Einige Bilder im Bericht können durch Anklicken vergrößert werden.

Härteübung, zweiter Teil ...

Der Morgen danach  –  Regensburg Marathon 2013

Schon vorm ersten Laufschritt vollführt mein Puls heute drei kapitale Bocksprünge. Den ersten verursacht Wiedersehensfreude, als ich unverhofft Reno in die Arme laufe. „Du hier? Damit hätte ich nun überhaupt nicht gerechnet!“ Reno spricht’s, ich denk’s zur selben Zeit. Kommt davon, wenn man monatelang den Kontakt abreißen lässt. Den Oberpfälzer aus Weiden begleiten mehrere Lauffreunde. Alleine wettkämpfen ist nicht so Renos Ding. Ein „Herdentier“ wie er schlägt Schlachten gerne in Gruppenstärke, auch wenn seine Kohorte hier in Regensburg „nur“ gen Halbmarathon zu Felde zieht. Ein paar Minuten hastig ausgetauschter Neuigkeiten bleiben uns, bis vor der Startnummernausgabe jeder seiner Wege geht: „Also dann, bis zum Oktober in Weiden!“. Dann und dort wollen wir Seite an Seite den „Freundschaftsmarathon Amberg-Weiden“ laufen, wie schon im vorletzten Jahr.

Beim Abholen der Startnummer fange ich mir den zweiten Adrenalinschub ein. Ich habe meinen Chip nicht dabei! Irgendwie brachte ich da was durcheinander, ging von einem in die Startnummer integrierten Transpondersystem aus. Der Preis für die demente Peinlichkeit beträgt sechs Euro, dann bin ich im „Besitz“ eines Leihchips. Schlechte Vorbereitung? Unkonzentriertheit? Wurschtigkeit? Beginnende Vergreisung? Solche höchst überflüssigen Fehler ärgern mich immens. Nun stiefele ich mit einem Leihchip durch die Gegend, wie der grünste Junge unter den Debütanten. Und jeder starrt auf die Schnürung meines Laufschuhs. „Ah! Schaut! Der läuft seinen ersten Marathon!“ Völliger Unfug, denn selbstverständlich linse ich da nur selbst hin und auch nur bei den ersten Schritten. Heute flattert da kein kleiner, gelber „Schmetterling“ mit ganz viel Patina auf den vielfach entfalteten Flügeln. Bei unserem Jungfern- und Formationsflug durch München, 2003, habe ich mich in ihn verguckt und ihn einfach behalten …

Sechster Marathon in diesem Jahr und zum sechsten Mal Unsicherheit in Sachen Bekleidung. Es soll trocken bleiben aber kühl unter bedecktem Himmel. Also trage ich etwas langärmliges Hautenges unterm Träger-Shirt. Mütze und Handschuhe gelten Unerfahrenen sicher als bizarrer Widerspruch zu meinen in Kurz-Tight gut belüfteten Beinen. Alles nur nicht frieren! obenrum, untenrum bin ich nicht so empfindlich. Schon der leiseste Gedanke an den vergangenen, elend langen Winter jagt mir fiese Schauer über den Rücken. Ein bleibendes Trauma?

Soll ich mich warmlaufen? Lieber nicht. Will gar nicht wissen, wie sich meine Laufwerkzeuge anfühlen, am Tag nach dem Marathon in Bad Waldsee. Er steckt mir in den Knochen, so viel ist sicher. Wenig verheißungsvoll gestalteten sich die ersten Schritte nach dem Aufstehen. Zugegeben, um fünf Uhr früh wäre an keinem meiner Tage mit mir was anzufangen. Aber das meine ich nicht. Es zwickte, spannte und zog in diversen orthopädischen Abteilungen. Gehen kann ich mittlerweile beschwerdefrei. Laufen auch?

