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Bestnote  –  Schefflenzer Ultra, 50 km, 2013

Um es vorweg zu nehmen: Die Bestnote beanspruche ich keineswegs für mich oder für Roxi, meine vierbeinige Begleiterin auf dem 50 Kilometer-Rundkurs des Schefflenzer Ultras. Sie gebührt dem Veranstalter. Ich stelle dieses Prädikat an den Anfang, weil geneigte, gleichwohl überforderte Leser beim Lesen erlahmen könnten – der üblichen Länge meiner Laufberichte Tribut zollend. Und für dieses absolute Kleinod einer Laufveranstaltung die Werbetrommel zu rühren habe ich mir auf die Fahne geschrieben. Im Schefflenzer Tal, wenig nördlich von Heilbronn, leben Menschen, die sich mit Hingabe und Idealismus in den Dienst des Laufsports stellen; dafür eine immense Arbeit verrichten, von der viel zu wenige Läufer profitieren. Warum dieses Angebot nur zögerlich angenommen wird, will sich mir nicht erschließen. Immerhin hat man auch einen Marathon im Angebot, falls 50 oder gar 100 Kilometer eine zu große Herausforderung darstellen. Darüber hinaus liegt mit dem Städtedreieck Heilbronn, Ludwigsburg und vor allem Stuttgart ein Ballungsraum sozusagen vor der Haustür.

Vertraut meiner Einschätzung: Es gibt sicher wenige Laufveranstaltungen, die mit solcher Liebe zum Detail vorbereitet und in einer rundum so herzlichen Atmosphäre durchgeführt werden wie der Schefflenzer Ultra!

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Leider muss ich die Lobhudelei sofort mit einer krassen organisatorischen Fehlleistung konterkarieren: Das Wetter haben die dort im Schefflenzer Umland absolut nicht im Griff. Roxi und ich kommen im strömenden Regen an und gehen zwischen nassen Bindfäden um 8 Uhr an den Start. Der geschieht diesmal in Form eines „fliegenden Starts“, einer Methode also, die ich bisher nur dem Motor-, Pferde- oder Radsport zuordnete. Und das kam so …

Wir haben uns verspätet, Roxi und ich. Wofür Roxi gar nichts kann, das Regenwetter dagegen einiges und ich sehr viel: Zu spät losgefahren und dann von Wolkenbrüchen auf der Autobahn zum Schleichen verdonnert. 30 Minuten bleiben mir für die Vorbereitungen – ach nein, eigentlich nur 20, wegen der obligatorischen Einweisung vor dem Start. Die findet dann etwas verspätet im Trockenen in der Halle statt. Und danach verrinnt reichlich Zeit, bis sich der Tross aus der Halle in Richtung Start in Bewegung setzt. Mit Roxi an der Leine warte ich natürlich bis zuletzt (was mein randvoll unter Lauf-Adrenalin stehender Hund mit hochfrequent ungeduldigem Quietschen quittiert). Als wir uns – am Schwanz der Meute gehend – der Startlinie auf Sichtweite nähern, geht dort schon die Post ab. Fliegender Start, dem Mistwetter geschuldet …

Das ist übrigens voll okay, wie so vieles rund um diesen Lauf. Läufer mit Siegchancen – ähnlich von Kampfhormonen gesteuert, wie mein wild an der Leine zerrender Hund – stehen ohnehin immer rechtzeitig und als Erste am Start. Für das Laufduo Udo-Roxi ist das sogar hilfreich, weil sich der Tross nach fliegendem Start schon nach einer Minute entzerrt. Also kommandiere ich „Sitz!“, löse die Leine und schenke Roxi die Freiheit. Die nimmt sie sich und zischt davon, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her. Im Gegensatz zu mir möchte Roxi immer gewinnen (hätte im übrigen auch die Fähigkeiten dazu) und überholt erst einmal hemmungslos. Irgendwann vermisst sie ihren lahmarschigen Rudelführer, kehrt suchend und witternd um. Hat sie mich identifiziert, rauscht sie wieder davon. Auf den ersten Kilometern wiederholt sich dieser Ablauf unentwegt.

