Einige der Fotos im Laufbericht können durch Anklicken in größerem Format betrachtet werden.
Oder hier klicken und auf das komplette Album zugreifen.

Das i-Tüpfelchen  –  Rursee Marathon 2011

Was ist schon ein Punkt? Die kleinste aller möglichen Ausdehnungen, ein Staubkorn, Minimales unmittelbar vor dem Nichts oder – wie es in Definitionen heißt – „ein nichtausgedehnter Ort“. Anders beim Schreiben. Da macht er sich wichtig, der Punkt. Beendet, leitet ein als Doppelpunkt, erzwingt phonetische Abweichungen. Und was bitte wäre das „i“ ohne sein Tüpfelchen? Ein Strich, uneindeutig, unfertig, schmucklos. Erst das Tüpfelchen macht den Konsonanten, sprechbar, hörbar und hübsch anzuschauen. Ein Buchstabe mit Pfiff. – Es ist ein Marathonläufer, dem diese Betrachtungen zum „oberen Ende“ des Buchstabens „i“ durch den Kopf gehen; eine halbe Stunde vorm Wettkampf, während er ziellos im Startbereich umher streift. Existierten Gedankenleser in der aufgekratzten Schar wartender Läufer, so bemitleideten sie ihn sicher als reichlich verwirrten Geist. Durchgeknallt! Schadet exzessives Laufen am Ende doch der geistigen Gesundheit?

Moment! Der ach so irrationale, gedankliche Schlenker hat eine Vorgeschichte: Sein Marathonjahr war hart. Bis zum Saisonhöhepunkt, einem 100 km-Lauf Anfang Juli, bremsten gesundheitliche Rückschläge. Bekannte Schmerzzustände im Rücken, bisweilen mysteriöse Schwächephasen, infolgedessen eine seelische Achterbahnfahrt. Das Finish beim 100er war hart erkämpft, aber unbestreitbar ein Erfolg – selbst, wenn er den eigenen, ehrgeizigen Maßstab anlegt. Dann verlegte er sich aufs Marathonsammeln, hatte keine Probleme mehr im Kreuz. Wunderbar! Dafür nervte der Sommer, der keiner war. Zuletzt ließ ihn nicht einmal mehr die Sonne im Stich. Nun haben wir November. Was kann man von dem Monat schon erwarten? Nässe, Kälte, Wind, Nebel, mit einiger Wahrscheinlichkeit bereits Eis und Schnee. Nicht so heute: Dieser Morgen in der nördlichen Eifel, am Rursee, in der Paar-hundert-Seelen-Gemeinde Einruhr, verspricht Sonne und komfortable Temperaturen, lockt mit wunderbarem Laufwetter. Versprechen Nummer eins.

Ein Landschaftsmarathon steht an. Laufen in tief und eng eingeschnittenen Tälern, durch Laubwälder, die in allen Schattierungen von grün über gelb nach rot und braun in der Sonne leuchten. Rund um einen Stausee mit unüberschaubar vielen Verästelungen in alle Himmelsrichtungen führt die Strecke. Unvergleichlich schöne Eindrücke warten – Versprechen Nummer zwei. Dieser Lauf hat keine „Funktion“ für unseren Marathoni, ist einfach Zählkandidat, Nummer 17 des Jahres, Nummer 83 insgesamt. Immerhin könnte er eine insgesamt schöne und erfolgreiche Saison abrunden, einen wunderbaren Schlusspunkt setzen, das i-Tüpfelchen aufs Laufjahr 2011.