„Noch jemand von der TG Viktoria aus Augsburg!?“ Sie blickt mir unschlüssig ins Gesicht, in dem sich unter Garantie der dritte Hormonschub des noch jungen Morgens spiegelt. Ursache: Ein Super-GAU sportkameradschaftlicher Konventionen! Sie trägt dasselbe Vereinstrikot und ich kenne sie nicht. Ihr: „Ach, du bist der Udo!“ nach forschendem Blick auf meine Startnummer sorgt für rasche Entspannung. Sie kennt mich also auch nicht persönlich, lediglich von unserer Laufseite, auf der sie gelegentlich nach Infos suchte. Dorit (kein Schreibfehler!) – so heißt die Dame – möchte bei ihrem elften Marathon unter 3:45 h bleiben. Dass sie ihr Soll mit 3:38:43 h (3. Platz in W45!) deutlich übererfüllt, kann ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen – ebenso wenig, wie das, was mich erwartet …

Es ist ein merkwürdiges Gefühl in unklarer, auf jeden Fall angegriffener Verfassung zwischen den vielen erwartungsfrohen, randvoll mit Ausdauer betankten Läufern zu stehen. Kein bisschen elitär, überhaupt nicht abgehoben und von Überlegenheit keine Spur. Eher empfinde ich mich als Außenseiter, als einen, der Experimente macht, die die meisten anderen (Läufer) mit ungläubigem Kopfschütteln quittieren. Ich habe keine Furcht vor dem, was in den nächsten vier Stunden auf mich zukommt, erwarte aber eine ziemliche Tortur. Wegen eines unerklärlichen Trainingsrückstands qualvoller als die Male zuvor, wenn ich solche Samstag-Sonntag-Doppelpacks absolvierte. An der Überzeugung es bis zum Ende durchzustehen, womöglich in der mir selbst für alle Marathons verordneten Norm „Sub4h“, kratzt diese Erwartung allerdings nicht.

Countdown, Startschuss und kurze Verzögerung, dann fällt die Meute in verhaltenen Trab. 50 Meter, 100 Meter. Ich sehe und höre nichts, bin konzentriert auf die Meldungen von innen, aus dem „Maschinenraum“. Und mein Antrieb stampft mit gewaltiger Unwucht. Laufen fühlt sich „eckig“ an. Knie und Gesäßmuskulatur jaulen, weisen vorwurfsvoll auf die gestrige Beanspruchung hin. Über alle Leitungen erreicht mich unisono Protest: Was soll der Unsinn? Ehrlich und mit Demut gestehe ich mir ein: „Zwänge“ mich nicht mein Trainingsplan zu diesem Marathon, in derlei Verfassung bewegte ich mich keinen Meter.

Anhaltend bettelt das Weichei in mir um Mitleid, bekommt schließlich aber den Kopf gewaschen: ‚Jammer’ nicht rum! Du selbst hast es so gewollt!’ Zwei Minuten nach dem Start „eiere“ ich eine erste, kaum wahrnehmbare Steigung hoch. Jedenfalls gehe ich davon aus, dass der Rest des Feldes sie nicht wahrnimmt. Mir fährt sie ziemlich in die Beine, weil ich müde bin – am Morgen danach. Aufkommende Bedenken zerstreue ich mit Erfahrungswerten: ‚Du kannst auch mit müden Beinen einen Marathon laufen, hast es dir mehrfach bewiesen!’ Allerdings setze ich für heute die Grundsatzforderung außer Kraft: Unter vier Stunden muss nicht sein …

„Da ist Udo!“ Reno hat mich im Feld erspäht, rennt mit seinem Team zufällig ein paar Meter hinter mir. Zufällig? Knapp unter zwei Stunden wollen sie ihren Halbmarathon finishen. Das entspricht auch meiner Tempovorstellung für die erste Runde, weswegen ich mich der Gruppe erst einmal anschließe. Sätze fliegen hin und her, meist mit Reno als Adressat oder Absender. Im Grunde ist mir völlig gleichgültig, wer redet und worüber. Hauptsache es lenkt mich von mir selbst ab. Entgegen eingefleischter Redefaulheit, stört es mich nicht einmal selbst etwas beitragen zu müssen. Schon seltsam. Wieder einmal springt mir „läuferische Vorsehung“ in schwieriger Situation hilfreich – in diesem Fall zudem herzerfrischend – zur Seite. Reno, der begnadete Unterhalter, animiert mich zu Fotos. Zunächst eines von uns beiden mit der Kamera am lang ausgestreckten Arm, in weitwinklig verzerrte Gesichter. Kaum zu glauben, dass die Aufnahme gelingt, obschon wir ineinander verschränkt den Laufschritt beibehalten, um Nachfolger nicht zu gefährden. Dann ein „Gruppenbild mit Dame“, für das ich ein paar Meter Vorsprung in höherem Tempo erarbeiten muss. Auch wenn derlei Körner verschwendende Einlagen heute gefährlich sind, bin ich meinem Leichtsinn doch zu Dank verpflichtet. Kraft fließt stetig, wenn gefordert auch mit höherer Rate, ungeachtet eines reichlich irritierten Laufapparates. Diese Wahrnehmung löscht fast alle blinkenden Warnlampen – bis auf eine letzte, die immer brennt, denn abgerechnet wird zum Schluss.