Es regnet. Vorm ersten Wald, weil es regnet. Im ersten Wald und allen weiteren Wäldern, weil die Bäume weinen und dicke Tränen von ihren Blättern kullern. Anfangs habe ich null Bock auf diesen Lauf. Erstens, weil ich noch trocken bin und es von oben nasskalt auf mich niederprasselt. Zweitens platsche ich durch …

Aber meine Unlust legt sich Schritt um Schritt, denn …

Mit anderen Worten: Ich bin jetzt richtig gut akklimatisiert und kann mich Wichtigerem zuwenden als mein Schicksal zu beklagen. Zum Beispiel der unbändigen Lauf- und Lebensfreude mit der unsere Hündin Roxi dieses Dreckwetter ignoriert. Dank Erziehung von Frauchen und Hundeschule ist sie in jeder Situation gehorsam und beherrschbar. Dennoch gleicht es einem Vulkanausbruch, wenn man ihr nach langem Stillsitzen die Zügel schießen lässt. Man hat mich auch schon um sie beneidet. Vorhin, bei der Einweisung, wurde sie von einem Läuferpaar gnadenlos „niedergestreichelt“. Zu Laufbeginn gipfelte das hundenärrische Verhalten in der Nachfrage, welcher Rasse Roxi denn entstamme und einem sehnsuchtsvollen Aufstöhnen: „Och, so einen will ich auch!“ – „So eine“ gibt’s aber nur einmal und ich schätze mich glücklich sie als Trainingspartnerin zu haben. Und noch glücklicher, sie dann und wann bei geeigneten Laufveranstaltungen mitnehmen zu können. Geeignet sind alle Läufe, wo sie frei laufen kann und für niemanden eine Stolpergefahr bedeutet. Damit scheiden leider 8 von 10 Ultras und Marathons aus. Entweder ist die Teilnehmerzahl zu hoch oder die Streckengestaltung lässt es nicht zu (zu enge Wege, Stadt, Gegenverkehr auf Wendestrecken).

So weit das Auge auf der ersten Hochfläche reicht wiegen sich Getreidehalme im gottlob nur leichten Wind. Die Natur hat immer noch Verspätung. Letztes Jahr um diese Zeit waren die Feldfrüchte der Ernte um Wochen näher. Die ersten Kilometer sind hart. Schlüpfrige, morastige Wald- und Feldwege, auf denen ein ums andere Mal ozeangroße Lachen zu Randläufen zwingen. Fordernde Anstiege, Schlammpassagen, die die Schuhe nur widerwillig schmatzend freigeben, federnde Grastritte und das Abfangen wegrutschender Füße bedeuten einen enormen Substanzverlust. Also übe ich mich erst einmal in Schwarzmalerei: Wenn das so bleibt, werde ich die fünf Stunden Laufzeit des Vorjahres kaum wiederholen können. Damit ist auch mein Ziel grob umrissen. Ein Ziel, das ich mir aus zwei Gründen nicht auf Biegen und Brechen setze. Erstens nervt das Wetter (wen nicht?), außerdem will ich morgen einen weiteren Marathon als zweite, lange Trainingseinheit draufsatteln*.

*) Zu diesem Zeitpunkt kann ich noch nicht wissen, dass ich tags drauf unverrichteter Dinge aus Immenstadt zurückkehren werde. Der Illermarathon wird kurz vorm Start wegen stellenweiser Überflutung der Strecke abgesagt.

Eingangs des ersten winzigen Weilers demonstrieren Roxi und ich, was wir drauf haben: „Zu mir!“ Weniger für den Hund, der das selbstverständlich nicht versteht, als für das Läuferpaar in meiner Nähe füge ich noch hinzu: „Straßen Roxi! Da könnten Autos kommen!“ Gehorsam wartet sie auf mich und lässt sich mit Kommando „Langsam!“ an meiner Seite „verankern“. Für sie hat „langsam“ keinen Bezug zum Tempo. Es heißt einfach: „Lauf an meiner linken Seite!“ Beim Laufen schwankt die Distanz zwischen Führer und Hund zwangsläufig. Deshalb scheidet die Verwendung der Anweisung „Fuß!“ aus, denn „Fuß!“ ist ein strikter Befehl ohne Toleranz.

