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Sonnenkult   –   Bottwartal Marathon 2011

Es geht mir gut. Und die laute Musik passt zu meiner Stimmung. So laut genieße ich sie nur im Auto und alleine. Bedächtig lenke ich die rollende Stereoanlage heimwärts, Richtung Osten, über die Autobahn 8 und passiere gerade den hügeligen Abschnitt zwischen Ulm und Augsburg. Rauf, runter, rauf, runter im Minutentakt, gegen Viertel nach sechs an einem Oktobersonntag. Nicht mehr Tag und noch nicht Nacht. Der erhabene Augenblick trifft mich unvorbereitet, mit Wucht, reißt mich in einen wahren Strudel aus Gefühlen und Gedanken. Einer von hundert Kontrollblicken in den Rückspiegel: Die Sonne steht blutrot und dicht über dem Horizont, überzieht den Himmel mit verheißungsvollem Dämmerlicht. Abendrot. Dankbarkeit für einen goldenen Oktobersonntag erfüllt mich, für süße auf Marathonpfaden vergossene Schweißtropfen. Oh ja, ich bin ein Sonnenmensch! Ich liebe die Sonne; wie sehr spüre ich in solchen Momenten. Überraschende, ungewohnte Gedanken streifen die Empfindung und ich meine zu verstehen: Vor 2.000 Jahren und unaufgeklärt wäre ich ihr verfallen, hätte sie angebetet. Auch mir wäre Re, Sonnengott der alten Ägypter, Anfang und Ende allen Seins gewesen.

Ein magischer Moment im rationalen dritten Jahrtausend; geschehen, wo ihn niemand erwartet hätte, inmitten einer nüchternen Autobahnfahrt. Schon ein Marathonsieg in den Beinen und nun auch noch das. Wunderbar. Im Radio läuft gerade „Called Out In The Dark“ von Snow Patrol. Geniales Lied, starker Text …

Show me now, show me the arms aloft
Every eye trained on a different star
This magic
This drunken semaphore
And I

We are listening
And we're not blind
This is your life
This is your time

Ich erhöhe die Lautstärke bis knapp unter die Schmerzgrenze und fliege heimwärts. Noch aufmerksamer als zuvor achte ich auf die zahlreichen Tempolimits. Nichts darf diesen wundervollen Tagesausklang trüben, ein lauernder Blitzer schon gar nicht. Vorhin ging’s mir gut, jetzt bin ich freudetrunken …

– – –

9:15 Uhr: Vorfreude und Bedenken halten die Waage im Gleichgewicht. Seit zwei Stunden rausche ich gen Bottwartal, durch einen Oktobermorgen wie ihn bunter und schöner kein Maler aus seiner Palette zaubern könnte. Ein Marathon in der Sonne erwartet mich! Wie üblich will ich unter vier Stunden bleiben; kein knechtendes Zeitziel, das sollte zu schaffen sein. Weshalb dann Bedenken? Das Thermometer reckt die Nase mit Ach und Krach gerade mal über die Fünf-Grad-Marke. Also langärmlig laufen? Och, nöööh :-(  Außer Form bin ich mittlerweile auch – jedenfalls an eigenen Maßstäben gemessen. Urlaub, Bergtouren (jedes Mal Trainingsausfall infolge Muskelkater) und andere Störfaktoren verzehrten Stück um Stück der noch im Frühsommer bombigen Ausdauer. Zudem ließen die unregelmäßig anstehenden Marathons kein sinnvolles, Ausdauer bewahrendes Trainingsgeschehen zu. Keinem Ehrgeizling meiner Prägung wird gefallen, für einen knapp Sub4h beendeten Marathon kämpfen zu müssen. Aber so wird es wohl kommen …

9:40 Uhr: Nach hauptsächlich selbst verschuldetem Umherirren in den Katakomben der Weinkellerei Großbottwar, in Tateinheit mit dreimalig ansatzweisem Anstellen in der falschen Warteschlange, bekomme ich flugs mein Startpaket und werde dann auch noch wie erhofft zur Runde der Foris gelotst. Ein paar Minuten fliegen Sätze in Läuferlatein hin und her, bevor mich notwendige Startvorbereitungen zum Parkplatz treiben.