Von der Strecke verspricht sich meine nach Erlebnissen hungernde Läuferseele viermal historisch Spektakuläres, jeweils im Regensburger Kern, ansonsten eher eintönige Abschnitte. Nach nur drei Kilometern beginnt die erste Besichtigung der Altstadt mit dem Passieren des „janusköpfigen“ Jakobstores. Eindringlinge brüskiert das zinnenbewehrte Bollwerk durch seine bullige Rundturmcharakteristik, von innen präsentiert es sich eher flächig entspannt. Bald folgt der Bismarckplatz, überragt von den Türmen der Schottenkirche, dahinter verschluckt uns eine enge Altstadtgasse. Spätestens auf dem Neupfarrplatz ist zweierlei klar: Auch Regensburg wurde im Zweiten Weltkrieg massiv geschädigt, wovon die vielfach gesichtslose Lückenbebauung Zeugnis ablegt. Noch deutlicher für mich: Regensburg ist ein Zentrum des katholischen Glaubens, eine Stadt der Kirchen. Mit der Neupfarrkirche lasse ich gerade den dritten Sakralbau binnen zweier Minuten hinter mir. Und querab, über den Dächern, wird der Blick von den alles beherrschenden Türmen des Doms eingefangen, bis sie die eckig wirkende Apsis der Neupfarrkirche verdeckt.

In weiter S-förmiger Schleife erschließen sich weitere, mal idyllisch, dann wieder imposant wirkende Winkel der Altstadt. Über die Schwarze-Bären-Straße und den Kornmarkt gelangen wir zum unumstrittenen Höhepunkt des Kurses, dem Regensburger Dom. Während ich Kirchenschiff und Türme zu drei Vierteln umrunde, packt mich weniger die Erhabenheit des Ortes, als das knubbelige Kopfsteinpflaster, auf dem meine malträtierten Füße alle Heiligen des Doms um Gnade anflehen. Zwei Minuten auf solchem Geläuf beweisen wie nahe Himmel und Hölle beieinander liegen …

Teil eins der Sightseeingtour ist beendet. Mit Hingabe knipsend habe ich Reno und seine Mitstreiter immer wieder aus den Augen verloren. Zwischen den Pacemakern „1:59“ und „3:59“ finde ich sie allerdings rasch wieder. Den Augen hat Regensburg auf den nächsten Abschnitten so gut wie nichts mehr zu bieten. Eher schon den Ohren. Alle paar Kilometer werden wir rockig oder mit Trommeln weiter gereicht. „In mir“ vollzieht sich etwas, sehr, sehr langsam, beinahe unmerklich. Aus eckig wurde rund und ohne es zu wollen verselbständigen sich meine Beine, finden ihren Schrittrhythmus. Meter um Meter wächst mein Vorsprung auf die Pacemaker und Renos Team. Bremsen? Lieber nicht. Bloß nicht einmischen, da ist etwas austariert, eingerastet, in Gang gekommen, fein abgestimmt, im Fluss. Gegenwärtig minimale „innere Reibung“. Also laufen lassen!!! Außerdem tun ein paar Sekunden Vorsprung gut, denn Alt-Regensburg wird auf dem Rückweg wieder seinen zeitlichen Tribut fordern.

Einen faden Kilometer nach dem anderen arbeite ich auf diese Weise ab. „Urbanes Ödland“ ist freilich nichts, was mich aus dem Takt bringen könnte. Damit ein Marathon für mich in Betracht kommt, muss er lediglich vier Voraussetzungen erfüllen: Jeder Meter kann laufend zurückgelegt werden, es gibt eine offizielle Finisher-Liste und die Veranstaltung findet an einem Ort statt, wo sich Menschen auch sonst „bewegen“. Zudem gibt es eine Grenze des Vertretbaren. Auch wenn ich nicht sagen könnte, wo sie grundsätzlich verläuft, so weiß ich doch im Einzelfall (jedenfalls für mich), was geht und was nicht. Beispiel: Als hirnrissig, dekadent und/oder ökologisch verwerflich empfinde ich zum Beispiel einen Marathon in der Antarktis. Nur aberwitziger Ressourceneinsatz sichert Transport und kurzzeitiges Überleben von ein paar Läufern, damit sie sich in der Eiswüste zwischen Pinguinen kalte Füße holen können.

