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Nie zuvor …  –  Sommeralm Marathon 2012

Samstag, 9. Juni 2012, ca. 10:30 Uhr, irgendwo in der Steiermark …

Bin nass wie ein Hund. Nass wie mein Hund. Roxi trabt neben mir her, dürr, als hätte sie der Regen geschrumpft. Ein Bergmarathon quält nicht ausreichend – meinte jedenfalls Petrus und sandte den Wolkenbruch. Es tröpfelt weiter, aber zunehmend spärlicher. Ist mir egal. Ehrlich. Große Pein lässt keinen Platz für kleine, erst recht nicht für Weicheigefühle in Sachen Nässe. Ich vermag den beiden Läufern vor mir nicht zu folgen, tippele langsam aufwärts. Sehr langsam auf schweren Beinen. Beine, in denen schon die Höhenmeter der ersten 25 Kilometer stecken und die Trainingseinheiten der ganzen Woche. Ständig wechselt die Steigung von steil auf noch steiler, dann wieder „nur“ steil. Asphalt gottlob. Nicht auszudenken, wenn hier holprige … Auf Strecken- und Profilstudium habe ich verzichtet. Manchmal ist es mir lieber nicht genau zu wissen, was zu welchem Zeitpunkt auf mich zukommt. So wie gegenwärtig wird es noch ein paar Kilometer weitergehen. Wie herrlich wären jetzt ein paar flache Schritte … Aber ich habe es so gewollt. Und gewusst, dass ich mich genau in diesem Zustand wiederfinden werde. Bin fixiert auf mein Ziel, brauche diese Tortur. Und ich kann das, mich quälen …

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Liest sich heftig der Einstieg; scheint keinen Spaß gehabt zu haben, der Udo, dort in der Steiermark, beim Sommeralm Marathon, dessen Anstiege sich auf 1.770 Meter summieren. War wohl nix!?

Irrtum! Ganz großer Irrtum! Aber nun der Reihe nach …

Freitag, 8. Juni, später Nachmittag, Winzendorf, Steiermark

Kraxi richtet einen Marathon aus, zum zweiten Mal und dieses Jahr passt er in meine Planung. Wer ist Kraxi? Das ist der Steiermärker mit dem riesigen Herzen, wörtlich und im übertragenen Sinne. So wie Hannes Kranixfeld, alias „Kraxi“, rennt, muss in seiner Brust ein übergroßer Muskel pumpen. Und es gibt keinen liebenswürdigeren Sportkameraden als ihn. Seine sportlichen Meriten magst du einer Suchmaschine entnehmen, sein Naturell mir einfach glauben. Eckard, alias „Rumläufer“, sieht das sicher ähnlich, darum sind wir gemeinsam hier. Bei „hier“ wird’s schwierig, denn „hier“ zu finden ist nicht leicht. Österreich, Bundesland Steiermark, etwa 50 Autokilometer nordöstlich von Graz: Winzendorf. „Winzendorf“ könnte von Winzer abgeleitet sein oder auch von winzig. Wein wächst zwar in der Nähe, aber nicht hier …

Kost und Logis gewähren uns ebendieser Kraxi samt Familie. Ja, genau, bei ihm daheim. Für Eckard, mich und Roxi. Übrigens auch für Bernhard, alias „Bernie78“, mit Lebensgefährtin und Sohn, die schon einen Tag länger da sind. Schon lustig: Nie zuvor habe ich im OrgBüro eines Marathons übernachtet. Barbara (Babsi), Kraxis Frau, die man immer nur lachen sieht, managt die Startnummernausgabe, kümmert sich um unser leibliches Wohl und wird morgen die Versorgung der Verpflegungspunkte steuern. Das Heute vergeht bei angenehmen Gesprächen und zahllosen Späßen. Wir genießen die laue Luft eines fast 30°C warmen Tages im Garten. Einer kann nicht genießen, rennt rastlos hin und her, bewegt Autos und viele Details im Kopf. Zurück von der Streckenmarkierung reichte es für ein herzliches Hallo, nun schwirrt er schon wieder davon, um eine von tausend Einzelheiten seiner gedanklichen Checkliste abzuhaken. Babsi bewahrt Ruhe und Überblick im quirligen Zentrum, telefoniert immer wieder und … lächelt. Viele helfen: Familie, Bekannte, Vereinskameraden.