10:30 Uhr: Den ersten Start der schnelleren Läufer mit rot unterlegter Startnummer versäume ich. Macht nix. Mein Platz ist im grünen Block, davor gehen noch die Läufer mit blauer Startnummer auf die Reise. Die Blöcke werden mit fünfminütigem Versatz auf die Strecke geschickt.

10:36 Uhr: Die letzten Blauen strömen vorbei. Ich klettere über die seitliche Absperrung, stelle mich ein paar Meter hinter der Startlinie an den Rand und halte nach bekannten Gesichtern Ausschau. Fehlanzeige. Also werde ich den Kurs ohne Geleitschutz absolvieren. Ich blinzele über Läuferköpfe hinweg in die Sonne, was mein Frösteln ein bisschen reduziert. Zu guter (?) Letzt habe ich mich für die kurzärmlige Variante entschieden, weil sich kaum ein Lüftchen regt und schneidend kalte Schattenpassagen die Ausnahme sein werden. Die neben mir postierten Zugläufer 4:30 h irritieren ein wenig. Nun gut, grüne und gelbe Startnummern, die vereinigten Fraktionen „lahme Enten“ und „Schnecken“, sind im letzten Startblock zusammengefasst. Aber was hat der 4:30h-Pacer hier vorne verloren? Der wird seinen Klienten nach dem Start hundert oder mehr Meter voraus sein. Viele werden versuchen diesen Abstand so rasch wie möglich zu verkürzen und dabei in der Anfangsphase erheblich zu schnell laufen. Die Folge: Raubbau an den Kohlenhydratvorräten in der Muskulatur. Energie, die sie kurz vor Schluss dringend bräuchten … Der Einpeitscher am Mikro hakt ein Ritual nach dem anderen ab. Jetzt sind die zum rhythmischen Klatschen erhobenen Hände dran, zuletzt der Countdown, ein Chor aus vielen erwartungsvollen Stimmen …

Die ersten Kilometer laufe ich zu schnell. Vielleicht, weil sich mein Körper mehr Wärme von innen erhofft, um endlich die Gänsehaut loszuwerden. Wahrscheinlich hemmen Kälte und welliges Gelände die Entfaltung des Tempogefühls. Ach, was soll’s? So gravierend liege ich nicht daneben, das wird sich einpendeln. Schon hier fange ich wunderschöne Bilder ein: Sanfte Hügel, Felder und Wiesen mit Obstbäumen, alles überragt von einem Weinberg. Auf dessen Kuppe zeichnet sich die markante Silhouette einer Burganlage vor azurblauem Morgenhimmel ab. Auch die von der Bottwar geschaffene Auenlandschaft, noch immer grün, aber mit unübersehbar herbstlichen Akzenten, ist Labsal für die Augen.

Meine Beine lassen sich nicht mit Lauflust impfen. Sie vermitteln ein Empfinden, als wäre ich schon gestern auf Marathonpfaden unterwegs gewesen. Zu viele Kilometer und während einer Einheit auch zu schnell – mein Training dieser Woche steht sicher nicht im Lehrbuch unter der Rubrik „sinnvolles Tapering“. Aber ich musste dem weiteren Ausdauerverlust vorbeugen, mich fordern. Immerhin will ich am kommenden Wochenende noch in Dresden laufen und Anfang November mein Jahresprogramm mit dem Rurseemarathon in der Eifel abschließen. Das Schimpfen meines Laufapparates ertrage ich gelassen. Wer Marathons als Trainingsläufe absolviert und sammelt wie andere Briefmarken, gewöhnt sich daran.

„Musik wird störend oft empfunden, weil sie stets mit Geräusch verbunden“, reimte einst Wilhelm Busch. Wie mögen die bedauernswerten Anwohner bei Kilometer drei über diese Laufveranstaltung denken, wo uns dumpfe Trommeln und anderes Schlagwerk mit südamerikanischen Rhythmen Beine machen? Oder jene Unbeteiligten, zehn Minuten später, die ihren beschaulichen Sonntagmorgen unbarmherzig hingemeuchelt sehen – pardon! – hören; in rohester Weise zerstört von mehreren Kilowatt harter Rockakkorde. Mein Gott sind die jung! Songs erklingen, doppelt so alt wie die Rock-Bubis hinter Gitarre und Schlagzeug.