Ich mag es kaum glauben, aber die bereits vom Start weg harmlos grau gefleckte Wolkendecke reißt immer häufiger auf. Kleinere, blaue Löcher vereinigen sich zu größeren, lassen mehr und mehr Sonne passieren. Ich werfe häufig einen Schatten, einen der mächtig zu schwitzen beginnt. Irgendwann klappe ich den Rand meiner Mütze hoch, verschaffe mir Kühlung um die jetzt freiliegenden Ohren. Auch ohne Spiegelkontrollblick weiß ich, wie doof das aussieht. Muss eben sein …

Eine Wende, die zweite mittlerweile, weckt mich aus dumpfem Brüten. Auf dem Rückweg nehme ich die Parade der Gesichter ab, entdecke auch Reno samt Begleitern – wie erwartet zwischen den Pacemakern. 10 km gelaufen und seit gefühlt einer Stunde in einem Gewerbegebiet unterwegs. Rechts abbiegen und auf ein „Stimmungsnest“ zu. So jedenfalls versprechen es Schilder am Straßenrand. Am Portal zu … keine Ahnung einstweilen, was das sein könnte … müht sich ein DJ nach Kräften, holt jede Menge Rhythmisches aus seinen Scheiben. Ist das das Stimmungsnest? Wenn ja, dann fehlt ihm das Entscheidende: Publikum. Ich umlaufe ein geschlossenes, asphaltiertes Straßen-Oval, beidseits durch Leitplanken gesichert. Zweifelsfrei eine Teststrecke. Kurios und eine Premiere: Marathon Nummer 106 beschert mir erstmalig eine Teststrecke. Beim Verlassen der Anlage, nach wenig mehr als einem ovalen Kilometer, kann man nicht übersehen, wer hier was testet. Flankiert von den Produktionshallen eines namhaften Reifenherstellers hake ich Kilometer 12 ab.

Auf dem Anmarschweg zurück. Kilometer 13, 14, 15. Keine Änderung. Weder „innen“, noch außen. Streckenabschnitte wie diese, kreuz und quer durch Gewerbe- oder Industriegebiete, lassen sich mit minimalem Aufwand abgesichern. Wir Läufer müssen sie – das enge finanzielle Korsett der Veranstalter bedenkend – hinnehmen. Andernfalls erleiden wir die Alternative, wie letztes Jahr in Regensburg: Der Marathon fiel aus. Weit voraus markieren die Türme des Doms das historische Zentrum, während der Veranstalter den Weg dorthin mit Kurzweil zu verkürzen sucht. Hier eine Rockband, dort ein Moderator mit Drahtlosmikrofon. Mitten auf der Straße übt er sich unermüdlich in diffizilem Dreikampf, verbreitet Stimmung, feuert an und klatscht Läufer namentlich ab: „Hallo Udo! Willkommen! Wir sehen uns nach der nächsten Runde!“

Die zweite Altstadtbesichtigung beginnt entlang der Donau auf ramponiertem, meine Füße heftigst beleidigendem Kopfsteinpflaster. Schon geraume Zeit warte ich gespannt auf die Donauüberquerung. Es gilt mir als selbstverständlich, über die im 12. Jahrhundert erbaute „Steinerne Brücke“ zu laufen. So wie 2006, als der Marathon noch auf einer 42 km-Wendestrecke ausgetragen wurde. Ein Blick auf die Streckenkarte hätte mir die Enttäuschung erspart: In Höhe der Steinernen Brücke wendet sich die Läuferschlange von der Donau ab und der Altstadt zu. Keine Zeit für negative Gefühle. Alle paar Meter nötigt mich malerische Historie zu Fotostopps. Stehen bleiben, anvisieren, auslösen: David kämpft gegen Goliath – überlebensgroß auf hellgraugelben Mauerputz gemalt. Wieder anlaufen, ums Eck, stehen bleiben, Bildausschnitt fixieren, abdrücken: Kohlenmarkt mit altem Rathaus. Weiter, doch nur hundert Meter, dann neuerlich halten und den Haidplatz mit seinem herrlichen Gebäudeensemble ablichten. Neben diesen entstehen noch andere Aufnahmen, weniger spektakulär, aber allesamt zeitfressend. Die Luftballons der Pacemaker holen auf. Gut so, dann kann ich die verbleibenden zweieinhalb Kilometer mit Renos Team verbringen …