Teilnehmer gibt es natürlich auch. Da sind die bereits erwähnten Eckard, Bernhard, Udo (mit Roxi) und Kraxi selbst. Darüber hinaus Läufer aus Kraxis Verein und Unbekannte aus der Region. Insgesamt liegen 25 Voranmeldungen vor. Ja, richtig, nur 25, von denen zwei bereits abgesagt haben (und zwei nicht kommen werden). In die Bresche werden drei Nachmelder springen, so dass letztlich zwei Frauen und 22 Männer den Lauf antreten. Der ganze Aufwand für ein Viertelhundert Laufverrückte? Es klingt nach wenig und tatsächlich stand ich nie zuvor in einem so winzigen Feld von Wettkämpfern. Aber in diesem Fall ersetzt Qualität die Quantität, wovon noch zu berichten sein wird, und wobei ich beileibe nicht mich im Sinn habe …

Samstag, 9. Juni 2012, gegen 6:15 Uhr, im „OrgBüro“

Wir frühstücken im „OrgBüro“. „Wir“ minus Kraxi, den schon wieder bienenfleißig und ziemlich fahrig in Gedanken Organisatorisches umtreibt. „Wir“ plus ein regionaler Teilnehmer, dem Babsi gerade seine Startnummer und sein „Startersackerl“ ausgehändigt hat. Die angebotene Tasse frisch gebrauten Kaffees konnte und wollte er dann auch nicht ausschlagen. Manches im Laufwortschatz des Alpenstaats klingt für deutsche Lauscher lustig. Verpflegungspunkte – was für ein entsetzlich nüchterner Begriff – heißen „Labestation“ oder kurz „Labe“. Das Lauftrikot nennt man „Leiberl“ und das Startpaket findet sich eben im „Startersackerl“. Für Laufen-in-Österreich-Unkundige mag es unglaublich klingen, aber im Startersackerl eines 24-Teilnehmer-Mini-Marathons finden sich tatsächlich mehrere Getränke und ein Startnummernband. Außerdem stapeln sich in Kraxis Wohnung, mehr noch in der Garage, Kisten mit Getränken, Bananen, Äpfeln und zig anderem was Camping- oder Biertische morgen zu Laben aufwerten wird. Kraxi mobilisierte unglaublich viele Sponsoren, die ihn mit Geld- und Sachspenden unterstützen. Das ist in Österreich leichter als in Deutschland, wo Sponsorengelder immer spärlicher fließen, liegt aber auch am Ruf des Läufers Hannes Kranixfeld, der nicht nur regional bekannt ist. 2010 startete Kraxi für Austria bei der 100 km-Weltmeisterschaft.

Die Zeit vergeht wie im Fluge, anders als sonst vorm Start. Babsi serviert einen Kaffee nach dem anderen, wir scherzen. Ein bisschen ist das auch Galgenhumor. Den Galgen bilden die Höhenmeter. Ist es nicht schon im Grundsatz unverständlich, dass Menschen ohne Not – freiwillig! – mehr als 40 Kilometer weit laufen? Und dann auch noch 1.770 Meter aufwärts? 7:10 Uhr. Wir sammeln uns im Kranixfeldschen Garten. Nach und nach treffen die übrigen Teilnehmer ein. Darunter übrigens auch ein Ungar und weitere Deutsche, die irgendwie von diesem abgeschieden stattfindenden Masochistentrip erfahren haben. Roxi ist unruhig. Wetzt hin und her, schnüffelt an diesem und an jener, kläfft ein paar Mal. Natürlich hat sie längst gerochen, was hier gleich passieren wird. Ich rufe sie zur Ordnung. Wenn schon auffallen, dann als gesittetes Laufpaar.

7:15 Uhr: Aufbruch zum Start. Im Pulk queren wir Nachbars Wiesengrundstück, bergab, auf dem von Kraxi (Babsi? Sonst wer?) eigens gemähten Weg. Meine Tasche mit Wechselkleidung deponiere ich im Kleinbus, Roxi in der Wiese mit Kommando „Sitz!“ und Über-Flüssiges in Deckung eines Baumes. Dann schlinge ich Roxi die ihr so verhasste dünne Laufleine ums Halsband. Der Hundeblick spricht: „Muss das wirklich sein?“ Kraxi weist die Läufer bereits ein, als sich unsere sechs Beine zum kleinen Kreis gesellen. Wegmarkierung: Weiße Pfeile auf dem Boden, rot-weiße Bänder an Bäumen und Büschen. Babsi sprach von der schieren Unmöglichkeit sich zu verlaufen, weil Kraxi unzählige Wegweisungen anbrachte. Es soll bereits hier festgestellt werden: Dieser Hannes Kranixfeld – und seine Babsi nicht minder – streben nach Perfektion. Seit wir hier sind fühle ich mich umsorgt und betreut wie nie zuvor. Alles soll klappen, die elementaren Dinge sowieso, aber auch das dritt-, viert- oder überhaupt nicht so Wichtige. Einen offiziellen Zeitnehmer hat er engagiert und selbstverständlich eine Startpistole, deren Abzug nun der sich krümmende Finger des Herrn Bürgermeisters betätigt. Kurz bevor es knallt, hebt das allgemeine Wünschen an. Hände werden geschüttelt, Schultern kurz geknufft, ehrlich gemeinte Formeln gesprochen. Beim Lauf zur Sommeralm handelt es sich um einen offiziellen Lauf – keine Frage –, es will auch jemand gewinnen, – das muss sein – aber dieser Marathon hat auch was von einem frohen Familienausflug.