Könnte! Einstweilen ist sein ganz persönliches i-Tüpfelchen nicht mehr als eine berechtigte Hoffnung. Dagegen sprechen die nicht mehr taufrische Form unseres Läufers, etliche Höhenmeter, die üblichen Unwägbarkeiten und – wie stets – sein normativer Anspruch an sich selbst: Unter vier Stunden bleiben und keinen Schritt gehen. Bleibt abzuwarten, ob solche Umstände das i-Tüpfelchen zulassen …

– – –

Eine Viertelstunde noch. In den vergangenen Minuten kippte gefühlte hundert Mal meine Bekleidungstaktik. Langes oder kurzes Hemd? Etwa 12 bis 13 Grad sind heute maximal drin. Aber erst nachmittags. Andererseits rührt sich kein Lüftchen und die innere Heizung wird mich rasch aufheizen!? Das schon, trotzdem wirst du an den Händen frieren. Inneres Für und Wider, lange Zeit unentschieden, vom Zufall moderiert: Sehe ich einen in langen Ärmeln, scheint alles klar. Trabt eine im kurzen Shirt vorbei, kommen mir wieder Zweifel. Vor offenem Kofferraum: Überhose aus, Schuhe wieder an, Doppelknoten, Trainingsjacke aus … also was jetzt?? Das Kurze trage ich bereits. Faulheit siegt, also bleibt’s dabei. Und gegen die Kälte an den Fingern streife ich mir Handschuhe über. Die werden im Hosenbund enden, sobald ich auf sie verzichten kann.

Noch zwei Minuten: Ich schlüpfe in den Pulk von etwa 400 Marathonis. Die obligatorischen Vorstartfotos und dann geht’s auch schon los. Ohne Startschuss, per Kommando, weil die Pistole versagt – beinahe hätte ich vergessen meine Uhr abzudrücken. Kaum zwei Minuten später liegen der Weiler Einruhr und vereinzelte Hände, die sich zu Beifall rührten, hinter uns. Unser Weg folgt dem Ufer des Rursees, präsentiert sich zunächst als breites Asphaltband. Vor und hinter mir entspinnen sich die üblichen Gute-Laune-Gespräche, Scherze, Witze, Anekdoten. Unwichtig. Ich habe nur Augen für die Landschaft. Sie ist … überwältigend! Wie erwartet, nur schöner. Ich denke an meine daheim gebliebene Frau und den Laufbericht, sammele Bild um Bild. Hügel und bunte Wälder spiegeln sich im glatten See. Hinter jeder Wegbiegung warten neue, idyllische Ansichten. Was für ein Geschenk! Wer es nicht als solches betrachtet, ist selber schuld.

Die erste Kilometertafel habe ich verpasst. Nummer zwei und drei sehen mich „just in time“, mein Tempo pendelt sich bei den gewünschten 5:30 min/km ein. 5:30er-Zwischenzeiten sind einfach zu überwachen und mehr ist ohnehin nicht drin. Nicht auf dieser Strecke mit ein paar markanten, in der Streckenkarte vermerkten Steigungen. Dass es schon auf den ersten Kilometern unablässig, wenngleich sanft, auf oder ab geht, habe ich nicht erwartet. Stört mich auch nicht. Ebenso wenig wie die davon ausgehende Drohung, die Ziellinie kurz vorm Koma zu erreichen. Alles unwichtig. Bin hin und weg. Unglaublich, welche Vielfalt Mutter Natur sich hier hat einfallen lassen. Natürlich setzt die Künstlichkeit des (Stau-) Sees ein Fragezeichen. Ganz kurz aber nur, denn manchmal – nicht oft, räumlich eng begrenzt und wohl auch ohne Absicht – scheint der Mensch fähig, der Schöpfung das bereits strapazierte i-Tüpfelchen aufzusetzen.

