Einige Bilder im Bericht können durch Anklicken vergrößert werden. Oder hier klicken, um das Album als Diashow anzuzeigen.

Ein Ultra-Trainingswochenende der heftigen Art

Samstag:

Gute Miene zum langen Spiel  –  Internationaler 6h-Lauf Fellbach 2012

Wo liegt das Zentrum des Universums? – Lange wähnte sich die überhebliche Menschheit im Mittelpunkt der Schöpfung, geozentrisch umkreist von Planeten und dem Rest des Noch-weiter-draußen. Jüngere, aufgeklärtere Entwürfe huldigten heliozentrischen Weltbildern, die unser strahlendes Zentralgestirn zum ruhenden Pol erklärten, um den sich alles drehe. Heute gilt die Lehre vom Urknall, ein Geschehen weit jenseits unserer Vorstellungskraft, stattgefunden vor Äonen, an einem Ort ohne Ausdehnung, nur rechnerisch zu erfassen. Von dort und seit jenem Augenblick fliehen Masse und Energie in alle Richtungen des Raumes. Kennen wir jetzt die ganze Wahrheit? Sicher nicht, denn leider leben wir am Rand des Geschehens, in einem von Milliarden Sternenhaufen, von der Energie eines unbedeutenden Fixsterns am Leben erhalten, forschen mit unzulänglichen, technischen Vorrichtungen und beschränktem Geist. Wo liegt das Zentrum des Universums? – Erst Erde, dann Sonne, jetzt Urknall. Allen Theorien gemeinsam: Die Mitte ruht, alles Übrige kreist darum herum oder nimmt Reißaus.

Mein läuferisches, höchst egozentrisches Weltbild verlegt seinen Mittelpunkt in unregelmäßigen Abständen, heute nach Schmiden bei Fellbach, unweit von Stuttgart, ins hiesige Stadion. In einer halben Stunde, um 10 Uhr, fällt der Startschuss zum 6-Stundenlauf, eingebettet in einen 12-Stundenlauf. Dessen Hamster drehen bereits seit 8 Uhr früh fleißig am Rad … Mental wird das eine harte Sache heute – argwöhne ich –, denn Hamsterrad ist nicht gleich Hamsterrad. Im April in Salzburg fand ich eine ziemlich attraktive Strecke vor, entlang der Salzach und alle paar Minuten mit dem Bild der schönen Altstadt vor Augen. Aber hier? Erste Eindrücke bei Anfahrt und kurzem Fußmarsch ins Stadion lassen eher optische Tristesse erwarten. Doch wozu sich sorgen: Wer in Berlin-Weißensee 24 endlose Stunden eine Ansammlung von DDR-Altlasten ohne psychische Folgeschäden umrundete, braucht keine Strecke im Universum zu fürchten.

Die letzten Minuten verbringe ich sitzend auf der Stadiontribüne, im Schatten eines Baumes. Ein weiß-blauer, bayrischer Himmel spannt sich über das baden-württembergische Schmiden. Um die Schultern vor der Sonne zu schützen, streife ich ein weißes Kurzarmshirt über. Arme und Kopf haben sich infolge vieler Trainingsläufe reichlich mit Pigmenten gegen Sonnenbrand gewappnet. Ich lausche der Einweisung, suche ein letztes Mal die Toilette auf und geselle mich schließlich zu den etwa 50 Startern auf der Tartanbahn.

In den letzten Minuten vor einem Marathon- oder Ultra-Start geht mir manches durch den Kopf: Unwichtiges Zeug, ein paar höchst private Gedanken, nicht für die Öffentlichkeit bestimmt und immer auch das gesteckte Ziel samt „Taktik“, wie es erreicht werden kann. Ich zäume das Pferd mal von hinten auf: Meine Taktik ist denkbar einfach. Sechs Stunden lang im Orbit rotieren, mit konstant langsamem Tempo und dabei nicht weniger als 60 Kilometer sammeln. Im Sinn habe ich das als „Langzeittraining meines Fettsäurestoffwechsels“, im Hinterkopf unterlegt von der Absicht morgen in Fürth noch einen Marathon draufzusatteln. Wetteifern darf ich demnach mit niemandem, muss diszipliniert, mit verhaltenem Schritt, mein kleines Universum abmessen – genauer: ab-laufen … Die beiden Wettkämpfe bilden den Abschluss der härtesten, zugleich abschließenden Trainingswoche für den am 7. Juli geplanten Thüringen Ultra (100 km, über 2.000 Hm).