Roxi hockt wie in Stein gemeißelt neben dem Weg. Ich habe „Sitz!“ befohlen und die Laufleine wieder eingesteckt. Die brauchen wir heute nicht. Hundeblick …Startschuss, Kommando „Lauf!“ und schon rast sie los, wie von der Tarantel gestochen, verschwindet bereits hinter der nächsten Biegung, bevor irgendein Zweibeiner seinen zehnten Schritt vollenden konnte. Roxis Spannung wird sich in den nächsten Minuten in vielfachem Vor und Zurück entladen. Meine überlebt nicht einmal den ersten, eigentlich harmlosen Buckel gleich hinter der Auftaktkurve. Komfortables Einlaufen in der Ebene? Solche Bequemlichkeiten werden allgemein überschätzt. Meine müden Haxen schlurfen rauf, wechseln von Asphalt auf eine Wiese, folgen dem Wanderweg in ein Wäldchen, gleich wieder runter, queren das Bächlein auf verlässlich wirkendem Steig, arbeiten sich schließlich mühsam am Feldrand wieder nach oben ... Warmlaufen auf steirische, auf Kraxis Art. Kaum zehn Minuten vergangen und ich schmore bereits im eigenen Saft.

Die Schweißperlen auf meiner Haut sind aber auch dem warmen, sonnigen Morgen geschuldet. Mit unklar abgegrenzten Wolkengebilden, mal dünn wie Schleier, dann wieder bauschig dick, gibt sich der Himmel unentschlossen. Dabei steht fest, dass das Wetter kippen wird, nur eben nicht wann. Meine Position im kleinen Feld steht auch fest: Weit hinten, nach Fotos mehrmals Letzter, dann wieder vor ein, zwei, drei anderen. Oft hefte ich mich an die federleicht schwingenden Fersen von Tatjana, gegenwärtig in morgenkühlem Wald. Ich warte aufs Anspringen meines Motors, auf höheren Öldruck und mehr Drehfreudigkeit, insgeheim ahnend, dass es nicht geschehen wird. Zu hoch die Vorbelastung, zu hart die Strecke, zu früh die Stunde. Wundern darf mich das nicht, denn die Reaktion meines Körpers entspricht exakt meiner Erfahrung und der brutalen Trainingsplanung. Also bin ich zuversichtlich und dauerhaft guter Dinge. Dass mir auf einem der vielen Höhenmeter die Kraft ausgehen könnte, existiert nur als irrationaler Gegenentwurf zum erwarteten finalen Erfolg. Es kann eben nicht sein, was nicht sein darf!

Roxi hat das Hin und Her, die Hütehundaktivitäten der Anfangsphase, eingestellt. Ihre kleine Herde bunt bedresster Zweibeiner wollte sich partout nicht zusammen halten lassen. Mit Fährtenlesen und Stippvisiten beidseits des Waldweges vertreibt sie sich die Zeit. Von der Spitze unserer kleinen Marathonschar ist längst nichts mehr zu sehen. Auch nicht auf freiem Feld, das wir wenig später in einem flachen Tal durchqueren. Auf Mais folgt Getreide, abgelöst von Wiesen, oft von Obstbäumen aufgelockert. An den Rändern der ausgedehnten Talmulde erheben sich harmlos aussehende Hügel, keine Berge. Ein hübscher Anblick, selbst im Zwielicht eines inzwischen milchig bedeckten Himmels. Auf den Kuppen erkennt man kleine Dörfer, lockere Bebauung, die Häuser wie von Titanenhand hingewürfelt. Auf exponierter Anhöhe thront ein Kirchlein, weithin sichtbar, einladend, mahnend, auffordernd, je nach Einstellung desjenigen, der es erblickt.