Wieder eine Enttäuschung – diesmal intensiver und begleitet von einem Anflug schlechten Gewissens: Ich lasse mich von beiden Hasen passieren, spähe so weit es geht zurück. Keine Spur von Reno und den anderen. Also sind sie eingebrochen!? Soll ich warten? Doch wie viel Rückstand muss ich hinnehmen, bis sie mich einholen? Und wird meine Kraft reichen, um drei? vier? fünf? Minuten Zeitverlust auf Runde zwei wettzumachen? Läufer strömen vorbei, ich drehe mich noch mehrmals um, kann jedoch den großen Kerl mit dem Kopftuch nirgendwo ausmachen …

Ich suche wieder Tuchfühlung zum 3:59-Hasen oder genauer: zur mit grün-rosa Tutu bedressten Häsin. Kilometer 20. Welcher Taktik die Dame huldigt, kann ich nur mutmaßen, jedenfalls wird sie eindeutig länger als zwei Stunden für die erste Runde benötigen. Also vorbei und hinter den 1:59-Ballon klemmen. Doch auch diese Orientierung taugt nun nicht mehr, weil die Gruppe um den Pacemaker das Finish in Form eines Steigerungslaufs praktiziert. Zu anstrengend für mich …

Der Schwund ist gewaltig. Eine recht brüchige Läuferkette zieht seit der Halbzeit (1:59:25 h) vor mir her. In den Altstadtgassen bleibe ich nur noch für wenige Aufnahmen stehen. Was ich an prachtvollen Baudenkmälern brauche, habe ich eigentlich schon im Kasten. Zudem verschlechtern sich die Lichtverhältnisse rasant, der Himmel streift wieder sein graufleckiges Büßergewand über. So viel zum „Außen“. Innen überlasse ich mich dem „biologischen Tempomaten“, überantworte diesen Marathon vollkommen meinem Laufgefühl. Ich spüre das in dieser Phase ökonomischste Tempo, fordernd zwar, zugleich ungefährdet dahin „rollend“. Zwischenzeiten kontrolliere ich selten und auch nur um meinen Verdacht zu bestätigen: Ich bin konstant mit etwa zehn Sekunden pro Kilometer schneller unterwegs als in der ersten Runde. Angst einzubrechen habe ich nicht. Es wird gut gehen!

Einen Marathon durchzustehen ist vor allem auch Kopfsache. Diese Erkenntnis schrieb ich häufig nieder und werde nicht müde sie zu wiederholen. „Mentale Taktiken“ erleichtern das Finish, wenn sie „funktionieren“. Umgekehrt kann die verbleibende Distanz entsetzlich lang werden, wenn man „Denkfehler“ begeht. Oft hört oder liest man den Rat, unter keinen Umständen die Formel „noch so und so viel Km bis ins Ziel“ in den Gehirnwindungen zuzulassen. Natürlich folgt diesem Gedanken pure Hoffnungslosigkeit, wenn man schon gehörig müde und noch …, 18, 17, 16, … Tafeln vom Finish entfernt ist. Aber man kann sich Zwischenziele setzen! Ein magischer Punkt sind beispielsweise 30 Kilometer, weil ab dann die Reststrecke überschaubar wird. Man erreicht sozusagen, von hoher See kommend, die Landzunge hinter der der Hafen zu sehen ist. Und die zu diesem Zwischenziel verbleibende Distanz runterzuzählen, kann dann helfen. „Noch 5, 4, 3 km, dann habe ich schon 30!“ Sind 30 gepackt, übernimmt die „Einstelligkeit“, die „33“ (= noch 9 km), die Rolle des Zwischenziels. Um im Bild zu bleiben: Die Hafeneinfahrt ist von da aus nicht mehr zu übersehen … Einstelligem Countdown bis zum Finish wohnt dann kein Schrecken mehr inne – vorausgesetzt man hat physisch genügend Körner im Säckchen und den Hammermann nicht zu fürchten …

Damit habe ich die mentale Taktik meiner letzten Marathons beschrieben, die ich alle nicht anders als auf von Beginn an müden Beinen erlebte. Und heute ist das nicht anders. Nur beflügelt mich jetzt die Gewissheit, doch nicht einzubrechen, trotz Ermüdung, die der gestrige Marathon „unüberspürbar“ hinterlassen hat. 30 Kilometer und die Kraft fließt. 31, 32, … rein ins Oval der Teststrecke, rundherum und wieder raus, 33 geschafft … nur noch 9 Kilometer und – absolut sicher! – die Quelle wird nicht versiegen.