In der ersten Stunde, auf der ersten Runde …

Mit dem Startschuss mischen wir 6er uns unter die seltene Spezies der 12er. Zunächst etwa 80 Meter auf der Bahn, entgegen der üblichen Laufrichtung. Wie im Ultralaufzirkus üblich, vollzieht sich das völlig stressfrei und ohne jedes Drängeln. Zwar gehen auch Staffeln ins Rennen, aber die schnellen Pferdchen springen vorneweg, sind rasch außer Sichtweite. Auch Ultras kommen sich dann und wann ins Gehege. In solchen Situationen regiert jedoch die Neigung dem/der anderen den Vortritt zu lassen. Wie jetzt am Ende der Bahn, wo die Strecke im rechten Winkel nach links knickt und eine trassierte Gasse aus dem Stadion führt, vorbei am reichlich gedeckten Läuferbuffet. Nach 150 Metern entlang der Zufahrt des Parkplatzes wendet sich der Kurs neuerlich nach links und wir dürfen den reichlich über die Verbindungsstraße Schmiden-Stuttgart flutenden Verkehr beobachten. Gottlob nur 200 Meter weit, bis uns ein Linksschlenker auf Rad- und Fußweg leitet. Der verläuft zwar parallel zur Straße, aber meist hinter dichtem Baumbestand und fügt der Runde weitere 300 Meter hinzu. Links öffnet sich der Blick über Fluren, aktuell ein blühender Kartoffelacker.

Jetzt wieder nach links, von nun an beidseits Äcker passierend, Kartoffeln, Getreide, Mais und spezielle Kulturen, wie die niedrigen Büsche einer Baumschule und – nicht zu „überriechen“ – ein Erdbeerfeld. Nach den ersten tausend Metern geht’s merklich bergab; ein Vorteil, den ich auf Runde eins nicht zu nützen weiß, weil mir verwacklungsfreie Fotos wichtiger sind. Ein hübscher Streifen Mohn im Getreidefeld, davor möglichst bunte Trikots, von so was lebt ein Fotograf … Und weiter: Am Ende des Gefälleabschnitts einer kurzen Links-Rechts-Kombination folgend, danach supersanft bergan, bis zum Streckenposten 2. Der hat mit Tisch, Stuhl und später auch Sonnenschirm an einer weiteren Ecke des Kurses Quartier genommen und feuert die Rundendreher unermüdlich an. Ein paar Schrebergärten flankieren den nächsten Abschnitt, gefolgt von der Streckenmarkierung 1.500 m, bis schließlich ein nicht zu unterschätzendes Hindernis vor mir aufragt. Im Augenblick darfst du das Verb „aufragen“ im Zusammenhang mit dieser harmlosen Fußgängerbrücke gerne noch als Übertreibung werten. Doch mit jeder weiteren Stunde wird sich die Schikane höher auftürmen …

Hundert Meter weiter stehe ich auf dem Brückenscheitel, wetze hinab und schlage gleich anschließend einen Haken 90° nach links, das Stadion nun wieder im Blick. Nach gut dreißig Sekunden betreten meine Füße die Tartanbahn und haben am Ende der Gegengeraden 2.000 Meter Distanz überbrückt. 90 Meter fehlen noch, um die Runde von 2,09 km abzuschließen und sich mittels Transponder am rechten Handgelenk vom elektronischen Zähler registrieren zu lassen.

Pausenloses Beobachten und häufiges Fotografieren verhindern zunächst einen gleichmäßigen Laufrhythmus. Nach zwei Umläufen und vielen, lästigen Blicken zur Uhr finde ich zum Glück einen Modus, der künftige Kalkulationen und die meisten Tempokontrollen überflüssig macht: Wenn ich pro Stunde genau fünf Runden laufe, dann summiert sich das am Ende zu: 6 x 5 x 2,09 km = 62,7 km. Knapp 63 km klingt nicht viel anstrengender als 60, die meinem Minimalziel entsprechen. Wer eine solche Distanz aber schon mal hinter sich gebracht hat, weiß, dass zwei, drei Kilometer mehr den Unterschied zwischen müde und völlig erschöpft ausmachen können. Aber die Formel ist so verlockend einfach: Jeweils nach 12 Minuten durchs Ziel laufen! Am Ende der ersten Stunde habe ich dann tatsächlich genau fünf Runden auf dem Konto und sehe sogar schon den Zieleinlauf vor Augen … Du findest das vermessen, nach nur einer Stunde? Kann sein, aber bei einem Stundenlauf scheint alles so herrlich kalkulierbar, vor allem am Anfang.