Erste Tränke zum Wassertanken, dann ein kurzes asphaltiertes Stück, rechts weg auf einen Feldweg und steil hinab. Der Weg befand sich letztes Jahr schon in miserablem Zustand und da war’s trocken. Jetzt lässt er sich nur noch auf der wadentief mit Gras bewachsenen Mitte belaufen, zwischen zwei gurgelnden Wildbächen. Unten angekommen überstehe ich ein paar Schritte durch Schwemmland, die mir kein allzu großes Kopfzerbrechen mehr bereiten. Zur Erinnerung: Die Füße stehen voll im Saft. Es folgen zweihundert Meter asphaltierter Buckel aufwärts, die mich das harte Intervalltraining vom Mittwoch von Herzen bereuen lassen. Natürlich gehe ich diesen Trainings-Ultra nicht ausgeruht an. Möglicherweise stecken auch noch die 73 Kilometer Rennsteig von vor einer Woche in meinen Knochen. Restermüdung lässt sich nie selektiv genau zuordnen.

Zurück auf der Hochfläche geht das leichte, kaum störende Tröpfeln der letzten halben Stunde in ergiebiges Schütten über. Zudem belästigt der Wind nun von vorn, weswegen ich schon ein paar Verwünschungen ausstoße – aber nur halblaut, weil es niemand hören braucht, einzig mir helfen soll Frust abzubauen. Auf den Kilometern 8, 9 und 10 renne ich gegen dieses triefnasse Intermezzo an und beneide Roxi. Wird ihr Fell zu nass, verharrt sie kurz und schüttelt sich nach hündischer Art: Das Schütteln beginnt am Kopf und pflanzt sich einer Welle gleich über den ganzen Rumpf bis zur Schwanzspitze fort.

Trotz Asphalt oder Beton als Wegbefestigung, flossen mancherorts kleine Tümpel zusammen, die es aufwändig zu umlaufen gilt. Bäche gurgeln am Straßenrand und das mit unglaublicher Fließgeschwindigkeit auf abschüssigem Terrain. Ich blicke voraus gegen den Wind, in einen grauen, von tief lastenden Regenwolken gesättigten Himmel. Ich suche nach Zeichen, die ein Nachlassen der Dusche versprechen, finde aber keine. Als meine Stimmung zu kippen droht, endet der Asphalt. Das zunehmende Gefälle des beginnenden Waldweges erzwingt meine volle Konzentration, so bleibt keine Zeit mit dem Läuferschicksal zu hadern …

Unten angekommen schlüpfe ich unters Dach eines Partyzeltes und finde für die Trinkdauer eines Bechers Wasser ein bisschen Schutz vorm nassen Element. „Dein Laufbericht hat mir sehr gefallen Udo!“ meint ein kurz vor mir angekommener Läufer. Automatisch denke ich an mein letztes „Werk“ zum Supermarathon am Rennsteig, habe aber die Geistesgegenwart nachzufragen: „Welchen meiner „fünf Millionen“ Laufberichte meinst du?“ – „Na den von hier, vom letzten Jahr! Wusste nicht, dass du mehr geschrieben hast.“ Ich bedanke mich artig und mache mich mit Roxi wieder auf den Weg. Mag sein, die sofort wieder störende Brause von oben verhindert, dass mir der Widerspruch in seiner Rede nicht auffällt. So er den Bericht auf unserer Laufseite gelesen hat, können ihm auch die anderen über hundert Berichte nicht verborgen geblieben sein …**

**) Der Veranstalter hat in der Sporthalle eine kleine Ausstellung mit Bildern und Laufberichten zum Schefflenzer Ultra ausgerichtet. Unter anderen ist dort auch meine Beschreibung der 50 km-Runde vom letzten Jahr zu finden, was ich jedoch erst nach dem Lauf mitbekomme.

