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Im, am und auf dem Fluss   –   Oberelbe Marathon 2013

Was ist das mit mir? Lieb‘ ich, hass‘ ich oder brauch ich es? Bin bei klarem Verstand, fühle, sehe alles, habe noch Lust auf schöne Aussichten und die gibt es zu Hauf. Aber ich leide entsetzlich. Weit, weit voraus ahne ich die Türme Dresdens, wünsche, sehne mich dort hin. Bin stehend K.o. und treibe mich doch vorwärts. Kenne das schmerzhafte Ziehen im ganzen Körper, den Schrei des Fleisches aufzuhören, dem ich nur Willen und Reste ursprünglicher Kraft entgegenzusetzen hab‘. Natürlich liebe ich es nicht. Aber ich hasse es auch nicht. Wie soll man Qualvolles lieben? Und wie könnte man hassen, in das man sich freiwillig begibt? Also brauche ich es! Doch wozu? Spüre die Frage in allen Fasern. Das kräftig schlagende Herz pumpt das Warum in jede Zelle, hält es ständig im Fluss. Viel zu früh schwand heute die Kraft und für weitere sechs Kilometer muss ich mich zwingen. Noch so lange, so weit … aber ich will!

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Nun könnte ich einmal mehr dem Wettergott zürnen, denn es ist 5°C kalt in Königstein, im oberen Elbtal, mitten in der Sächsischen Schweiz. Stattdessen sage ich einfach mal Dankeschön. 100% Regenwahrscheinlichkeit versprach „wetter.de“ und hat sich geirrt. Zwar wabern Nebel und tiefhängende Wolken über den bewaldeten Steilhängen des Elbtals, doch Regen belästigt uns nicht. Ich versuche mir die wildromantische Gegend bei Sonnenschein und blauem Himmel vorzustellen, aber es will mir nicht gelingen. Eine Viertelstunde vor dem Start gehe ich auf dem Elberadweg auf und ab, weil Gehen Wärme erzeugt und sich einfach besser anfühlt als Rumstehen. Ein paar Ausdauerbolzen wärmen sich auf, traben an mir vorbei. Mit einem Mal Totenstille. Keine Gespräche, kein Gelächter mehr. Mit einer Schweigeminute gedenken 1.300 Marathonis der Bostoner Barbarei. Was ist mit mir? Bin ich damit schon fertig? Fast schon vergessen? Vielleicht verarbeitet? Nein, einfach nur verdrängt, da unerträglich und unerklärlich.

Ein paar Meter neben mir strömt, wirbelt, wälzt sich die trübgraugrüne Elbe bettabwärts gen Pirna und Dresden. In Pirna startet Ines zum Halbmarathon, genau jetzt um 9:10 Uhr, wenn alles klappt wie geplant. In Dresden, im Heinz-Steyer-Stadion, werden wir uns wiedersehen, in etwas weniger als vier Stunden – wie gesagt: Wenn alles klappt wie vorgesehen.

Was ist vorgesehen? – Ines will versuchen ihre HM-Bestzeit von knapp über 1:55 h zu knacken. Gesagt habe ich es ihr nicht, halte eine Bestzeit nach zwei Wochen Trainingsausfall wegen einer Nebenhöhlengeschichte aber für ausgeschlossen. Ich habe überhaupt keine Vorschläge zu ihrer Lauftaktik gemacht. Einzuschätzen, was nach einer solchen Trainingszäsur noch geht, ist unheimlich schwer. Und sie ist erfahren genug, um während des Wettkampfs die Weichen richtig zu stellen.

Und welches Ziel habe ich? – Hartes Training! Im Ziel wird der Zähler bei 105 Wochenkilometern stehen bleiben. Am Dienstag dieser Woche ereilte mich ein „gefühltes Allzeittief“. Rien ne va plus! Schwäche zwang mich den Trainingsversuch auf ein paar regenerative Kilometer zu beschränken. Noch vor Wochen hatte ich für den vergleichsweise flachen Kurs entlang des Elbufers einen schnelleren Marathon in etwa 3:35 h eingeplant, was jedoch aus vollem Training heraus und nach mehreren Rückschlägen meine derzeitigen Möglichkeiten übersteigt. 3:39:59 h, Wagnis genug, peile ich trotzdem heute an.