Der Auftrieb beginnt am Stadionparkplatz, den ich gerade mal wieder passiere. Massenhaft Eltern mit ihren „laufenden Metern“. Zugrichtung des Schwarms: Stadion. Verspätete Schlachtenbummler? Freunde von Läufern? Andere Ideen kommen mir nicht. Aus dem Auge, aus dem Sinn … an der Straße entlang … vorbei an Streckenposten 1 (Dame, mittleres Alter, strickt) … Radweg … weiter Satz über ein Schlagloch (eigentlich „das“ Schlagloch, es gibt nämlich nur dieses eine) … den Feldweg abmessen … zwischen Mais und Getreide abwärts … neuerlich zick, dann zack … und wieder sanftest aufwärts … vor Streckenposten nach links flüchten … Blicke in die Gärten werfen … die Brücke erobern … drüber ... runter und … auf eine Kette zum Abklatschen ausgestreckter Kinderhände zu. Ein paar erwische ich und bin vorbei. Also tatsächlich Zuschauer für einen 6/12h-Lauf? Zweifel bleiben und sind berechtigt, wie ich nach der nächsten Runde feststelle: Inzwischen haben sich alle Familien auf einem Kunstrasenplatz neben dem Stadion versammelt, wo ein Kinderfußballturnier ausgetragen wird.

Die zweite Stunde …

Die Dramaturgie meines Zieleinlaufs steht im Rohentwurf. Runde um Runde feile ich daran, bis irgendwann die letztgültige Sequenz feststeht: Letzte, also dreißigste Rundenzählung bei 6 Stunden minus 40 Sekunden, dann meine Tasche am Rand der Tartanbahn einsammeln, noch bis zum Läuferbuffet vordringen und am opulent gedeckten Tisch das Abschießen des Wettkampfs erwarten. Du magst mich für einen ziemlichen Spinner halten, das „Ende“ so früh und unbeschadet aller Unwägbarkeiten in Einzelheiten vorweg zu denken. Aber ich versichere dir: Wenn die Kräfte nicht versiegen, werde ich es exakt so durchziehen!

Die Wahrnehmung des 6h-Läufers Udo entwickelt sich wie die eines Neugeborenen. Zunächst erfasst er nur seine unmittelbare Umgebung, die Strecke und seine Mitläufer als Bezugspersonen. Wo fühlt man leichtes Gefälle, wo steigt der Kurs an, wo besteht Stolpergefahr, wenn man müde ist. Er sucht die Ideallinie auf dem stark welligen Radweg zwischen Kartoffelfeld und Straße, achtet dort auf das einzige, nicht ungefährliche Schlagloch, versucht jede der 90°-Richtungsänderungen möglichst flüssig, mit geringstem Energieverlust zu laufen. Immer wieder schieben sich Mitläufer ins Bild, werden betrachtet, mit allerlei Erwägungen bedacht, schließlich vorsichtig überholt. Nach und nach erweitert sich das Blickfeld, wenn sämtliche im 250-Meter-Abstand gepflockten Längenmarkierungen gesichtet, alle Feldfrüchte bestimmt und vom Kurs abzweigende Radwege als solche erkannt sind. Es dauert lange, bis sein Blick einige Kilometer über die kleine Kreisläuferwelt hinaus und hinüber zum Killesberg reicht. Das muss der Killesberg sein, denn der Stuttgarter Fernsehturm steht unverkennbar oben drauf. Zwischen dort und hier schneidet tief ein Tal in die Landschaft, nur zu erahnen, aber ganz sicher geformt vom bekanntesten Fluss der Schwaben, dem Neckar.