Endlich wieder im Wald. Auch hier tropft es massiv von oben, aber wenigstens lotrecht, unbeeinflusst vom Wind. In Steigungen nehme ich mein Tempo unverhältnismäßig zurück, schone mich für die vielen noch verbleibenden Kilometer. Ausgeruhtere Läufer holen auf, ziehen locker vorbei. Einer hält Schritt und meint: „Und du fährst jetzt von Augsburg den weiten Weg hierher?“ Der Satz bildet den Auftakt zu einem der längsten Gespräche, die ich je im Verlauf eines Marathons oder Ultras führte. Ungewöhnlich für einen unterwegs extrem mundfaulen Zeitgenossen wie mich. Wir reden über Laufveranstaltungen, Marathons, Ultras, dies und das. Diesen gelaufen, jenen genossen, da musst du hin und den darfst du nicht auslassen. Vergleiche zwischen Läufen werden angestellt, wobei ich – wie sich schnell heraus stellt – mit über hundert Marathons einen deutlichen Lauf- und Erfahrungsvorsprung besitze. Erst kurz vor Ende des Waldes, fällt mir wieder ein, dass ich mit Hund unterwegs bin; just in jenem Moment, als ich Roxi achtzig Meter voraus auf die nächste Tränke zuhalten sehe …

Ich spendiere ihr ein Stück Brot als „Leckerle“, das sie mit geweiteten Hundeaugen annimmt. Ohne Brille kann ich nicht genau erkennen, was ich ihr da hinhalte. Im Loslaufen erfasst mich aber ein Verdacht und ich ersetze nach Hundeart Sehkraft durch Geruchssinn. Aha! Meine Finger duften verführerisch nach Leberwurst!

Aufwärts, abwärts, vorbei an der 20 km-Tafel, wieder aufwärts und wieder abwärts. Mal unbefestigt auf Feldwegen, mal asphaltiert. Aufwärts spüre ich die Belastung der letzten Wochen als Ermüdung, abwärts als schmerzhaftes Zwicken an den üblichen neuralgischen Körperstellen. Natürlich regnet es weiter, mal mehr, mal weniger, auch wenn ich das – wozu es mich natürlich drängt – nicht in jeden zweiten Satz packen kann. Selten, dass es mir gelingt 30 Meter ohne Spurwechsel zu überbrücken. Immer wieder zwingen Rinnsale oder aufgestautes Wasser zum Ausweichen. Und nun wieder rauf, recht steil, auf Asphalt, mühsam aber stetig. Klingt alles nicht nach Vergnügen. Offen gestanden ist es das auch nicht. Überhaupt nicht. Trotzdem habe ich keine schlechte Laune. Zu Hause, dasselbe Pensum unter ähnlichen Bedingungen abspulend, hätte ich die bestimmt. Hier nicht. Warum?

Wieder führe ich Roxi per Kommando wie an einer unsichtbaren Leine. Durch einen Ort, steil hinab, die Hauptstraße überqueren und zwischen zwei Häusern einen grasigen Pfad erreichen. Der bringt mich zum erwarteten Steg über einen – hoppla! heute schmutzig-braun gischtenden – Bach und nach zwei weiteren Richtungsänderungen zur nächsten Verpflegungsstation neben dem Dorfteich. Baden fällt heute aus – für Roxi, die sich hier letztes Jahr abkühlen durfte.

Zeitgleich springen die beiden zur Seite. Roxi in Erwartung eines Schmerzen bereitenden Laufschuhs und der Besitzer des Schuhs, um den Hund nicht zu treten. Sätze des Bedauerns rede ich dem Laufschuhträger aus, weil mein Vierbeiner unterm „Gabentisch“ nichts zu suchen hat, überdies blitzartig reagiert und so schadfrei davon kommt. Er stelle sich das motivierend vor mit Hund zu laufen, meint der noch immer schuldbewusst klingende Zweibeiner. „Es macht einfach Spaß“ fasse ich mein Erleben in Sachen „Hund und Laufen“ in einer Kurzformel zusammen.