Der Himmel trübt sich immer mehr ein und der Wind frischt auf. Bisweilen treibt er dunkelgraue Wolkenfetzen vor sich her. Eine halbe Stunde noch bis ins Ziel, so lange wird’s schon halten. Gestrigen Sintfluten zum Trotz bleibe ich Optimist. Unter düsterem Himmel verlieren auch die Altstadtgassen und -plätze viel von ihrem Charme. Da gibt es keine Perspektive, die meine Kamera reizt und keine Achse, in die sich meine Augen verlieben. Vorüber an Mauern, Fronten, Dächern, Fenstern, Erkern, Winkeln, die mir keine Silbe ihrer glorreichen Geschichte mehr erzählen wollen. Die Stadt schweigt mich an. Noch drei und ein halber Kilometer.

Wieder hinunter ans Donauufer, nicht lange, zwei, drei Minuten. Zeit genug allerdings, um sich vom böigen Wind ordentlich zerzausen zu lassen. Egal. Bald, bald bin ich im Ziel. Noch zweieinhalb Kilometer, erste Tropfen platschen auf den Asphalt. Gegen Windrichtung voraus steht eine drohend dunkle Walze über Baumwipfeln und Dächern, treibt mit fetten Regenfahnen rasant auf mich zu. Schlagartig ist mir klar, wie das heute ausgehen wird. Meine schweißnassen Klamotten haben der einsetzenden Dusche kaum mehr Saugkraft entgegen zu setzen. Keine zweihundert Meter weiter bin ich bereits nass bis auf die Knochen. Etliche Schritte weiter beginne ich zu frieren und rolle reumütig den Mützenrand über die Ohren. Wie gestern wische ich mit den Handschuhen Sturzbäche aus Stirn und Augen. Kilometer 41. Der Himmel will mich ersäufen. Längst habe ich letzte Energiereserven mobilisiert und rase mit gefühlten 100 km/h Richtung Ziel. Verdammtes Dreckswetter! Und das Schlimmste: Es betrügt mich heute um das Glück des letzten Kilometers. Nur noch ein Gedanke hat Platz im Kopf: Rein ins Ziel und so schnell wie möglich unter die Dusche. Noch mal abbiegen, noch 100 Meter und mit Karacho durchs Marathontor.

Ergebnis:

Gesamtzeit: 3:53:21 h
1. Hälfte:      1:59:25 h
2. Hälfte:      1:53:56 h

Fazit zum Regensburg Marathon

Die Organisation besticht durch reibungsfreie Abläufe und kurze Wege. Startnummernausgabe, Start/Ziel, Kleiderdepot und Duschen liegen keine 300 Meter auseinander. Auch Parkmöglichkeiten sind reichlich zu finden und – sofern weiter außerhalb liegend – mit unermüdlichem Busshuttle gut angebunden. Note „1“ für diesen Teil der Veranstaltung. Auch hinsichtlich der Verpflegung gibt es nichts zu bemängeln.

Die Strecke des Regensburg Marathons gehorcht der Maxime des „organisatorisch Machbaren“, so steht es im Programmheft. Das zwingt zu einer Doppelschleife und dem Ausweichen in optisches Ödland. Wirklich attraktiv mit Sternchen präsentiert sich der Kurs auf den Abschnitten durchs Weltkulturerbe der Regensburger Altstadt. Viermal durchmessen (Hin- und Rückweg getrennt), auf insgesamt etwa 15 Kilometern, haben die Augen eine gehörige Menge historischer Bausubstanz zu verarbeiten. Über den Rest der Strecke breitet man einfach den Mantel des (finanziell unausweichlichen) Schweigens. Einzige Alternative: Gar kein Marathon, wie im Vorjahr.

 

Wir über uns Gästebuch Trekkingseiten Ines' Seite Haftung
logo-links logo-rechts

zum Seitenanfang