12, 14, 16 km … meine Beine sind müde, wie meist. Frisch und ausgeruht fühle ich mich allenfalls einmal pro Trainingswoche. Doch so lange ich diesen subjektiven Zustand des Erholtseins wenigstens ab und zu erlebe, bleibe ich unbeeindruckt und meiner Linie treu. Wahrscheinlich muss man die Erfahrung, mit müden Beinen noch stundenlang laufen zu können, häufiger erlebt haben, um optimistisch und sorglos Schritt auf Schritt folgen zu lassen. Ein paar Zipperlein haben sich im langen Anlauf zum 100er inzwischen eingestellt, vor allem infolge des mit vollem Einsatz gelaufenen Halbmarathons am letzten Wochenende. Anfangs ziepte es im rechten, später im linken Knie, dann haben die Achillessehnen „durchpariert“ – alles nur vorübergehend. Schließlich meldet sich der jüngste aller Querulanten, Beschwerden in Höhe des rechten Sprungelenks. Irgendwie innen, nicht fassbar, diffus. Auch dieser Störenfried gibt nach einiger Zeit seinen Widerstand auf.

Zwar steht die Quecksilbersäule längst über der 20°C-Marke, dafür versteckt sich die Sonne sehr häufig hinter fetten Wolken. Ich beschränke mich auf einen Becher Flüssigkeit pro Runde. Bei meinem Trinkgelage im 12-Minuten-Takt folgt Wasser auf Malzbier, dann wieder Malzbier auf Wasser. Das Wasser soll die stark zuckerhaltige Malzbrühe verdünnen, damit sie im Darm schneller resorbiert werden kann. Irgendwann wird mir das geschmacklich zu eintönig. Also trinke ich Iso, danach Iso und wieder Iso … bis ich reumütig zur Betankung mit Malzbier-Wassergemisch zurückkehre.

Erstmals lasse ich mich porträtieren. Beim letzten Passieren habe ich Streckenposten 2 meine Kamera mit der Bitte um ein Foto übergeben. Von weitem erkenne ich, wie er gerade noch Beifall spendet, dann aber die Kamera aktiviert, um meinen Lauf der Nachwelt zu sichern. Ich bedanke mich artig, übernehme die Kamera und renne in Richtung Brücke davon …

Unermüdlich – mit diesem Adjektiv kennzeichne ich jetzt nicht uns Läufer, vielmehr die vielen Helfer. Zum Beispiel am Büffet: Einschenken, bereitstellen, wegräumen, sauber wischen. An den aufgestellten Sammelkartons für Becher: Sortieren, in Abfallsäcken verstauen, wegbringen. In der Sprecherkabine: Zwischenstände durchsagen, Läufer mit Namen und Herkunft begrüßen (bald zehnmal auch mich). Am Zählautomaten: Zeit massenhaft totschlagen und darauf achten, dass jeder Läuferkontakt mit der Apparatur einen vernehmlichen Piepser auslöst. An zwei Streckenposten: Ebenfalls Lebenszeit opfern, applaudieren, Fotos schießen, mit diversen Geräuschinstrumenten mehr oder weniger motivierenden Lärm erzeugen, Passanten über das merkwürdige Treiben bunt gewandeter Zeitgenossen aufklären …

Die dritte Stunde …

… beginnt mit Genugtuung angesichts meiner seit zwei Stunden erfolgreich verfolgten Taktik: Nach zwei Stunden minus 30 Sekunden vollende ich die zehnte Runde. Das lockert ein wenig die angespannte Stimmung in meinem Kopf. Nicht, dass ich Zweifel hegte mein Ziel zu erreichen. Allerdings habe ich erst ein Drittel abgespult und muss bereits jetzt jeden Umlauf mit Mühe erkämpfen. Das unterscheidet mich von den meisten anderen, die nach nur zwei Stunden noch munter und vergnügt ums Stadion traben.