Ich atme die Landschaft, im übertragenen und im Wortsinne. Der zwischen Erde und Ästen pendelnde Blick bestätigt die Wahrnehmung der Nase: Eichenlaub! Nichts am Herbst riecht besser, nicht für mich. Überall Eichen, meine Lieblingsbäume. Keine Angst, ich flippe nicht aus. Das unangenehme, mit kantigen, bisweilen spitzen Steinen gespickte Geläuf neutralisiert den Rausch. Ich entschied mich für ältere Laufschuhe, die der zu erwartende Dreck eines Landschaftsmarathons nicht mehr versauen, nur noch adeln kann. Ein Fehler. Infolge fortgeschrittener Materialermüdung der Sohlen, spüre ich jeden Stein. Meine neuesten Treter, zufällig auch noch jene mit den dicksten Sohlen, stehen … nein nicht zu Hause, das wäre leichter zu ertragen … nur ein paar Kilometer von hier entfernt im Auto.

Ein Schlenker abseits des Ufers beschert mir bunte Aussichten: Grüne Wiesen, ein in strahlendem Gelb leuchtendes Birkenwäldchen, rotbraune Pracht auf umliegenden Höhen. Die Herrlichkeit erlaufe ich mir im Schweiß meines Angesichts, eine ganze Weile sanft aufwärts. Leicht hat es die Sonne heute nicht. Aufsteigender Morgendunst steht als dünner Wolkenschleier am zartblauen Himmel. Wenn, dann werfen wir kaum sichtbare Schatten, laufen jedoch zumeist im kühlen, ufernahen Wald. Abwärts jetzt, um die gerade eben gesammelten Höhenmeter wieder aufzugeben. Sogleich blinkt der bleierne Spiegel des Sees wieder durchs Geäst. Bin gefangen in widerstreitendem Begehren, wie es so wohl nur ein Läufer im Wettkampf empfinden kann. Will stehen und mit Muße schauen, zugleich rennen, um mich unersättlich an allen Variationen von gelb-rot-braun zu laben. Muss vorwärts, darf nicht verweilen, unerbittlich tickt die Uhr.

Wir messen einen schmalen Seitenarm des Stausees ab. Ein exzellenter Werfer träfe das gegenüberliegende Ufer mit seinem Stein. Blätter schwimmen im Wasser, verändern ihre Lage um keinen Deut. Stille, die man sehen kann. Auch im Feld ist vollkommene Ruhe eingekehrt. Gespräche sind verstummt, die Reihen haben sich gelichtet. Wo noch Trupps gemeinsam kämpfen, wird auch geschwiegen. Dumpfes Tapp-Tapp begleitet die läuferische Andacht, zuweilen untermalt vom Rascheln dicker Laubpolster. Stehen bleiben und Fotografieren … nicht oft … stetes Verlangen zwar, aber gerade deshalb selten … denn bestimmt ist die Aussicht ein paar Meter weiter noch viel reizvoller. Wahnsinn: Ein zauberhafter Blick zum gegenüberliegenden Ufer, eingerahmt von nahezu kahlen Ästen. Daran komme ich nicht vorbei. Lass sie doch ticken, die verdammte Uhr.

Jetzt fehlt mir ein Ausdruck; weniger stark als „Schrecken“. „Bestürzung“ vielleicht? Nein, noch zu heftig und „Staunen“ wäre zu schwach. Also eine Empfindung zwischen Bestürzung und Staunen ergreift mich angesichts der ersten Steigung – damit meine ich eine von den in der Streckenkarte eingezeichneten. Volkes Mund trifft’s besser: Sausteil geht’s nach oben! Erst auf breitem Weg, so dass ich problemlos an den vielen Gehern vorbei tippeln kann. Dann eine Wendung nach links und über einen schmalen Steig nach oben. Pech für Udo: Zwei Mountainbike-Tagesausflügler blockieren die Passage. Sie mühen sich schnaufend nicht zu bremsen, halten mich dennoch auf. Aus Not wird Tugend: Drei weitere Fotos wandern in den Kameraspeicher.