Nach nur vier Kilometern stehe ich vorm ersten Verpflegungspunkt. Er wird von zwei mir unbekannten Helfern betreut, was nur bedeuten kann, dass Kraxis Marathon mehr personelle Unterstützung erfährt, als ich mir vorstellen konnte. Warme, trotz der frühen Stunde schwüle Luft lässt mich nach drei Bechern Iso greifen. Roxi lässt sich zwei Leckerlis schmecken, die ich für sie überraschend aus meiner Handgelenktasche zaubere. Ich danke für die Labsal und werde mit Wünschen für gutes Gelingen weiter geschickt. Ein paar hundert Meter dahinter folgen zwei weitere, unausweichliche Stopps. Einer, damit sich Roxi im Bach Füße und Bauch kühlen kann. Der zweite, um eine Stute mit Fohlen abzulichten. Bilder einer Pferdeidylle, die ich für Ines mit nach Hause nehme. Die bei dergleichen Manövern eingebüßte Zeit kümmert mich nicht. Es geht um nichts, als laufend ankommen und trainieren; also darum die Beine mit vielen, auch langen, mehr oder weniger heftigen Anstiegen für den Zielwettkampf im Juli zu konditionieren. Wegen des Zeitverlusts läuft auch die Gazelle Tatjana (einmal im Leben so leichtfüßig traben können!) wieder vor mir her. Also vermag ich meinen Bericht mit mehr als reinen Landschaftsfotos zu illustrieren.

Mehr Abwechslung kann man in eine Strecke nicht packen: Einsames Gehöft … Wald … Felder … Dorf … neuerlich Wald … immer wieder auch Obstplantagen. Doch was ist das? Schon gestern auf der Herfahrt fielen mir die Gewächse auf: Halb Baum, halb Strauch, insgesamt etwa mannshoch, mit Dolden winziger weißer Blüten, stehen sie in Reih und Glied, wie einst ein Regiment k.u.k Kaiserjäger. Indem ich mich nach meinen Mitläufern umdrehe, fällt mir die Lösung ein und so brauche ich nur eine Bestätigung: „Ist das Holunder?“ Die Antwort liefert mehr als das erwartete „Ja“, beschreibt Erntezustand (als reife Beeren) und überwiegende Verwertung der Beeren (in der chemischen Industrie). Alles verstehe ich nicht, gebe somit das Gehörte hoffentlich nicht Sinn verfälschend wider.

Mehr grundverschiedene Untergründe kann man in eine Strecke nicht packen: Viele Kilometer asphaltierte Sträßchen in gutem Zustand und kaum befahren, dann Feldwege, mal grob, dann wieder fein geschottert oder gekiest. Waldwege in jedem Zustand, zuweilen auch eine Wiese oder kurze Abschnitte, die man eher einem Trail- oder Crosslauf zuordnen würde – gelangweilt fühlen sich meine Füße nie. Auch nicht vom Profil, das zwar überwiegend auf- als Intermezzo wiederholt auch abwärts führt. Die Temperatur steigt stetig und mein Schweißverlust ist hoch, darum freue ich mich über die zweite Labestelle bei Kilometer acht. Mit großem Hallo werden wir (besonders Roxi) von Babsi und den Kindern empfangen. Iso mal drei in meinen Bauch, Leckerli für Roxi, Fotos für die Kamera, gute Wünsche und ab … ab in den Sonnenschein. Fast unverschleiert brennt der Stern in der nächsten Viertelstunde vom Himmel und gibt surreale Trugbilder ein, von Iso, das rot aus Poren dringt, weil es den Magen gar nicht erst erreicht … Rauf ... nicht steil … aber immer weiter rauf …

Sonnenscheinzeit ist Fotozeit. Ich bleibe hinter Tatjana und „baue sie in meine Bilder ein“. Bilder einer uralten Kulturlandschaft, „aufgeräumt“, gepflegt, in Nähe von Ansiedlungen gar parkähnlich, vom Menschen überwiegend für land- und forstwirtschaftliche Zwecke genutzt. Meine Bilder berichten auch von kurioser Kreativität, hier üblich, bei uns in dieser Form unbekannt: Geburts- und sonstige personale Feiertage zeugen Skulpturen, gegenständlich aber grenzenlos fantasievoll. Hier beging einer seinen Sechzigsten, zu dem ihm Freunde und Bekannte aus Sperrholz ein Denkmal zimmerten.