Die anderen: Zwei der üblichen Ultra-Verdächtigen habe ich bereits wiedererkannt. Den einen am schlohweißen Bart, den anderen an Gestalt und einzigartigem Laufstil. – Dann kreist da ein Turm von einem Menschen im gelben Hemd. Mit seinem Strohhut zum Schutz vor der Sonne wirkt er eher wie ein verirrter Künstler, wie Vincent van Gogh als Läufer verkleidet. Sicher finde ich ihn auf der nächsten Runde vor seiner Staffelei, mit sicherem Pinselstrich ein Meisterwerk erschaffend: „Mohnblumen im Getreidefeld“. – Kati ist auch da. „Kati“ steht als Schriftzug in voller Rückenbreite auf ihrem Shirt. Und hätte mich Kati nicht vor dem Lauf gefragt: „Wo ist denn der Hund?“, hätte ich in ihr kaum jene Läuferin wiedererkannt, die sich vor drei Wochen beim „Schefflenzer Ultra“ ein bisschen vor der vierbeinigen Roxi ängstigte. Heute ist Kati gut drauf. Ich sah sie nur anfangs – von hinten – seitdem nicht mehr. – Überrundet werde ich auch ein paar Mal: Bei zweien fällt es mir auf, weil es häufiger passiert, obwohl beide eher unauffällig gekleidet sind. Wird man schnell, wenn man sich unauffällig kleidet? Oder zieht man eher gedeckten Zwirn vor, weil man optische Beschleuniger nicht nötig hat?

Noch eine andere, die Läuferin mit „Rallyestreifen“. Immer wieder, auch in dieser vergleichsweise kleinen Schar von Ultraläufern, begegnet man dem neumodischen Kinesio-Tape. Sparsam verklebt lugt hie ein roter, da ein blauer Streifen aus Strumpf oder Hosenbein, zieht sich wie postmoderne Kriegsbemalung auch mal über eine Wade. Die Laufwerkzeuge dieser Dame scheinen allerdings in einem völlig desolaten Zustand gefangen. Oder warum hat sie ihre Beine mit mehreren Metern Tape rund herum und in voller Länge tapezieren lassen? Hilft es, wenn man dran glaubt oder objektiv, also nachweisbar, jedem? Ich wurde selbst mal von einem Masseur „ge-taped“, als mich ein hartnäckiger Schmerzzustand anderthalb Jahre aus dem Marathon-Verkehr gezogen hatte. Eine schmerzbefreiende oder auch nur lindernde Wirkung wollte sich indes nicht einstellen. Lag das an meiner Skepsis, falscher Indikation oder der Fehlbarkeit des Menschen an sich?

Dann sind da noch die ganz anderen: Damit meine ich Staffelläufer und Staffelläuferinnen. Erkennbar am Luftzug, wenn sie vorbei zischen und an der zweiten Startnummer auf dem Rücken. Einige erkennt man auch an der fast schwarzen Hautfarbe. Vermutlich Teilnehmer afrikanischer Abstammung. Staffeln mit Männern und Frauen aus Eritrea. Die Herkunft Eritrea schlussfolgere ich, weil der Lauf eine „Eritrea-Aktion“ unterstützt. Man kann gebrauchte Laufshirts abgeben, spenden oder an einer Tombola teilnehmen. Auch Teams mit fast schwarzhäutigen Mädchen und Jungs kreisen im Orbit. Alle sprechen akzentfrei Deutsch, sind also in Deutschland aufgewachsen und heimisch (Gedanke: Akzentfrei Deutsch sprechend? Also integriert!? Wieso gelingt das dieser ethnischen Gruppe, während Mitglieder einer anderen, optisch weit weniger auffallend, auf Dauer außen vor bleiben?).

Die vierte Stunde …

Streckenposten 2 hat eine Geschlechtsumwandlung vornehmen lassen. Am Biertisch unterm Sonnenschirm sitzt zwischenzeitlich eine Frau, unentwegt lächelnd und mit diversen Gerätschaften klappernd. Zusätzlich belohnt sie alle Passanten mit anerkennenden Superlativen. Runde um Runde, Stunde um Stunde – was für eine Ausdauer! Mein Ansinnen in Sachen „Bild-von-mir“ scheint ihr als Abwechslung hochwillkommen. Eine Runde später nimmt sie mich aufs Korn. Danke und ab …

Das Fußballturnier ist noch im Gange. Jedes Mal, wenn ich auf den Hintereingang des Stadions zu laufe, fangen meine Augen zwischen Büschen schlaglichtartig Szenen kickender Kindermannschaften ein. Ab und zu höre ich Torjubel, vielfach Trillerpfeifen der Schiedsrichter und häufig überschäumenden Ehrgeiz aus erwachsenen Kehlen (Trainer? Eltern?), der sich in Form rüder Anweisungen unschuldiger, kleiner Fußballstars bemächtigt: „Marco lauf! Außen! Schau doch außen! Abspielen! Lukas zurück! … …“