Aber ist das Laufen mit Hund motivierend? „Motivation bezeichnet das auf emotionaler und neuronaler Aktivität … beruhende Streben des Menschen nach Zielen oder wünschenswerten Zielobjekten.“ So steht es bei Wikipedia. Erhöht das Laufen mit Roxi meinen Ansporn, gibt es mir Absichten vor oder lässt mich zumindest meine Ziele anspruchsvoller formulieren? Wohl kaum. Die Zielsetzung richte ich einzig an meinen (vermuteten) Fähigkeiten aus. Roxi nimmt insofern Einfluss auf die Trainings- und Wettkampfplanung als ich Landschaftsläufe gemeinsam mit ihr, konkurrierenden Veranstaltungen ohne sie vorziehe. Ansonsten bildet sie im Training eine Spaßkonstante, dann ungemein wichtig, wenn sich die übrigen Rahmenbedingungen – abgeleitet aus Wetter und Tagesform – gegen mich verschwören (was besonders in diesem Jahr nur allzu oft geschah).

Hier soll ich schon mal gewesen sein? Wir traben zwischen dreiseitig von Wald umschlossenen Feldern. Felder in denen Wasser steht. Das wird sicher noch höher steigen, denn über den asphaltierten Weg spülen Sturzbäche in Richtung tiefste Stelle. Wieder und wieder schöpfe ich neuen Wasservorrat in meine Schuhe, weil das Ausweichen auf die Grasnarbe allzu oft im Sumpf endet. Etwa die Hälfte des Kurses bleibt noch und ich hoffe meine Füße meutern nicht gegen die Wasserspiele. Wieder eine Kuppe im Bachbett nehmen, sehen und hören wie es von allen Seiten heran, herab und vorbei strömt, gurgelt, plätschert. Jenseits des Scheitels hinab, so rasch es das Navigieren im Bachbett zulässt …

Gewerbegebiete überwuchern und vernichten Landschaft. Dasjenige der kleinen Ortschaft Billigheim zieht sich sage und schreibe einen Kilometer entlang eines Geländeeinschnitts und endet auf dem Parkplatz eines Autohauses. In diesem Jahr hat man den fälligen Verpflegungspunkt kurzerhand in eine Werkstatthalle verlegt, um sich vorm nassen Element zu schützen. Iso für mich, eine Minisalami – nicht größer und dicker als ein Fingerglied – für Roxi … Roxi liebt Wettkämpfe!

Wieder steil hinauf, am Rand des Dorfes, zwei, drei Minuten und sofort wieder hinab, sehr abschüssig, nicht mal eine Minute, dann neuerlich bergan … Schon diese kurze Sequenz verdeutlicht die heutige Achterbahn und den Anspruch des Kurses. Wieder von Wald verschluckt, auf einem schmalen Sträßchen laufend und ausnahmsweise nicht von fließendem Wasser belästigt. Dafür vom Gegenverkehr in Form eines vorbei tuckernden, angejahrten VW-Busses. Und es stinkt nach Benzin. Zunächst habe ich die Maschine des alten VW-Transporters im Verdacht nur halb verbrannten Kraftstoff auszustoßen. Doch die schillernd ausufernden Flecken auf dem nassen Asphalt sprechen eine andere Sprache. Ich hole Roxi auf meine linke Seite, will sie nicht durch Benzin tappen lassen. Ich tippele vor mich hin und folge denn schillernden Farbmustern mit den Augen. Ist da ein Benzinkanister auf einer Ladefläche umgekippt und suppte seinen Inhalt über Bord? Das könnte erklären, wieso die Flecken mal von der einen Seite des Sträßchens zur anderen wechseln und sich in unregelmäßigen Abständen reihen. Ein weiteres Auto stört meine Überlegungen, wir weichen zum Straßenrand aus. An verschiedenen Stellen hat der Regen das Benzin von der Straße ins Erdreich gespült. Es kann mir also nicht gänzlich gelingen Roxi vor einem Kontakt mit der Chemie zu schützen. Leicht hügelwärts trabend versinke ich in Gedanken … ‚Ich hoffe es schadet ihr nicht!?’ … ‚Was ist das nur? Ein aromatischer Geruch aber irgendwie auch wieder anders als Benzin!?’ … ‚Vielleicht Diesel oder Heizöl!?’ … ‚Nein, das riecht auch anders!’ … ,Aber zweifelsfrei handelt es sich bei dem Zeug um einen Stoff aus der Gruppe der … der … wie heißt das doch gleich? … Ah, ja, … der Kohlenwasserstoffe …’ – „Hallo!?“ Ich drehe mich um und erkenne ein Läuferpaar nur 30 Meter hinter mir. Die können nicht gerufen haben, dafür war’s zu leise. „Haaalloooo!????“ Ein kleine Gestalt, weit, weit hinten schreit uns hinterher: „Hier geht’s lang!“ – Mist verlaufen!