Kaum oben fällt der Blick auf ein imposantes Bollwerk. Die Staumauer der Urfttalsperre verbindet beide Talseiten. Apropos Seiten. Wie alle Segnungen aus Menschenhand hat auch diese Staumauer zwei Seiten. Links vollkommene Idylle, die Illusion von ungestörter, intakter Natur. Nicht mal der Mann im Kahn, der sich dort unten kräftig in die Riemen legt, vermag diesen Eindruck zu trüben. Im Gegenteil: In diesem wunderschönen „Bild“ setzt er das Tüpfelchen aufs „i“. Aber es gibt auch die Kehr-, die rückwärtige Seite des Damms. Diesem Teil der Seenlandschaft mangelt es gewaltig am nassen Element. Der Wasserspiegel steht etwa 10 bis 15 Meter unter Maximum. Beim Absinken hinterließ er eine steinig steile, düstere Uferzone. Ein bisschen Mond auf Erden, öde, abweisend, wider die Natur. Das System der Talsperren dient der Trinkwasserversorgung. Wer verbraucht so gigantische Mengen an Trinkwasser? Die Region? Das nahe Aachen? Die fernere Stadt Köln? Alle zusammen? Wieso fehlt überhaupt Wasser nach diesem verregneten Sommer?

Mit ungeklärten Fragen im Kopf erreiche ich den ersten Verpflegungspunkt am anderen Ende der Mauerkrone. Kilometer sieben. Ein Becher Wasser nebst mitgeführtem Beutelchen Gel stärken für den nächsten Abschnitt. Der beginnt angenehm leichtfüßig im steten Gefälle, zwei, vielleicht drei Minuten auf festem, ebenem Untergrund und im Farbenrausch eines jungen Laubwaldes. Kann man zeitweise an gar nichts denken? Automatisch handeln, sehen, hören, riechen, spüren, aber keine Gedanken fassen? Ich glaube, dass es mir hier mehrfach, wenn auch nur für Sekunden, gelingt und jedes Mal mit einem lautlosen Ausruf endet: Wundervoll! Märchenhaft! Unvergleichlich! Berückend! Hinreißend schön!

Dann ist das Niveau des Rursees wieder erreicht und ich trabe direkt am Ufer. Sonnenstrahlen blitzen durch Äste, bringen Blätter zum Leuchten, erzeugen Reflexe auf unbewegtem Wasser. Ich kann einfach nicht anders, als immer wieder diese Herrlichkeit mit meiner Kamera einzufangen. Das kostet Kraft, weil ich mich nach jedem Neustart an die Fersen derselben Mitläufer hefte, sie manchmal sogar überhole. Einige Sekunden überhöhtes Tempo, taktisch unklug, für den „laufenden Reporter“ aber zwingend erforderlich, wenn er Läufer mit im Bild haben will.

Nach knapp 11 Kilometern erreichen wir die nächste Staumauer, die den „Oberen See“ von der tiefer gelegenen Rurtalsperre trennt. Hier teilt sich die Strecke. Für die Läufer des 16,5 Km-Laufes (Start eine halbe Stunde nach uns) geht’s via Mauerkrone in Richtung Ziel. Unser Weg wendet sich nach rechts und sofort suchen meine Augen den See. Doch der macht sich rar. Erneut fehlen Unmengen an Wasser, hinterließ der fallende Pegel ein nacktes, diesmal sandig hellgraues Ufer. Stege samt Schwimmkörpern und vertäuten Kähnen liegen auf dem Trockenen. Im oberen Bereich ausgeprägt flacher Uferzonen zeigt sich bereits schwaches Grün. Auf eine solche „Wüstenei“ war ich nicht vorbereitet. Ich bin enttäuscht von demaskierter, allzu offensichtlicher Künstlichkeit, vom Gegensatz zwischen Funktion und vollkommener Schönheit.

Eine ewig lange, dafür harmlose Steigung gibt mir Zeit mich an die Bilder zu gewöhnen. Dann wendet sich der Weg vom Ufer ab, durchquert den Wald. Aromatische Düfte von feuchtem Herbstlaub und Kräutern ziehen durch meine Nase. Immer wieder bricht die Sonne durchs lichte Geäst, frischt die Palette herbstlicher Farben auf. War da etwas mit dem See nicht in Ordnung? Ach was! Wie kann man anders, als mit Freude durch diesen Herbstwald traben?