Die fünfte Stunde …

Etwa 40 Kilometer gepackt und noch 20 vor mir. „Nur noch 20“ formuliert der Optimist in Gedanken, die Nichtigkeit dieser kurzen Distanz betonend. Der Realist (Pessimist?) fühlt sich provoziert und bricht das Schweigen: ‚Was heißt hier nur? Immerhin noch zwei Stunden zu laufen und es wird immer wärmer. Die pure Viecherei ist das.’ Sicher wurde das Gedankenspiel „Marathon voll machen und Heimfahren“ ebenfalls in der Miesmacherecke meines Kopfes erfunden. Unter anderem brauche ich diesen Lauf als „Marathon Nummer 93“, wenn ich meinen Traum wahr machen und im November in New York den 100. Marathon feiern möchte. Aber dazu reichten mir heute auch 42,195 Kilometer; nur 21 Runden und die hab ich gleich …

Könnte die Augen schließen und mir von der Nase den Weg weisen lassen: Entlang der Straße riecht man Abgase, kann alte von neuen Dieselmotoren unterscheiden, auch Benzinschlucker zweifelsfrei identifizieren. Dann der Schlenker Richtung Felder, wo dir ein Mischgeruch von warmer Erde und verschiedenen Feldfrüchten entgegen schlägt. Ums Eck und nach kurzer Zeit trägt dir der Wind den Duft von Erdbeeren zu. Eindeutig erdbeerig, aber mit einem in meinem Duftgedächtnis bislang nicht erfassten Beigeruch. Dann reizen wieder die Ausdünstungen unreifer Getreidefelder meine Schleimhäute, mal mehr, mal weniger, je nach momentaner Windstärke. Inzwischen wartet meine Nase auf das Highlight der Strecke, den wunderbarsten Geruchsmoment, nie länger als zwei Sekunden während, manchmal kürzer. Am Ende der Rampe zur Brücke, exakt zwei Schritte vor der Brücke und einen darauf ist es soweit: Tief atme ich herrlichen Heuduft ein, eine Art Belohnung für die erneut geglückte „Gipfelbesteigung“. Einmal bleibt er aus – vielleicht infolge einer kurzzeitigen Änderung der Windrichtung –, was ich als ziemlich enttäuschend empfinde (… ist schon eine merkwürdige Funktionseinheit, so ein Ultraläuferhirn). Bis zum Ende meines Hamsterdaseins gelingt es mir nicht den „Heuduftspender“ zu ermitteln. Eine gemähte Wiese kann es nicht sein, dafür ist das Geruchserlebnis zu punktuell. Vielleicht welkendes Gras einer Straßenböschung?

Wie’s mir geht? Im Kopf ganz gut. Immerhin ist das Ende absehbar. Noch anderthalb Stunden, die trabe ich schon irgendwie runter … Die Wärme macht mir zunehmend zu schaffen. Nur noch selten verschwindet mein Lieblingsstern hinter Wolken, um mich zu schonen. In kurzen Abständen wische ich mir den Schweiß aus der Stirn, nutze auch die bereitgestellten Schwämme. Seit ich den objektiv unvermeidlichen Flüssigkeitsmangel auch subjektiv als Durst verspüre, habe ich meine Trinkmenge auf zwei Becher pro Runde erhöht. Die Folge: Manchmal Glucksen im Bauch, Völlegefühl im Magen und längeres Aufstoßen. Aber ich vertrage die Menge und offensichtlich schafft es mein Organismus die viele Flüssigkeit aufzunehmen. Natürlich werde ich von Umlauf zu Umlauf müder. Oft habe ich auch das (Lauf-) Gefühl langsamer unterwegs zu sein. Doch dann laufe ich ins Stadion, schaue auf die Uhr und es sind wieder nur und fast exakt 12 Minuten vergangen. Beide Instanzen, Kopf und Körper, sind sich in einem einig: Eigentlich reicht es mit der Quälerei …