Ein paar versprengte Zuschauer standen bisher schon Spalier. Doch hier im Örtchen Gronau erwartet uns eine vielköpfige Gute-Laune-Maschine. Mit tiefsinnigen Bemerkungen wie „Ja! Das macht Spaß!“ hält der Einpeitscher das Schwungrad auf hoher Drehzahl, fordert in kurzen Abständen eine „La Ola“ nach der anderen. Endgültig und bis in die letzte Körperzelle geweckt entkomme ich durch eine schmale Gasse, die die vor Begeisterung rasende Meute uns Läufern noch lässt. Ein paar hübsche, gut erhaltene Fachwerkhäuser hat der Ort auch zu bieten, bevor uns das nächste opto-akustische Spektakel erwartet. Quer zur Laufrichtung und über unseren Köpfen spannt sich eine mit Bottwartal-Marathon-Shirts behängte Leine über die Straße. Daneben prügelt eine Handvoll kreischender Zuschauer mit Holzscheiten auf alte Metallwannen ein und produziert einen derart infernalischen Lärm als drohte das Jüngste Gericht. Euphorisches Publikum ist mir nicht fremd. Aber die hier „randalieren“ als gälte es Beelzebub höchstpersönlich aus dem Dorf zu jagen. – Erst im Ziel, von einem Interviewer danach befragt, welches Dorf an der Strecke am ehesten den Publikumspreis verdient hätte, begreife ich die punktuelle Raserei.

Gronau verabschiedet uns nicht mit Radau, stattdessen über einen der forderndsten Anstiege des ganzen Kurses. Zweihundert Meter auf Asphalt, undramatisch eigentlich, dennoch nehme ich das Hindernis vorsorglich mit kleinen Schritten. Denn: 2004 lief ich diese Nordschleife als Test-Wettkampf vor dem Florenz Marathon. Damals war der Halbmarathon gespickt mit heftigen Anstiegen. Seither hat man der Nordschleife die Zähne anlässlich mehrerer „Strecken-OP’s“ gezogen – las ich. Aber wer weiß, vielleicht haben sie ja noch einen Giftzahn übersehen …

Idylle pur: Das Dorf Schmidhausen duckt sich in eine Mulde zwischen Weinbergen und landwirtschaftlich genutzten Hügeln. Als ausladend in S-Form geschwungenes Band streben Läufer auf die Ortschaft zu, schwenken davor nach rechts, in großzügiger Schleife drum herum und zuletzt hindurch. Mehrmals wechseln Blickrichtung und Ansichten. Es dominieren die Farben Grün, erdiges Hellbraun gepflügter Äcker und Blau. Sonne blitzt mir in die Augen, wärmt mir die Seele. Wie es meinen Beinen geht? Als wenn das Bedeutung hätte unter diesem Himmel!

An der 10 km-Tafel trabe ich etwa anderthalb Minuten zu früh vorbei. Zu früh? – wer will das beurteilen. In Wahrheit liegt meiner Schlagzahl eine recht ungenaue Selbsteinschätzung der aktuellen Marathon-Ausdauer zu Grunde. ‚Wird schon passen!’ denke ich und staune über den ungewohnten Anflug von Fatalismus. Die Sonne lacht! Alles wird sich fügen, alles wird gut … Ihr Sonnenflüchter unter den Läufern mögt den Kopf schütteln, kernige Naturburschen mich ein Weichei heißen; doch von allen Umständen eines Laufes ist mir Sonnenschein der wichtigste. Das war nicht immer so. Eine generelle Folge des Älterwerdens? Oder eine Art mentaler Abnutzung? Wer leistungsorientiert läuft, findet sich beinahe täglich draußen wieder, mit wenig Aussicht Trainingseinheiten zu schieben, „if it’s raining cats and dogs“. So einer dauerläuft, fahrtspielt, intervallt bei jedem (Mist-) Wetter, trotzt monatelang Kälte, Wind, Eis und Schnee. Mir setzt das zu, nimmt großen Einfluss auf meine Stimmungslage.