Im Kopf stimmt also alles, in den Beinen dafür wenig. Ein bisschen müde sind sie schon, aber nicht nur das. Meine Achillessehnen nörgeln abwechselnd, manchmal auch im Duett – Folge der abschnittsweise üblen Bodenbeschaffenheit, jener bereits erwähnten kantigen Steine. Auch die reichlich früh verhärtete Waden- und Gesäßmuskulatur fühlt sich attackiert und droht mit Konsequenzen, falls ich den Quatsch mit der Lauferei nicht bald einstelle. Basierend auf einer Mixtur aus Erfahrung, Gottvertrauen und Sturheit, reagiere ich wie immer, nämlich gar nicht. Ich werde diesen Marathon ebenso erfolgreich durchstehen wie alle andern zuvor!

Eine weitere markante Steigung endet vor einem Verpflegungspunkt und der Kilometertafel mit der 19. Nur ein paar Schritte weiter ändert der Kurs seinen Charakter: Vom Waldweg wechseln wir an den Rand einer Straße, die uns alsbald auf den gewaltigen Damm der Rurtalsperre bringt. Blieb dem Blick die Weite bisher meist verwehrt, so erfasst er nun die wahren Ausmaße des riesigen Staubeckens. An den „unschönen“, nackten Rand der Wanne habe ich mich inzwischen gewöhnt. Nur eine biblische Sintflut scheint in der Lage die fehlenden 10 bis 20 (?) Meter Wasserstand wieder aufzufüllen. Zwei weiße Passagierschiffe liegen unterhalb der Staumauer einträchtig nebeneinander vertäut. Vermutlich dümpeln sie dort schon einige Zeit im winterfesten Habitus. Schließlich ist auf Wärmekapriolen sonniger Novemberwochenenden und daraus resultierenden Besucherströmen kein Verlass.

Am Ende der Staumauer wendet sich die Straße nach Osten ins Irgendwo des Nationalparks Eifel. Wir folgen dem breiten Uferweg, zunächst über Asphalt, alsbald auf staubig trockenem, aber erfreulich ebenem Schotter. Die halbe Strecke liegt hinter mir. Ich halte Tempo, ohne mich über Gebühr zu fordern, fühle mich körperlich gleichwohl schon arg „derangiert“. So recht dringt das nicht durch, denn Geist und Stimmung bewegen sich in ganz anderen Sphären. Ich aale mich in der Sonne, genieße die Wärme des jungen Nachmittags und blinzele in dieses wunderbare, unwirkliche Licht. Vom Dunst vielfach gebrochen dringt es in jeden Winkel, verhindert harte Schatten, neckt sogar mit ein bisschen Illusion von italienischem Sommer. Steile Treppenkonstruktionen führen vom Wegrand schier endlos in die Tiefe, kleben am nackten Fels, enden vor schwimmenden, ringförmig angelegten Stegen. Ohne die bereits ins Winterquartier verbrachten Boote wirken sie wie Raumschiffe nach der Notwasserung. Ständig gibt es Neues zu entdecken oder mindestens Bekanntes in anderem Blickwinkel. Zeitweise vergesse ich mein eigentliches Ziel. Mit geschärften Sinnen laufe ich, erfahre das Wesen dieser Landschaft, bin Teil davon. Ich folge einem vorgegebenen Pfad und wundere mich wie rasch die Kilometertafeln einander ablösen.