Nebenan auf der Elbe tut sich was: Der Raddampfer „Dresden“ strebt vom Anleger weg stromaufwärts. Per Schiff können die Angehörigen der Läufer den Tross begleiten. Allein schon diese sympathische Aktion hätte einen strahlend schönen Frühlingssonntag verdient. „Noch zwei Minuten!“ verkündet der Moderator über die Lautsprecher und: „Ob das der Dampfer noch schafft?“ Der Dinosaurier von einem Schiff wendet schwerfällig in Strommitte. Wir stehen fröstelnd beisammen und warten. Längst sind die angekündigten zwei Minuten verstrichen und inzwischen dürfte der Letzte der 1.300 Läufer verstanden haben, auf wen wir warten. Bevor die „Dresden“ nicht längsseits liegt, geht gar nichts. Endlich rauscht der Dampfer heran und unterstützt den Countdown mit melodisch dröhnenden Stößen aus seinem Horn …

Der erste Kilometer missrät zum unsicheren Stelzen wie auf hohen Absätzen. Pflastersteine im Uferweg bilden dafür nur einen Grund. Mein „Fahrgestell“ ist völlig ausgekühlt und verhält sich entsprechend grobmotorisch. Leicht erhöht stehend, von der Böschung aus, schieße ich noch ein Bild von der „Dresden“. Die macht mächtig Fahrt und schwimmt rasch außer Sichtweite. Ich hatte erwartet, dass es auf dem schmalen Uferstreifen zumindest anfangs eng werden würde und bin angenehm überrascht. Kein Gedrängel, keine gefährlichen Überholmanöver, gesittet und stoisch traben alle nebeneinander her. Eine Viertelstunde um und ich taue langsam auf. Mein Tempo passt ungefähr für die anvisierte Endzeit. Endlich im Vollbesitz der Feinmotorik fühlen sich meine Beine nicht sonderlich lebendig an. Abwarten, noch sehe ich meine Felle nicht der „Dresden“ hinterher schwimmen.

Kleine Enttäuschung: Eine Unterführung leitet uns auf die rückwärtige Seite des Bahndamms, der fortan meistenteils die Sicht auf die Elbe verwehrt. Und härter wird es ab jetzt auch. Ein beinahe stetes Auf und Ab auf dem ersten Drittel des Kurses raubt zusätzlich Kraft. Beileibe keine markanten Anstiege und doch ermahnen sie mich mit meinen Energievorräten hauszuhalten. Also betont zurückhaltend hinan und nicht übermäßig beschleunigt hinab. – „Bist du Udo?“ … Es dauert einen Moment bis die Frage in mein Bewusstsein dringt, zu sehr bin ich gerade mal wieder mit mir selbst beschäftigt. „Ja! Und wer bist du?“ Er kommt mir bekannt vor, aber unsere letzte Begegnung muss schon einige Zeit her sein. „Bin Aubrey aus dem Forum!“ Eines der typischen Läufer-im-Wettkampf-Gespräche entspinnt sich. Kurze prägnante Sätze über Wohl und Wehe der letzten Zeit und die nahe läuferische Zukunft. Anlässlich diverser Fotostopps bleibe ich zurück, um wenig später doch wieder neben ihm her zu traben. Einige Kilometer später – war’s an einer Verpflegungsstelle? – verliere ich ihn dann endgültig aus den Augen …

Einen verschlafen wirkenden, von Tourismus geprägten Weiler haben wir schon passiert, mit einer malerischen, vom nahen Gleiskörper kaum entwerteten Landschaft als stete Begleiterin. Doch jetzt, in Höhe des Ortes Rathen, erweitert sich das Tal zur spektakulären Felsarena, mit Blick auf die so genannte „Bastei“. Einst bahnte sich die Elbe hier ihren Weg entlang schroffer Türme des Elbsandsteingebirges. Heute bleibt der Anblick dunstig blass, Sonne fehlt und mit ihr die Farben. Mein Wettkampf geriete um einiges anstrengender und doch wünschte ich mir lauschige 20°C samt blauem Himmel über dieser einzigartigen Naturschönheit.