Ein halbe Stunde später hat sich der Himmel komplett bezogen. Auch die Landschaft hat ihren Charakter verändert. Weit reicht der Blick über das steirische … na ja, jetzt schon fast Bergland. Wir laufen im Scheitel des ersten von drei Aufstiegen und kurz darauf abwärts. Von Zeiten und Tempo würde ich gerne berichten, nur achte ich heute überhaupt nicht darauf. Wozu auch. Auf Vorgaben habe ich mangels Streckenerfahrung und eingedenk des beabsichtigten Trainingslaufs verzichtet. Flott und asphaltiert geht’s runter, Roxi neben dem linken Bein, so erreichen wir eine viel befahrene Straße. Siebenhundert ebenerdig belaufene Meter weiter suchen wir Schutz unter einem großen, uralten Baum. Ein Naturdenkmal mit Sitzgruppe unter weit ausladenden Ästen, heute zur Verpflegungstelle umfunktioniert. Dieser Ort wirkt wie eine Passhöhe und bietet eine wunderschöne Aussicht, vermutlich in Laufrichtung. Tatsächlich lässt es sich einer der Helfer nicht nehmen mit ausgestrecktem Arm das Ziel anzuvisieren, ein Windrad auf der Sommeralm. Von hier nur zu erahnen, mit der Nicht-Ausdehnung eines Punktes in einer Einsattelung, weit, sehr weit entfernt. Die in seiner Stimme mitschwingende Drohung vieler, beschwerlicher Kilometer provoziert meine flapsig hingeworfene Bemerkung: „Ach dort! Das ist ja gleich da drüben! Nicht mehr weit!“ – Werden dergleichen Sprüche von ultralaufenden, mithin gestörten Geistern nicht geradezu erwartet?

Der prächtige Baum bleibt zurück, die Gewissheit das Härteste noch vor mir zu haben begleitet mich. Vergangenheit: Kilometer 17. Zukunft? Bloß nicht rechnen! Keine schlafenden mentalen Teufel wecken. Lieber den Ausblick genießen, über das vor mir liegende Tal, zum Bergrücken, auf dem auch die Sommeralm liegen muss … Der Blick erfasst Landschaft, aber auch Regenschleier, die dort drüben Himmel und Hänge verbinden. Die Hoffnung, den Lauf ohne Dusche zu beenden, sinkt praktisch gegen Null. Der Abstieg setzt sich fort, mal über angenehme, einsame Sträßchen, dann und wann im Wald, immer wieder unterbrochen von kurzen Anstiegspassagen. Neuerlich Verpflegung bei Kilometer 20, diesmal von Alex (Bernhards Lebensgefährtin) bereitgestellt. Wie von Barbara versprochen wartet auf Roxi ein Napf mit Wasser, aus dem sie gierig schlabbert.

Binnen einer Viertelstunde verdüstert sich der Himmel zur Drohung. Roxi und ich laufen durch einen Forst mit alten Fichten. Der Weg ist uneben, gespickt mit groben Steinen oder Fahrspuren, wechselt ständig die Orientierung: Entweder rauf oder runter, so gut wie gar nicht eben. Seit einiger Zeit platzen Tropfen auf meiner Haut als Warnung der Elemente: Suche Regenschutz, wer kann! Wir schlüpfen in einen dichten Tunnel aus Fichtenwald, dunkel und steil abwärts, eine gefährliche Kombination. Hoch konzentriert, um im Restlicht nicht zu stolpern, stürze ich mich den Berg hinab. Über uns beginnt es zu rauschen. Regen!

Es gießt wie aus Kannen. Der lange, kniefeindliche Abstieg endet vor einem Verpflegungspunkt. Rasch trinken, Leckerli austeilen, nach dem Weiterweg erkundigen. Dann mit zwei anderen, Roxi am Fuß, die Hauptstraße überqueren und an einer Leitplanke entlang dem strömenden Regen trotzen. In kurzen Abständen zischen Autos vorbei, riesige Wasserfahnen hinter sich her ziehend. Ein Kilometer Gegenverkehr, dann weist der ersehnte weiße Pfeil in eine ruhige Seitenstraße und … bergwärts.