Mein Bekleidungskonzept mit kurzem Hemd ist aufgegangen. Auf der ersten Etappe überkam mich zwar hin und wieder ein Frösteln, doch ein Langarmshirt brächte mich spätestens jetzt mächtig ins Schwitzen und dann ganz langsam um. Ach ja, die Handschuhe. Die hab’ ich völlig vergessen, brauche sie natürlich längst nicht mehr. Also runter damit. Untern Hosenbund geklemmt überdauern sie die zweite Hälfte der Rursee-Runde.

Warst du je im „Runners High“ unterwegs? Mir war nie vergönnt in diesem Zustand endorphiner Verzückung ein paar Kilometer abzuspulen. Und doch vermisse ich es nicht. Wie kann man vermissen, was man nicht kennt?, wirst du womöglich einwenden. Also gut, lass es mich anders formulieren: Ich empfinde keinen Neid, wenn Läufer vom Rausch des „Runners High“ erzählen. Wahrscheinlich liegt das daran, dass mir in Training und Wettkampf häufig andere Formen von Hochstimmung widerfahren. Wenn ich aufbreche, gibt es weder eine Garantie das zu erleben, noch kristallisiert mein Läuferglück stets an denselben Begebenheiten. Schöne Landschaften, tolle Stadtansichten oder Sonnenschein spielten oft eine Rolle, manchmal die frühe Gewissheit eines Erfolgs oder das Bewusstsein etwas für meine Verhältnisse Außerordentliches zu leisten. Auch die Verwicklung in den Sieg eines anderen Läufers vermag mich mitzureißen, wie zuletzt in Dresden. Und worin besteht der Zauber heute? Ich sammele einzigartige Bilder, genieße Farben und Düfte, bin getrieben von freudiger Spannung, was mich wohl hinter der nächsten Wegbiegung erwartet. Ich bin eins mit dem was ich tue und wie ich es tue.

Selten war mir der Weg mehr das Ziel als hier. Kein Wunder also, dass mir die objektiv lange und beschwerliche Route am Nordrand des Rursees, die Kilometer 20 bis 30, so kurz vorkommen. Im Ziel hörte ich einen Läufer stöhnen, wie sehr ihm die vielen Ausbuchtungen und Zipfel des Kurses mental zusetzten. Ich empfinde es anders, begrüße jede Kurve, jeden Baum, jede nur erdenkliche Ansicht. Daran können nicht mal die vermaledeiten Steine etwas ändern, die zunehmend meine Füße martern.

Ich falle auf. Allein schon, weil mein Trikot die weite Anreise verrät. Aber auch das ständige Fotografieren stempelt mich zum Sonderling. Als ich den Mann das ich-weiß-nicht-wie-vielte-Mal nach einem Klick überhole, lacht er nur und meint: „Da ist wieder der rasende Reporter aus Augsburg.“ Stundenlanges Schweigen lähmt meine Dialogfunktion, spontan fällt mir keine Erwiderung ein. Damit Augsburger in diesem Teil des Landes künftig nicht als unhöfliche Stoffel gelten, ringe ich mir mit einiger Verzögerung die Bemerkung ab, man müsse schließlich von so einem Erlebnis Bilder mit nach Hause nehmen.

Die Zivilisation hat uns wieder. Es beginnt etwa bei Kilometer 30 mit eher einsam und versteckt gelegenen Anwesen und findet in Dorfstraßen seinen Fortgang. Die Abwechslung ist willkommen, der glatte Asphalt unter den Füßen sowieso. Nur leider gibt es nichts im Leben umsonst. Wir bezahlen mit mehreren Anstiegen, die ich, ungeachtet ihrer tatsächlichen Neigung, samt und sonders als anstrengend empfinde. Nach langem Flug auf Wolke 7 setze ich in diesen Minuten zur Landung an. Was bleibt, ist der „Auftrag“: Noch zehn Kilometer das Tempo durchstehen und unter vier Stunden finishen! Aufwärts tippeln fühlt sich hart an, danach wieder runter schlappen aber auch, zumal in steileren Passagen. Da jault es aus Körperecken, die man sonst nie wahrnimmt.