Zwei Belohnungen für unermüdliche Marathonis: Der Radweg schmiegt sich wieder ans Elbufer und damit beginnt auch der flache Teil der Strecke. Die Höhenzüge beidseits des Flusses verlieren an Höhe, Felsformationen sind darin kaum noch auszumachen. Hier am Flussufer, von nichts gebrochen, bremst beständig wehender Gegenwind. 14 Kilometer haben bereits deutliche Spuren der Ermüdung in meinen Beinen hinterlassen. Sollte der Wind weiter auffrischen, dann wäre der Kampf um die Zielzeit schon entschieden …

Die Licht- und Sichtverhältnisse sind einfach zu mies, um euphorisch in Natur- und Landschaftsbildern zu schwelgen. Freude schenken eher die kleineren Beobachtungen dies- und jenseits des Radweges: Eine Gruppe blühender Obstbäume etwa, oder hübsch angelegte Gärten von Anwohnern, da und dort mit witzigen, aus Holz geschnitzten Figuren garniert. Vereinzelt harren auch Zuschauer aus und sparen nicht mit Applaus. Am Himmel gewinnen die Wolken klare Konturen, was die Wahrscheinlichkeit kalter Regenschauer weiter verringert. Ich bin sicher: Es wird bis zum Finish trocken bleiben!

Dieses Geschenk haut mich um! Bei Kilometer 17 verlassen wir den Elberadweg und laufen in Richtung Innenstadt Pirna. Augenblicklich bin ich wie elektrisiert, was nach einer Erklärung verlangt: Die Anfahrt zum Start erfolgt mit der S-Bahn. Linie S2 für Halbmarathonis zum Start in Pirna und Linie S1 bis zum Marathonstart in Königstein. Um Ines zu begleiten, stieg ich in Pirna von der S2 in die S1 um und musste auf dem Bahnhof warten. In der Bahnhofshalle hängen riesige Reproduktionen zweier Gemälde von Canaletto. König August III., Kurfürst von Sachsen und König von Polen, hatte den berühmten italienischen Maler im 18. Jahrhundert für ein paar Jahre zum Hofmaler berufen. In dieser Zeit malte Canaletto auch Ansichten von Pirna. Und unter einer der Reproduktionen las ich, die Altstadt Pirnas sähe heute noch aus wie zur Zeit Canalettos und …

… das ist nicht übertrieben. Der Streckenplaner des Oberelbemarathons verdient einen Orden! Statt den Start anderthalb Kilometer vor, also flussaufwärts, zu verlegen, schickt er uns kreuz- und quer durch die herrlich restaurierten Pirnaer Altstadtgassen. Das kostet mich sicher eine Minute Laufzeit, weil ich für jede von zahlreichen Aufnahmen stehen bleibe. Den baulichen und Zuschauerhöhepunkt bildet eindeutig der Marktplatz mit dem prächtigen, im Renaissancestil erbauten Rathaus. Wieder hadere ich mit dem Wetter, denn Sonne brächte das Gebäudeensemble um den Markt richtig zum Leuchten … Durfte Ines das sehen? Erst 18,5 Kilometer sind gelaufen als wir das Elbufer wieder erreichen. Also erfolgte ihr Start außerhalb, flussabwärts. Wirklich schade. Schon jetzt steht fest, dass wir uns für Pirna irgendwann mehr Zeit nehmen müssen …

„21,0975“ steht auf der Tafel neben der Messeinrichtung und meine Uhr hat vor wenigen Sekunden die 1:50 h überschritten. Eine Punktlandung nennt man das beim Fallschirmspringen. Die Freude darüber bleibt ein Impuls, weil ich diese Zeit auf der zweiten Hälfte kaum werde wiederholen können. Ich entsinne mich Marathons, bei denen ich mich zur Halbzeit ähnlich angegriffen fühlte und letztlich doch ein wunschgemäßes Finish hinlegte. Heute wird das nicht so sein. Woher ich die Gewissheit beziehe, weiß ich nicht. Vielleicht kann ich mich auch nicht mehr so quälen, wie noch vor ein paar Jahren. Wie beschreibt man jemandem diesen Zustand, der noch nie so weit und dabei so nah an seiner Leistungsgrenze gelaufen ist? Was für Stoffe schüttet der Körper aus, die einem über ein irgendwie schmerzhaftes Ziehen signalisieren: Mach Schluss, bleib stehen! Und doch läufst du weiter, hältst es aus; spürst den Zustand als unangenehme Bürde, aber nicht so unangenehm, dass Willenskraft den Widerstand nicht überwände. Und während ich mein Soll-Tempo unbeirrt halte, mischt sich eine Spur Hoffnungslosigkeit in mein Empfinden: Noch 20, 19, 18 Kilometer – noch so weit und ich bin schon so müde …