Bin nass wie ein Hund. Nass wie mein Hund. Roxi trabt neben mir her, dürr, als hätte sie der Regen geschrumpft. Ein Bergmarathon quält nicht ausreichend – meinte jedenfalls Petrus und sandte den Wolkenbruch. Es tröpfelt weiter, aber zunehmend spärlicher. Ist mir egal. Ehrlich. Große Pein lässt keinen Platz für kleine, erst recht nicht für Weicheigefühle in Sachen Nässe. Ich vermag den beiden Läufern vor mir nicht zu folgen, tippele langsam aufwärts. Sehr langsam auf schweren Beinen. Beine in denen schon die Höhenmeter der ersten 25 Kilometer stecken und die Trainingseinheiten der ganzen Woche. Ständig wechselt die Steigung von steil auf noch steiler, dann wieder „nur“ steil. Asphalt gottlob. Nicht auszudenken, wenn hier holprige … So wie gegenwärtig wird es noch ein paar Kilometer weitergehen. Wie herrlich wären jetzt ein paar flache Schritte … Aber ich habe es so gewollt. Und gewusst, dass ich mich genau in diesem Zustand wiederfinden werde. Bin fixiert auf mein Ziel, brauche diese Tortur. Und ich kann das, mich quälen …

Kurze Erholung am nächsten Verpflegungspunkt bei Kilometer 27. „Noch 15 Kilometer. Geht’s denn noch? Alles Gute!“ Sie spricht leise, mit mir leidend, in unerklärlich aufbauender Weise und so setze ich der Rede ein gefühltes „nur“ hinzu: ‚Nur noch 15 Kilometer!’ Weiter. Unablässig Steigung, Kilometer um Kilometer, meist erträglich steil, seltener pulstreibende Prozente. Dichtes Gewölk lastet auf umliegenden Bergrücken, schickt Nebelfetzen über tiefer liegende Hänge. Ich behalte Roxi am Fuß, weil uns hin und wieder Autos begegnen. Von Zeit zu Zeit erneuere ich ihren Status mit einem halb gehauchten „Langsam!“. Die endlose Steigung tut weh, aber ich habe einen Rhythmus gefunden, der sie erträglich macht. Wiesen, Wäldchen, wieder Wiesen, neuerlich Bäume und häufig ein Blick auf die nasse Welt unter mir. Der Regen hat aufgehört. Wir erklettern einen Bergrücken, mühselig aber unaufhaltsam; was mich angeht, zur Unbeugsamkeit entschlossen: Alles laufend überwinden, keinen Meter gehen. Ein Dörfchen auf luftigem Grat: Salleg. Hinter der Straßenbiegung neuerliche Labsal. Mann, Frau, zwei neue Gesichter aus Kraxis Helfertruppe. Die halbe Steiermark scheint an diesem Lauf der Vierundzwanzig beteiligt. Dank und weiter.

Immer noch hinan, stetig, aber nicht mehr steil. Zwei Läufer traben hinter mir her, kommen näher, fallen zurück, nähern sich, bleiben zurück. Ziehharmonika auf dem Weg zur Sommeralm. 31 Kilometer, dann 32 und endlich wieder eben, sogar abschnittsweise Gefälle. Ich fühle mich stark beansprucht, aber gut und nichts tut weh. Also nehme ich Tempo auf, um wieder mehr dem Ebenbild des Läufers zu entsprechen. Hinter mir klatscht etwas auf die Straße. Einer der Mitläufer hat seinen Trinkgurt verloren. Laut hadernd hebt er ihn wieder auf. Muss ich mich kümmern? Der andere Begleiter, näher dran, wendet sich ihm zu. Also weiter.

Kilometer 35: Wieder Labsal, diesmal von Barbaras Schwester Conny plus Freund gereicht. Ich trinke reichlich, die inzwischen recht kühlen Temperaturen missachtend. Hundert Prozent Luftfeuchtigkeit und reichlich Höhenmeter produzieren literweise Schweiß. Ende der Erholungsphase, es geht wieder bergauf, zu Roxis Freude querbeet. Die beiden Mitläufer haben wieder zu mir aufgeschlossen. Der Wanderweg berührt eine Wiese und verschwindet dann im Wald. In Gedanken versunken trabe ich vor mich hin, habe höchstens ein Auge auf Roxi. „Halt! Hier geht’s lang!“ erreicht mich der Ruf von hinten. Glücklicherweise bin ich just in diesem Moment nicht alleine unterwegs, hätte mich ansonsten an dieser Stelle verlaufen, trotz unübersehbarer Markierung …