Zauberhaft! Schon wieder eine Burganlage über den Hängen eines mit Reben bepflanzten Hangs. Sicher einen Kilometer weit halten wir drauf zu, und meine Kamera kommt nicht mehr zur Ruh’. Reimen will ich nicht, obschon es dieser prächtige Anblick oberhalb des Örtchens Beilstein verdient hätte. Wettkampfgeschehen registriere ich nur beiläufig: Schnellere Marathonis, die uns entgegen kommen, die Schleife durch Beilstein also schon hinter sich haben. Streckenposten neben Mobilklo, sicher mit der Aufgabe betraut, etwaige Betrüger am Abkürzen zu hindern. Doch wie will er das garantieren? Was, wenn ich mich für einige Zeit in dieser Zelle aus Kunststoff verbarrikadiere und danach in die unsportliche Richtung laufe?

Sekunden später hört der Gegenverkehr auf und der lange Umlauf durch Beilstein beginnt. Nach jeder Richtungsänderung suche ich die Burg und die alten Fachwerkhäuser auf halber Höhe darunter. Und oft bleiben meine Augen an diesem Blickfang kleben, erfreuen sich an immer wieder neuen Perspektiven. Wie soll ich wissen, welche der Ansichten auf einem Foto am meisten Eindruck schindet? Kann mich nicht entscheiden, fange sie darum alle ein.

Beilstein bleibt zurück, 17 Kilometer sind gelaufen. Es geht leicht abwärts, genau nach Süden, der Sonne entgegen. Inneres Unbehagen vermag ich nun nicht länger zu ignorieren. Erstens bin ich müde. Das ist zwar kein Grund am Finish zu zweifeln, aber so früh die Anstrengung zu spüren knabbert an der Lauflust. Zweitens „zieht es“ seit geraumer Zeit im Bereich Gesäß und Hüfte links. Auch nicht unbedingt ein Quell überschäumender Lauffreude. Und drittens weht jetzt leichter Gegenwind, der mir eiskalte Schauer über Hals und Arme jagt.

Zum Glück halten die Häuserfluchten von Oberstenfeld schon kurze Zeit später die Brise fern, das erleichtert die Aufgabe. Auch hier hat sich am zentralen Platz einiges Volk zum Applaudieren eingefunden. Den Zaungästen bleibt auch gar nichts anderes übrig als zu jubeln, weil sie von der temperamentvollen Stimme eines Kommentators mitgerissen werden. Nur ein paar Meter weiter und schon hält wieder beschauliche Sonntagsruhe Einkehr. Einzig unser Getrappel, bisweilen ein angestrengtes Schnaufen und Fahrgeräusche von benachbarten Straßen stören den Frieden. Eine Straße gilt es nun zu überqueren: In enger 360°-Spirale nach oben, über die Brücke und zuletzt auf einer zweiten Spirale wieder nach unten. Eine nette Übung, ein kurzweiliger Kontrast zum ewigen Mehr-oder-weniger-Geradeaus-Lauf.

Wir wechselten mehrmals brachial die Laufrichtung und arbeiteten Schleife um Schleife, Dorf um Dorf, ab. Dabei kam mir die Orientierung abhanden. Doch irgendwann bin ich sicher, den Weg bereits in Gegenrichtung gelaufen zu sein. 19 Kilometer: Roboterhaft kontrolliere ich bei jeder Km-Tafel Tempo und Laufzeit; eine in unzähligen Trainings und Wettkämpfen fest einprogrammierte Routine, die erst in dauerhaften Schwächephasen aussetzt, wenn Zeitvorgaben ihren Sinn verlieren. Also der Blick zur Uhr: Meine Pace blieb konstant und ist damit auch jetzt noch zu forsch.