Seit Pirna treten die Höhenzüge auf beiden Flussseiten immer weiter zurück. Die Elbe fließt hier durch ein breites Becken – so zumindest der Anschein bei jemand, der die Gegend nicht kennt. Felder und Wiesen zu meiner Linken verstärken den Eindruck. Wir halten Kontakt zum Fluss, auch wenn der Radweg dann und wann zu einem Schlenker ausholt. Ich bin dankbar für jedes Fotomotiv, um mich von meinem Innenleben abzulenken. Erst eine Fußgängerbrücke über einen schmalen Elbzufluss, die träge unter meinen Schritten mitschwingt. Dann eine Reihe wie sinnlos und parallel zum Ufer gepflanzter alter Pappeln. Oder als Blickfang die bunt bemalte, wie es scheint vor langer Zeit mitten im Feld notgelandete „fliegende Untertasse“. Was in aller Welt ist das? Hier draußen, weit ab jeglicher Behausung, scheidet eine Funktion als Wasserturm aus. Auch ist das … „Objekt“ dafür zu flach. Zu längerem Grübeln fehlt mir längst die Energie, demnach gilt: Aus dem Auge, aus dem Sinn. In Höhe einer bewaldeten Elbinsel begegnet mir die Kilometertafel mit der „28“. Noch vierzehn Kilometer und ich fühle mich bereits völlig „ausgelutscht“. Wieso halte ich dann weiter diese offensichtlich zu hohe Pace? Und noch erstaunlicher: Wieso bleibe ich trotz des zunehmend unerträglicher werdenden Körpergefühls gut gelaunt? Immer wieder schieße ich Fotos und das ist nicht nur ein Reflex. Habe ich es mir im Unguten erträglich eingerichtet? Oder drückt sich darin nur eine besondere Form der Sturheit aus?

Wiesen diesseits der Elbe, bewohnte Anhöhen jenseits. Kilometer 30, 31, 32 … seit einer Weile drückt die Sonne durch die Wolken. Die Welt nimmt Farbe an und ich trage nun einige Lagen Zwirn zu viel am Leib. Auch Longtight, Mütze und Handschuhe sind längst überflüssig geworden. Dennoch bleibt alles wie es ist. Einerseits fehlt mir die Kraft, um über etwas so Verzichtbares wie „Anzugsänderungen“ nachzudenken, zum anderen habe ich schon drei Stunden Übung im Aushalten von Unbilden. Das bisschen Wärmestau auf der Haut macht da den Kohl nicht mehr fett …

Eine aus kapitalen, blau lackierten Stahlträgern gefertigte Brücke schiebt sich immer wuchtiger in mein Blickfeld. Sie kommt mir bekannt vor ... Bekannt von einem Kalender mit Dresdener Bauwerken, den ich zu Weihnachten geschenkt bekam. Witziger Weise prangt die Brücke ausgerechnet auf dem gerade gültigen Aprilkalenderblatt. Erst später werde ich erfahren, dass es sich um die Loschwitzer Brücke handelt, von der der Volksmund nur als „Blaues Wunder“ spricht.

Mühsam formt Gewissheit einen Gedanken, den ich nur widerwillig akzeptiere: Ich bin langsamer geworden und das Zeitziel ist nicht mehr zu erreichen. Vielleicht könnte ich es gegen meinen Körper durchsetzen – rede ich mir quasi entschuldigend ein –, doch danach wäre ich für Tage außer Gefecht gesetzt und ich will morgen wieder trainieren. Was nun, da ich nicht die eine, alles entscheidende Sekunde unter 3:40 h bleiben kann? Wie wär’s mit 3:44:59 h? Diese Marke ließe mir genügend Zeit, um noch reichlich Fotos zu schießen, vor allem später in Höhe der Dresdner Altstadt.