Durch dichten Tann, dunkel, modrig feuchter Geruch, holprig über Wurzeln, kleine Stufen, ein Abschnitt mit Crosscharakter. Waldrand bleibt zurück, Pfad endet vor einer Wiese. Nein, endet nicht! Verläuft quer über die Wiese, in deren kniehohes Gras viele Füße eine unübersehbare Schneise trampelten. Aufwärts im weichen Gras. Das kostet Körner. Zuletzt auf einen selten benutzten, darum überwucherten Fahrweg und gleich wieder schräg hinab, durch Kraut und Rüben, über Stock und Stein. Bin ich hier wirklich richtig? Ich warte eine Weile, frage die Nachfolgenden, bekomme ein „Ja“ plus Kopfnicken. Also weiter, obschon nicht völlig überzeugt, zwischen zwei Schafspferchen auf grasigem Steig. Nirgendwo eine Markierung*. Jetzt wieder aufwärts. Stolpere, rutsche aus, falle hin, kann mich aber abstützen, bleibe unversehrt. Zwanzig Schritte weiter und diverse Meter höher erreiche ich ein asphaltiertes Sträßchen. Hier gibt’s Markierungen und damit ist Läufers Welt wieder im Lot.

*) Ein quer schießender Zeitgenosse reklamierte sein Recht auf eigenen Grund und Boden. Daher musste der Wanderweg, der bis dato durch seinen Hof verlief, unterhalb in die Wiese verlegt werden. Das zwang Kraxi überraschend am Tag vor dem Lauf zu einer Kursänderung, die den Marathon zu Österreichs kürzestem Ultralauf verlängerte, wie jemand scherzhaft bemerkte. Die von Kraxi am Schafspferch angebrachten Markierungsbänder wurden entfernt, was glücklicherweise ohne Auswirkungen blieb.

Das Asphaltband strebt unbarmherzig aufwärts. Ich ringe mit meinem erschöpften Körper, fordere Laufschritte, er nur Ruhe. Dafür ist es zu früh. Noch fünf, dann noch vier Kilometer, nun pausenlos bergan. Sicher nicht so steil, wie ich es stellenweise empfinde. Oder doch? Die Straße verschwindet in Wolken und wir mit ihr. Roxi trabt neben mir, dann und wann kommen uns Autos entgegen. Im dichten Nebel sind sie spät zu hören und noch später zu sehen. Es ist Schluss mit lustig. Der Rest ist purer Kampf, wie so oft und freiwillig gesucht. Mit fast leerem Tank gegen den mitleidlosen Berg. Der macht seinen Job, einzig mit der Aufgabe betraut im Wege zu sein und sich mit Höhenmetern gegen jewede Eroberung zu wehren. Ein Weiderost, wenig später noch einer. Ich drüber weg, Roxi auf der schmalen Betonkante am Rand. Oberhalb der Straße Kühe, schemenhaft im Dunst zu erkennen, unterhalb ein Weidezaun, kunstvoll aus geschälten, schräg im Boden verankerten Stangen gefertigt. Ein abgestorbener, gespenstisch wirkender Baum schält sich aus der Suppe. Außer Stamm und einem Ansatz von Ästen blieb ihm nichts. Noch zehn Schritte, dann wieder zehn … und so fort.

Eine letzte Verpflegungsstelle, etwa einen Kilometer vor dem Ziel. Nie zuvor kehrte ich so kurz vorm Finish noch mal ein. Hier kann ich nicht anders. Ich käme mir schäbig vor, eine in diesem Mistwetter ausharrende Helferin mit der Missachtung meines Vorbeilaufens zu strafen. Ich erhalte einen Becher Iso und die beruhigende Versicherung tatsächlich kurz vorm Ziel zu sein. Weiter. Sicht zwanzig Meter, wenn überhaupt. Ein Auto nähert sich, bremst, Insassen winken. Auto stoppt, Fenster runter. Bernhard auf dem Weg zur Dusche fragt: „Wie geht’s dir?“ Ich signalisiere „Alles okay!“ und nehme wieder Fahrt auf. Nächstes Auto, Kraxi winkt, fährt ein paar Läufer zum Duschen. Ich winke zurück. Der Weg wird flacher, gleich hab ich’s geschafft. Noch über die Straße, dann im scharfen Winkel auf- und almwärts, ein Weidegatter passierend. Ich stolpere auf steinigem Untergrund, strauchele, kann mich aber (innerlich) fluchend abfangen. Rot auf Schotter geprüht: „42“. Die letzten Meter. Nichts zu erkennen im trüben Nebelmeer. Dann zwei Fahnen beidseits des Weges, dazwischen ein roter Strich. Drüber. Als wäre ein Irrtum möglich, frage ich den Zeitnehmer: „Ist das das Ziel?“ Geschafft nach 4:45:34 h. Ich trinke ein paar Becher Iso, stopfe mir eilig zwei Stücke Kuchen in den Mund, nestele für Roxi die letzten Leckerlis aus der Handgelenktasche und lasse sie aus einem Becher saufen. Alles in allem höchstens drei Minuten Verzug und schon beginne ich auf etwas über 1.400 Meter Seehöhe zu frieren …