Nomen est Omen: In der Ortschaft Ruhrberg scheinen ebenerdige Wege nicht vorzukommen. Rauf, runter, rauf, runter – mal länger, dann wieder kürzer und ich merke wie es mir zusetzt. Schließlich doch noch flacher, erholsamer Asphalt, eine Art Uferpromenade am Ortsrand. Die bringt uns nach wenigen Minuten zum ersten von zwei rechtwinklig zueinander angeordneten Dämmen. Der linke trennt den tiefer liegenden Rursee vom Oberen See. Den Sinn des rechten Damms, über den ich jetzt, von Beifall unterstützt, wetze, vermag ich nicht zu enträtseln. Vor allem, weil er nur ein vergleichsweise kleines, offenbar nicht mal tiefes Becken abteilt*.


*) Die von Rur und Urft gespeisten Stauseen dienen der Trinkwasserversorgung, deshalb gilt Badeverbot. Das vom Eiserbachdamm abgeteilte kleine Becken wird dagegen als Badesee genutzt.


Keine hundert Meter hinter dem Damm geht’s rauf. Steil rauf. Sehr steil. Nicht so schlimm urteile ich auf den ersten, angenehm asphaltierten Metern, das packe ich schon. Geht ihr nur, ich will laufen. So denke ich auch ein Stück weiter noch, in Höhe der Kilometertafel 37. Aber dann kommt es knüppeldick: Vom Asphalt wechseln die Füße auf einen der bisher steinigsten Abschnitte. Blanker Unsinn, dennoch hast du das Gefühl, die scharfkantigen, spitzen Brocken wurden hier extra für den Lauf verbuddelt. Aua! Sturheit erzeugt Leiden. Okay akzeptiert, ich will nun mal nicht gehen. Also steppe ich weiter aufwärts, mit der Schrittlänge eines Gockels und riskiere einen Blick. Weit kann’s ja nicht mehr sein. Das hätte ich lassen sollen, denn ein Ende ist nicht abzusehen und steiler wird’s auch noch. Verflucht tut das weh! Nach siebenunddreißig Kilometern so ein Mörderberg. Keuchend durch ein Wäldchen, Blut rauscht in den Ohren. Halt durch! Nicht mehr weit! Ich höre Anfeuerungsgeschrei, sehe endlich zum Ende der Tortur. Noch dreißig Meter büßen, zwanzig, zehn und dann ist es geschafft.

Das Fegefeuer gilt als Vorhof zur Hölle. Darin geläuterte Seelen dürfen in den Himmel. Uns armen Sündern wird diese Gnade schon auf Erden zuteil. Wir haben unsere Missetaten gesühnt und spazieren übergangslos ins Paradies: Eine grüne Aue in lichter Höhe, gerahmt in buntem Herbst unter blauem Himmel. So wie der Schmerz nachlässt, kehrt das Schwärmen zurück. Mehrmals bleibe ich stehen, will alle Ansichten einfangen. Alles toll, alles himmlisch, bis auf den Geruch. Pünktlich zum Marathon spendierte Bauer Bolle den Inhalt seiner Güllegrube. Querbeet über die Wiese und Bauer Bolles Geschenk wenden wir uns abwärts Richtung Wasser.

Nur ein dünner gelb-brauner Vorhang trennt uns vom See und die lächerliche Distanz verbleibender vier Kilometer vom Ziel. Der Rest ist ein Kinderspiel – jedenfalls entspricht das meiner Erwartung. Ein paar Prüfungen gilt es dann aber doch noch zu bestehen. Die erste besteht aus einer steil nach unten führenden, in den Fels gehauenen S-Kurve. Noch einmal bin ich konzentriert bis in die Haarspitzen. Ein falscher Schritt und … nicht auszudenken! Tempo geht hier nicht. Mit so weichen Beinen schon gar nicht. Es fühlt sich an, als wollten die groben Steine meinen Füßen augenblicklich den Rest geben. „Es ist ein Gefühl, wie mit nackten Füßen über verstreute Legosteine zu latschen; nachts, wenn ich ins Zimmer meines Sohnes schleiche, um nach ihm zu sehen.“ So wird später im Ziel ein Läufer sein Empfinden auf den vielen steinigen Passagen ausdrücken. Sekunden nur, dann bin ich unten und atme auf.