Ein guter Entschluss, denn in der Folgezeit rückt vieles in meinen Gesichtskreis, das abzulichten sich lohnt. Und obwohl ich in der „Abteilung Vorwärtsbewegung“ nur noch Schmerz und Schwäche spüre, bröckelt nicht die Lust auf schöne Fotos. Weinterrassen auf der anderen Flussseite, darüber Herrenhäuser und Schlösschen, haben es mir angetan. Ansichten, die ich schon im Oktober 2011, beim grandiosen Dresden Marathon genießen durfte, freilich nicht aus dieser Nähe. Gleich mehrmals lichte ich sie ab. Und als schließlich einer der dekorativen Raddampfer flussabwärts zum Überholen ansetzt, ist es um mich geschehen. Ich stelle mich seitwärts ins Gras und packe dreierlei ins Bild: „Weingut mit Schloss“, davor „Dampfer auf Fluss“ und im Vordergrund „Läufer beim Marathon“.

Was ist das mit mir? Lieb‘ ich, hass‘ ich oder brauch ich es? Bin bei klarem Verstand, fühle, sehe alles, habe noch Lust auf schöne Aussichten und die gibt es zu Hauf. Aber ich leide entsetzlich. Weit, weit voraus ahne ich die Türme Dresdens, wünsche, sehne mich dort hin. Bin stehend K.o. und treibe mich doch vorwärts. Kenne das schmerzhafte Ziehen im ganzen Körper, den Schrei des Fleisches aufzuhören, dem ich nur Willen und Reste ursprünglicher Kraft entgegenzusetzen hab‘. Natürlich liebe ich es nicht. Aber ich hasse es auch nicht. Wie soll man Qualvolles lieben? Und wie könnte man hassen, in das man sich freiwillig begibt? Also brauche ich es! Doch wozu? Spüre die Frage in allen Fasern. Das kräftig schlagende Herz pumpt das Warum in jede Zelle, hält es ständig im Fluss. Viel zu früh schwand heute die Kraft und für weitere sechs Kilometer muss ich mich zwingen. Noch so lange, so weit … aber ich will!

Voraus spannt sich die Waldschlößchenbrücke über Strom und Elbwiesen. Sie „spannt“ sich tatsächlich, obwohl man eher den Eindruck gewinnt sie ducke sich, ganz „Corpus Delicti“, das nicht gesehen und erkannt werden will. Die flache, unauffällige Bauweise entstammt purer Absicht der Konstrukteure, um dem Elbtal möglichst wenig von seinem Reiz zu nehmen. 2011, nach dem Dresden Marathon, schrieb ich: „Ob die schützenswerten Elbwiesen in ihrer Funktion tatsächlich relevant beeinträchtigt werden, wie viele Unken und Gräser letztlich weichen müssen, kann ich nicht beurteilen. Doch in der kontrovers geführten Diskussion rund um das (aberkannte) Prädikat „Weltkulturerbe Dresden“ ging es vornehmlich um die Zerstörung des Landschaftsbildes. In dieser Hinsicht bilde sich jeder selbst eine Meinung. Was mich angeht, so sah ich selten ein unauffälligeres, zumal flussüberspannendes Großbauwerk als diese Waldschlößchenbrücke.“

Noch gut drei Kilometer und ich bin von Minute zu Minute weniger Herr meiner Gliedmaßen. Ob die zahlreicher werdenden Zuschauer wahrnehmen, wie es um mich steht? Eher nicht. In ihren Gesichtern zeichnen sich Freude und Begeisterung ab, auch Spuren von Anerkennung aber kein Funken Besorgnis. Bald, bald, bald geschafft! Fotos! Mir selbst ein Rätsel, dass ich in diesem Stadium noch fotografiere. Dresden und sein wunderbares Panorama sind schuld! Natürlich auch die fünf bis X süßen Sekunden Erholungspause für meine überlasteten Beine.