Die sechste und letzte Stunde …

Ich habe es erwartet und freue mich darüber. Ja, auch, dass ich noch immer mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks in der Zeit liege. Vor allem aber darüber wie leicht mir die letzten fünf Runden fallen. Im Kopf, nicht in den Beinen, für die bricht die härteste Phase an: Depots geleert, Strukturen verhärtet, trotzdem weiter Schritte setzen, Tempo halten. (Ultra-) langes Laufen ist Kopfsache. Die letzte Stunde vergeht wie im Flug und ich führe mein fortwährendes Mantra scheinbar zügiger zu Ende: … noch viermal über die Brücke … noch dreimal … jetzt nur noch zweimal … ein letztes Mal … und nun nie mehr über diese Sch…brücke!

Bei den zwei letzten Stadiondurchläufen achte ich genau auf die Zeit. Zunächst habe ich einen Vorsprung von über einer Minute. Zu viel. Also versuche ich ein wenig langsamer zu traben, was mir aber nur unzureichend gelingt. Wieder erreiche ich den Rundenzähler mit einer Minute Zeitgutschrift. Wie soll das auch funktionieren, das Tempo um 10, 20 Sekunden pro Runde zu senken, wenn alle Fasern seit Stunden auf dieselbe Geschwindigkeit programmiert sind? Zumal jetzt, wo aus dem tiefen Sumpf schmerzender Gelenke, Sehnen, Bänder und Muskeln nurmehr Blasen aufsteigen aber kein einziges verlässliches Signal.

Letzte Runde: Ich verabschiede mich von der Strecke. Tschüs Schlagloch, mach’s gut Erdbeerfeld, Mais ade. Ein letzter anerkennender Blick zu Streckenposten 1, den die Dame aber lesenderweise gar nicht auffangen kann. Dafür ein kurzes Zwiegespräch mit Streckenposten 2, dem ich meinen Dank fürs Helfen und Harren abstatte, der seinerseits dem Läufer seine Hochachtung für die erbrachte Leistung ausspricht. Und dann eben die finale Gipfelbesteigung, die letzte Nase voll Heuduft, zum letzten Mal in Höhe der 1.750m-Markierung ums Eck, am inzwischen verlassenen Kunstrasenfeld vorbei, ein letztes Mal auf die Tartanbahn … Hab’ ein bisschen getrödelt und bin tatsächlich „just in time“. Als mich die Rundenzählung zum dreißigsten Male auspfeift bleiben noch 40 Sekunden. Ich schnappe mir meine Tasche am Ende der Tribünengeraden … noch 20 Sekunden … passiere die schmale Gasse in Richtung Verpflegung … noch 15 Sekunden … erreiche das Büffet, wo schon einige andere warten … noch acht Sekunden … lege meine Tasche ab … noch fünf, vier, drei, zwei, eine Sekunde und … Schuss!

Was bleibt ist trinken (literweise!), warten auf den Messtrupp, danach Massage, duschen, Ines anrufen, um die Erfolgsnachricht loszuwerden, schließlich unter schattigen Bäumen essen, wieder trinken und an morgen denken: Marathon in Fürth …

Ergebnis des 6h-Laufs: 62,823 km, Platz 6 von 38 Teilnehmern

Fazit der Veranstaltung

Anders als befürchtet empfand ich die Strecke nicht als eintönig. Das wird auch anderen so gehen, die mit offenen Sinnen laufen. Veranstaltungen, die schon etliche Jahre unter denselben, bis ins letzte Detail erprobten Bedingungen durchgeführt werden, können in Routine erstarren oder ein munteres Leben entwickeln. In Schmiden merkt man den Beteiligten an, dass sie sich schon ein ganzes Jahr auf den Rundenzirkus gefreut haben. Dieser Funke sprang immer wieder über. Zu bemängeln gibt es nichts, Verbesserungen vorzuschlagen auch nicht. Bleibt zu hoffen, dass künftig mehr Ultras die hervorragende Organisation nutzen und damit eine vorbildlich durchgeführte Veranstaltung und das kleine Heer der Helfer belohnen. Ein herzliches Dankeschön nach Schmiden!

Wir über uns Gästebuch Trekkingseiten Ines' Seite Haftung
logo-links logo-rechts

zum Seitenanfang