Vor der Tränke bei Kilometer 34 teilt sich die Strecke. Die Marathonis kürzen hier ab. Roxi folgt mir auf einen Radweg, sanft im Talgrund ansteigend. Mehrmals leckt ihre Zunge beidseits über die Lefzen, verschont auch die schwarze Nase nicht. Ist aber auch zu lecker, so eine Minisalami … Wir passieren ein Stauwehr, dass ich bei diesem Wetter geschlossen vermute. Doch offensichtlich ist die Flutsituation im Schefflenzer Tal noch weit davon entfernt kritisch zu werden. Zwar schießt die braune Brühe mit ungeahnter Geschwindigkeit und Stärke talwärts, doch scheint sie niemandes Besitz zu bedrohen. Kilometer 35. Es hat aufgehört zu regnen. Damit hätte ich nun am wenigsten gerechnet. Vermutlich die Ruhe vor dem Sturm. Dennoch öffnet diese schlichte Tatsache eine kleine Schublade in meinem Gemüt und hervor quillt gute Laune. Die macht sich umgehend bemerkbar. Am Rand einer herrlich mit weißen, gelben und lila Blüten gesprenkelten Blumenwiese bleibe ich für ein Foto stehen. Gab’s bisher keine Blumen oder wollte ich sie hinter Regenschleiern nur nicht wahrnehmen?

Ich wusste: Das ist das steilste Stück des Kurses und da musst du rauf. Auf etwas vorbereitet zu sein, macht es allerdings nicht leichter. Gemeint ist eine Straße am Ortsrand von Schefflenz. Objektiv nur 200 Meter weit, gefühlt zwei Kilometer. In dieser Schräge nimmt das Wort Ultralauf eine ganz andere Bedeutung an: Mit ultrakurzen Steppschritten wuchte ich meine Knochen hinan. Vermutlich kapiert der leichtfüßig an meiner Seite tippelnde Hund mal wieder nicht, wieso Herrchen so schnauft …

Noch einmal durchqueren wir ein ausgedehntes Waldgebiet. Noch einmal Morast, Pfützen und Wasserläufe, wo keine hingehören. Dreck spritzt an den Beinen hoch, Wasser platscht unter den Füßen, läuft mir in die Schuhe. Vorhin musste ich halten und einen Schuh nachschnüren, weil die linke, kleine Zehe zu schmerzen begann. Füße, Strümpfe und Schuhe sind aufgequollen. So fügt sich nicht wie gewohnt alles bequem und reibungsfrei zusammen. Hier im Wald setzt der Schmerz von Neuem ein. Normalerweise ignoriere ich dergleichen. Erst recht, wenn mich nur noch zehn Kilometer vom Ziel trennen. Doch morgen früh, beim Marathon in Immenstadt, brauche ich dringend intakte Füße. Also Stehenbleiben, Schnürsenkel lösen, Schuh ausziehen, Strumpf so glatt wie möglich ziehen, wieder reinschlüpfen und schnüren, was das Zeug hält. Unangenehm fest schnüren, damit der aufgequollene Fuß nicht mehr vorne anstößt. Antraben. Das fühlt sich zwar an als steckte mein Fuß in einem Schraubstock, aber dafür gibt die Zehe endlich klein bei …