Die Dächer, Kuppeln und Türme der Dresdner Altstadt leiten und begeistern mich. Nach und nach lasse ich die imposante Stadtgeschichte Dresdens hinter mir. Es tut weh, so weh, aber das ist nicht mehr wichtig. Nur noch ein paar Minuten. Grandiose Minuten. Dort oben die Brühlsche Terrasse und nun geradewegs auf die Semperoper zu. Halt! Stehenbleiben, ein Bild! Inzwischen ein Spiel mit dem Feuer, denn mein zweites Zeitziel gerät in Gefahr. Zu oft und zu lange stoppte ich für Aufnahmen. Weiter, weiter und nun kein Halten mehr. Stückweit voraus erkenne ich die Marienbrücke und nehme mich für das Finish in die Pflicht. Noch ein Kilometer und jetzt gib alles! Kurzer Blick zur Uhr – kann klappen, aber nimm die Beine in die Hand! In letztem Aufbäumen ringe ich mir mehr Tempo ab. Dahinter lauert völlige Erschöpfung aber danach kommt auch das Ziel. Endlich weg vom Fluss und auf den Brückenbogen zu, drunter durch und schon lockt der Stadioneingang. Was folgt sind die qualvollsten, zugleich glücklichsten Sekunden des Marathons, ein Schmerzinferno auf 300 Metern Tartanbahn, darin auflodernde alles überdeckende Befriedigung, es wieder einmal geschafft zu haben. Ich lege alles in einen lang gezogenen Endspurt, fliege noch an diesem oder jenem vorbei … Woher kommt die Kraft? Letzte Kurve, noch ein Überholmanöver … da steht Ines mit der Kamera … erkenne sie aus dem Augenwinkel … zu spät für ein Lächeln … keine Kraft mehr zum Winken … Zielgerade, Tempo halten, Marathontor und durch. Blick zur Uhr: Geschafft!

Weit fortgeschrittenes Lebensalter lässt sich an allerlei Zeichen festmachen. Zum Beispiel wird man(-n) irgendwann Großvater. Und wenn du das psychisch gerade so eben verarbeitet hast, dann läufst du bei einem mittelgroßen Marathonwettkampf in Alterklasse M60 mit einer durchschnittlichen Zeit von 3:44:13 h auf den dritten Platz. Daran muss ich mich noch gewöhnen. Nur der Sofortdruck der Urkunden verhinderte, dass ich meine Siegerehrung in Dresden verpasste ...

Ines' Halbmarathon

Fast hätte Ines ihre Bestzeit unterboten. Letztlich fehlten 7 lausige Sekunden, als sie mit 1:55:19 h über die Ziellinie rannte. Es waren 21 harte Kilometer, auf denen sie sich immer wieder dazu ermahnen musste das Tempo zu halten. Bedenkt man die zwei Wochen kompletten Trainingsausfall, dann darf sie auf die erzielte Leistung doppelt stolz sein. Naturgemäß bleibt der Laufgenuss ein wenig auf der Strecke, wenn man so hart wie Ines kämpfen muss. Dazu trug auch die Enge auf dem schmalen Radweg bei. Der Kurs hat ihr dennoch sehr gefallen und die spektakulären Kilometer entlang der Dresdner Stadtkulisse trieben ihr sogar ein paar Tränen in die Augen. Dazu muss man wissen: Ines wurde in Dresden geboren …

Dieses Bild von Ines: © www.mtmedia.de

 

Fazit zum Oberelbe Marathon

Mein Laufregister verzeichnet viele wunderschöne Landschaftsmarathons. Der Kurs durch das obere Elbtal mit den städtebaulichen Highlights Pirna und Dresden bekommt einen Platz unter den schönsten Fünf. Irgendwann will ich die Strecke noch einmal erleben, wenn die Sonne das Elbtal in voller Pracht erstrahlen lässt. Organisatorisch gibt es viel Gutes zu berichten und wenig zu meckern. Einziges Manko aus meiner Sicht: Für Auswärtige, insbesondere Ortsunkundige, sollte die Anfahrt zu möglichen Parkplätzen und der dann notwendige Umstieg in die S-Bahnen genau beschrieben werden. Wir mussten uns das aus Fahr-, S-Bahn-Strecken- und Stadtplänen mühsam zusammenreimen.

Anmerkung: Die Teilnehmerzahl für den Halbmarathon ist schon jetzt grenzwertig. Im sehr engen mittleren Bereich des Feldes kommt es häufig zu Behinderungen. Der Veranstalter sollte die Teilnehmerzahl für den Halbmarathon auf dem diesjährigen Stand einfrieren.

 

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