Kilometer 39: Ich bin ziemlich fertig. Ein Blick zur Uhr beruhigt und lässt mich Tempo raus nehmen. Wer jetzt noch verhindern wollte, dass ich unter vier Stunden über die Ziellinie laufe, müsste mich schon an einen der Bäume fesseln. Noch ein „Anstiegelchen“. Nicht steil, nicht weit, trotzdem hart. Kilometer 40. Der Wald bleibt zurück und trotz fortgeschrittener Entkräftung springt mich noch einmal pures Entzücken an. Was für eine Aussicht! Wasser und Wald, Wiese und Hügel, Himmel und Erde, einfach überwältigend. Natürlich macht es mir die Schwäche leichter. Letztlich bleibe ich aber nur der Aussicht zuliebe stehen und opfere eine halbe Minute für die letzten Aufnahmen.

Erschöpft und langsam weiter. Blick zur Uhr: Keine Panik, mir bleiben mehr als 10 Minuten für den letzten Kilometer. Vom anderen Ufer sind bereits Fetzen des Zielkommentars zu hören, als ich mit einem ergebenen „Oh nein!“ gegen eine letzte, ziemlich brutale Steigung ankämpfe. Hundert Meter und dann noch mal hundert. Geschafft. Wieder hinunter zum Ufer. Selbstverständlich sieht das Drehbuch auf diesen paar Metern bösartig spitze Steine vor! Wann taten mir je die Füße so weh? Ein Satz saust durchs Oberstübchen: Das Leiden vergeht, der Stolz bleibt. Ich fand den Spruch schon immer ein bisschen doof, vor allem irreführend. Nicht immer vergeht das Leiden. Man kann auch auf die Schnauze fallen oder sich durch extreme Überanstrengung gefährlich schädigen. Nicht zu ändern und gleich geschafft. Noch ein paar Meter am Ufer und über die Brücke nach Einruhr. Zuletzt eine Spitzkehre und schon öffnet sich der Zielkanal. Hinter mir vernehme ich die typischen Geräusche eines Endspurts. Erst will ich dagegen halten … aber wozu? Ich lasse ihn vorbei und genieße mit Bedacht die letzten Marathonschritte in diesem Jahr. Über die Ziellinie und dann ist es gesetzt, das Tüpfelchen auf meinem „i“!

Ergebnis: 3:57:17 h, Platz 125 von 360, Platz 9 von 36 in M55

Veranstaltungsfazit:

Eine der schönsten Landschaftsstrecken Deutschlands erwartet dich am Rursee! Bei Sonnenschein entfaltet der Nationalpark Eifel um diese Jahreszeit einen Zauber, der sich kaum in Worte fassen lässt. 370 Höhenmeter und abschnittsweise grob-steinige Bodenverhältnisse sollte man allerdings nicht unterschätzen. Der schwierigste und härteste Abschnitt beginnt etwa bei Kilometer 32. Also unbedingt mehr Körner aufbewahren, als sonst bei einem Marathon üblich.

Die Organisation zeigte keinerlei Schwächen. Lediglich die Zielverpflegung könnte man verbessern. Dafür entschädigte das Langarm- (!) Funktionsshirt im Startpaket.

Prädikat: „Gerne und jederzeit wieder!“ Oder: „Hinfahren und genießen!“

 

Wir über uns Gästebuch Trekkingseiten Ines' Seite Haftung
logo-links logo-rechts

zum Seitenanfang