Geregnet hat es nicht mehr und nennenswerte Hindernisse stellen sich mir auch nicht in den Weg. Dennoch spüre ich jetzt eine tiefgreifende Erschöpfung und sehne das Ziel herbei. Schon minimale Buckel fahren mir vehement in die Beine. Ich trabe wieder über eine von Landwirtschaft geprägte, leicht wellige Ebene. Läufer sehe ich höchstens als winzige Gestalten weit vor mir, wenn der Kurs mal wieder seitwärts knickt. Roxi tippelt zufrieden und mit einigem Vorsprung vor mir her. Zufrieden bin ich auch. Ausgelaugt zwar, aber bald im Ziel und rundum zufrieden. Ich hatte ziemliche Manschetten vor diesem Lauf. Nein, weder vor der Länge, noch den zahlreichen Höhenmetern, auch nicht, dass er mich vor Immenstadt zu sehr erschöpfen könnte. Einzig meine düstere, nach Sonne dürstende Psyche bereitete mir Probleme. Gestern, daheim, angesichts strömenden Regens, vom Wind gepeitschter Bäume und der Aussicht hier dasselbe zu erleben, entwickelte ich eine ziemliche Weltuntergangsstimmung. Und nun bin ich gut drauf und voller Zuversicht für morgen.

Verlaufen und Schuhmanöver haben mich ein paar Minuten gekostet. Dennoch liege ich bei Kilometer 45 immer noch eine halbe Minute unterm Sechserschnitt. Das sollte eigentlich reichen, um unter fünf Stunden zu bleiben, zumal es nun überwiegend abwärts geht. Tatsächlich absolviere ich die letzten Kilometer in einem Schnitt von etwa 5:30 min/km. Da jedoch die Kilometertafeln exakt da steckten und weiterhin stecken, wo ich sie vom letzten Jahr her in Erinnerung habe, wird es nicht reichen …

Es fühlt sich an, wie oft in der Schlussphase eines Laufs: Obwohl sich Erschöpfung jeder einzelnen Körperzelle bemächtigt – zu spüren als schmerzhaftes, nach Ruhe verlangendes Ziehen – strömt weiter Energie in den Laufapparat. So viel Energie, dass ich sogar noch einmal schneller werde. Natürlich ist das auch Kopfsache, wenn man sich in Zielnähe weiß, den Erfolg vor Augen. Sogar das Läuferpaar – zuvor scheinbar uneinholbar enteilt – lasse ich auf dieser Etappe noch hinter mir. Fast ist es mir peinlich die beiden zu überholen. Aber nur fast. Der Weg entlang des bewaldeten Hanges im Schefflenzer Tal zieht sich. Gerade passiere ich die 40km-Tafel der Marathonläufer. Wenn ich sie für bare Münze nehme, also mein Tempo mit den verbleibenden 2,2 Kilometer verrechne, dann müsste ich klar unter fünf Stunden finishen. Dennoch weiß ich schon jetzt: Es wird nicht reichen …

Durch die Bäume blicke ich zu den ersten Häuser von Allfeld hinüber. Der Weg senkt sich steil hinunter zum Bach, leitet mich durch Gärten und über die Brücke. Am Bach entlang und zu guter Letzt die schöne Dorfansicht von dieser Seite genießen. 5:00:00 h zeigt meine Uhr und damit bewahrheitet sich, was ich schon wusste: Entweder stecken die Kilometertafeln richtig, dann ist die Strecke länger als 50 Kilometer. Sollte die Distanz stimmen, so kann das unmöglich auch für die Markierungen gelten. Seltsamerweise ist mir das völlig gleichgültig. Was ist los mit mir? Wo versteckt sich mein Ehrgeiz? Leide ich etwa an einem Anfall altersbedinger Abgeklärtheit? Oder drückt sich so meine Zufriedenheit aus? Zufriedenheit mit mir, mit Roxi, mit dem Verlauf dieses Regenabenteuers und mit einem Veranstalter, der einen wunderschönen Kurs vorbereitet hat? – Noch einmal konzentrieren: „Roxi langsam!“ und Seite an Seite über die Hauptstraße. Jenseits bergwärts, ziemlich fordernd, ein letztes Mal. Dann auf den Parkplatz abbiegen und die letzten 50 Meter bis zum Ziel genießen – ohne Regen (!) genießen.

Ergebnis: 5:01:26 h, Platz 15 von 40 Läufern

 

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