich muss rauf, nach mehr als drei Stunden runter. Nach den vielen D-Zug-Kilometern komme ich mir vor wie eine Schnecke und leide natürlich jetzt. Auch in Ordnung. Leiden gehört zum Marathon, wie nass werden zum Schwimmen. Und selbst im augenblicklichen Sehnen, es möge ganz, ganz bald zu Ende sein, verkenne ich keineswegs: Faszination und ewige Versuchung ist mir der Marathon auch, weil er mich jedes Mal an meine Grenzen bringt. Eine wahre Liebesbeziehung, Leidenschaft die Leiden schafft. Oder mit den Worten von Thees Uhlmann:

„Das Leben ist hart, aber das nehm' ich in Kauf
Zum Laichen und Sterben ziehen die Lachse den Fluss hinauf …“

„…Wenn es eine Lektion gibt, habe ich sie gelernt
Das Leben ist wie Feuer, es brennt und es wärmt“

Da ist sie, weiß auf grau, die ersehnte „41“. Der letzte Kilometer. Durchhalten. Dann und wann begegne ich Passanten, meist Läufer. „Super! Gleich geschafft! Tolle Leistung!“ Üblicher Beifall, der gut tut auf den letzten Metern. Noch eine Kurve, noch ein Hügel, rechts ab und dann sehe ich das Zieltor vor mir …

 

Leistungen:

Sybille:     3:33:30, Gesamtrang: 5, W30: Platz 1
Bernhard: 3:16:32 h, Gesamtrang: 37, M35: Platz 4
Udo:          3:31:21 h, Gesamtrang: 62, M60: Platz 1

 

Vollständiger Text des Songs von Thees Uhlmann:

(Hinweis: Zum Zeitpunkt des Laufberichts war das Werk noch bei Youtube zu hören.)

Zum Laichen und Sterben ziehen die Lachse den Fluss hinauf

Ich kam auf die Welt in einem Kadett
Ein Poster von Littbarski über meinem Bett
Im Frühling '74, Sternzeichen Widder
Im Kalten Krieg wussten wir, warum wir noch zittern

Ein Finger in der Luft, zwei hinter'm Rücken gekreuzt
Ich werd' nie vergessen, wovon du nachts träumst
Das Leben ist hart, aber das nehm' ich in Kauf
Zum Laichen und Sterben ziehen die Lachse den Fluss hinauf

Als meine erste Saite riss dachte ich, das Ding wär' kaputt
Ich hab' so geweint, als wär' sie Asche und Schutt
Jetzt hab' ich eine Gitarre und ich werde reisen
Ich werd' nicht müd', die Dinge die ich liebe zu preisen

Wenn es eine Lektion gibt, habe ich sie gelernt
Das Leben ist wie Feuer, es brennt und es wärmt
Das Leben ist hart, aber das nehm' ich in Kauf
Zum Laichen und Sterben ziehen die Lachse den Fluss hinauf (4x)

Mein Leben fühlt sich an, wie gejagte Wale
Wie ein Pferdeschädel voller zuckender Aale
Ich packe meinen Kopf in das Maul des Löwen
Leg mich in den Wind und flieg mit den Möwen

Wenn es eine Lektion gibt, habe ich sie gelernt
Das Leben ist wie Feuer, es brennt und es wärmt
Das Leben ist hart, aber das nehm' ich in Kauf
Zum Laichen und Sterben ziehen die Lachse den Fluss hinauf (10x)

 

Fazit zur Veranstaltung

Neben der „besonderen“ Strecke treten alle anderen Aspekte des Gletschermarathons in den Hintergrund. 1.000 Hm abwärts auf knochenhartem Asphalt belasten den Laufapparat gewaltig. Wer sich das ohne vorheriges Bergab-Training zumutet, kann an den Tagen nach dem Marathon kaum mehr gehen. Bei mir lag ein Bergmarathon erst drei Wochen zurück und trotzdem hatte ich drei Tage mit kapitalen Muskelschmerzen zu kämpfen.

Die Strecke ist wunderschön, verlangt aber nach gutem Wetter. Dann bieten sich Aussichten, die ihresgleichen suchen. Sich am Laufwochenende nachzumelden halte ich deswegen für eine gute Idee. Mich störte bisweilen der Abgasgestank vorbei fahrender Autos. Den Kurs am Lauftag zu sperren ist nicht möglich, weil die Straße nun mal die einzige Verkehrsanbindung für die Orte im Pitztal darstellt.

Hinsichtlich Organisation und Versorgung der Läufer hat das Team des Gletschermarathons die Note eins verdient.

 

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