Eine Stunde später sitzen wir – Veranstalter Kraxi samt Familie, alle Helfer und natürlich die Aktiven – ein paar Kilometer weiter im Wirtshaus und lassen uns ein Drei-Gänge-Menü schmecken (wie alles andere im Startgeld enthalten). Nach dem Essen beginnt die Siegerehrung. Nie zuvor habe ich erlebt, dass alle Aktiven aufgerufen und einzeln mit Urkunde geehrt wurden. Und nie zuvor war ich bei einem Marathon an drittletzter Stelle platziert. Das spricht weniger gegen mich, als für die Klasse der anderen Teilnehmer. Die Frauenkonkurrenz gewinnt keine geringere als die diesjährige Siegerin des Supermarathons über den Rennsteig, Karin Russ. Bei den Herren ist Oliver Pendl erfolgreich, übigens mit 3:41:31 h und zwanzig Minuten Vorsprung auf den Zweitplatzierten. Die Übrigen: Bergziegen aus Österreich und ein paar Ausdauerbolzen aus dem Rest Europas. Eckard "Rumläufer" finished auf Rang 17 mit 4:36:32 h, Bernhard auf Rang 8, 4:16:46 h, und Kraxi, nach Unterzuckeranfall, vermutlich infolge Vorbereitungshektik, auf Platz 7 mit 4:12:52 h. Auf die Siegerehrung folgt eine Verlosung. Sponsoren ließen sich nicht lumpen, deshalb tragen zwei Drittel der Teilnehmer Gewinne nach Hause: Geschenktüten mit Essbarem, Freistarts bei Marathonläufen, sogar ein Paar Laufschuhe.

Fazit zum Sommeralm Marathon

Nie zuvor habe ich an einem Marathon teilgenommen, bei dem sich von den Anfängen bis zum guten Schluss einfach alles nahtlos fügte, der mit solcher Hingabe gestaltet war und bis ins Detail ohne Pannen durchgeführt wurde. Nie zuvor standen Herzlichkeit, Kameradschaft unter Läufern und sorgsames Miteinander aller Beteiligten so im Mittelpunkt, wie dort in der Steiermark. Wir Läufer sprangen auf einen fahrenden Zug, der mit Tatkraft und unglaublicher Freude am Gelingen von Hannes und Barbara Kranixfeld aufs Gleis gesetzt wurde. Wer nicht teilnehmen konnte hat viel verpasst … kann es aber im kommenden Jahr nachholen. Der Termin für den 3. Sommeralm Marathon steht schon fest: 8. Juni 2013!

Die Strecke präsentiert eine wunderbare Kulturlandschaft, die immer wieder herrliche Aussichten übers steiermärkische Land offeriert. Selbst bei Regen oder wolkenverhangen – wie im zweiten Teil unseres Laufes – bleiben da noch reizvolle Bilder hängen.

Obwohl sich auf diesen Lauf sicher nur gut trainierte Ultras, Marathonis oder Bergspezialisten einlassen werden, also auf Dauer eine bescheidene Schar von Läufern, gibt es alles, was auch zahlenmäßig größere Marathons auszeichnet, reichlich und ohne Pannen. Akribische Streckenmarkierung, Verpflegung alle vier Kilometer, läufergerechte Getränke und eine sehr auf den Einzelnen achtende Betreuung. Die Liebe zum Detail erkennt man an Einzelheiten, die beim Lauf der Vierundzwanzig eigentlich nicht zu erwarten sind. Zum Beispiel ein offizieller Fotograf, der erstklassige Bilder schoss, oder ein Siegerpodest, um auch die Ehrung der Besten stilgerecht durchführen zu können. Jeder Teilnehmer erhielt anlässlich der Siegerehrung Urkunde und Ergebnisliste. Wir wurden zum Duschen chauffiert, dann in die Gaststätte zum Essen und letztlich zurück zum Start – Fahrten von etwa 40 Kilometern. Der Lauf erfährt eine Unterstützung von Sponsoren, Vereinsmitgliedern, Bekannten und Verwandten, die den exzellenten Ruf des Sportlers Hannes Kranixfeld in der Region widerspiegelt. Nie zuvor fiel mir der Abschied nach einem Marathon schwerer …

Fotonachweis: Bernhard Mandat, Eckard Herwig und Udo Pitsch

 

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