Zurück in Großbottwar, zurück im Start-Ziel-Bereich. Etliche Zuschauer applaudieren – ihr Beifall gilt vor allem den Halbmarathonis, die jetzt dutzendweise das Ziel erreichen. Ein Streckenposten wiederholt unablässig die Weisung: „Marathon erst über die Matte und dann rechts!“ Der redet sich den Mund fusselig, bis alle Marathonis durch sind … obwohl, so viele sind das gar nicht. Hundert Schritte hinter dem Ziel überkommt einen unwillkürlich das Gefühl, als wäre die Veranstaltung beendet. Drei, höchstens vier einsame Läufer traben in weitem Abstand vor mir her. Die Blockstarts mit jeweils fünf Minuten Versatz können diese „Ausdünnung“ nicht befriedigend erklären. Später bestätigt die Ergebnisliste meinen Verdacht: Lediglich 400 Frauen und Männer sind auf der Marathonstrecke unterwegs. 400 von mehreren tausend Teilnehmern. Der Trend, eher einen halben als den ganzen Marathon zu laufen, hält offensichtlich an. Eine Entwicklung, die ich im Grundsatz gutheiße. Nur wer genügend Zeit und Konzentration für das umfangreiche Marathontraining aufbringt, sollte sich auf die volle Distanz wagen – seiner Gesundheit zuliebe.

Ein Schlenker nach rechts bringt mich in die Ortsmitte von Großbottwar und unversehens weiten sich die Augen. Fachwerkromantik vom Feinsten! Die ungemein prachtvolle Giebelfassade des Rathauses erstrahlt in kräftigen Farben wie frisch gestrichen. Eiligst bringe ich mich in Fotoposition. Einerseits, weil ich ein Exemplar der seltenen „Spezies“ Marathonläufer mit im Bild haben will. Andererseits, weil sich von hinten zwei skurille Jäger anpirschen: Leibhaftige „Neanderthaler“, die alleine für ihre theaterreifen Kostüme einen Preis verdient hätten. Zotteln auf dem Kopf, Bärenfell am Körper, grauenerregende, künstliche Zähne im Mund, die Laufschuhe mit Fransen drapiert, Gesicht, Arme und Beine komplett rußgeschwärzt – so absolvierten sie die Nordschleife. Um den Jux auf die Spitze zu treiben, schleppen die Jäger nun auf der Südschleife ein „erlegtes Beutetier“ per Tragestange mit und zwischen sich. Jedenfalls vermittelt die gehörnte Attrappe des aufgespießten, plumpen Etwas diesen Eindruck. Damit die Schultern nicht wundscheuern, wurden die Enden der Tragestange dick und weich gepolstert. Am Ende – und zu diesem Zeitpunkt sind die beiden für jeden erkennbar echt „am Ende“ – gehen die Neanderthaler in unglaublichen 4:35 h durchs Ziel. Ein äußert hart erlittener Spaß!

Großbottwar liegt hinter mir, als ich auf einen breiten Rad- und Fußweg südwärts einschwenke. Ständig begegnen mir nun Läufer. Ihre Startnummern mit den Anfangsbuchstaben „HS“ bestätigen, dass es sich um Halbmarathonis auf der Südschleife handelt, die jetzt fast zwei Stunden unterwegs sind. Auch dieser Streckenabschnitt belohnt mit reizvollen Ansichten. Links steigt das Gelände sanft an, um sich stückweit voraus jäh zum Kleinbottwarer Weinberg mit steilen Flanken aufzuschwingen. Rechter Hand vermute ich das Flüsschen Bottwar hinter grünem Paravent aus Bäumen, Büschen und Schilf. Die Schritte fallen mir wieder leichter, nach jetzt 24 Kilometern. Kein Luftzug lässt mich zittern und so genieße ich die Wärme des frühen Nachmittags in vollen Zügen. Dann fliegt der führende Marathonläufer auf Gegenkurs vorbei – blutjung, dunkelhäutig und beneidenswert leichtfüßig. Grobe Kalkulation wähnt ihn nach etwa 2:30 h im Ziel (tatsächlich werden es 2:33:42 h).

Auch im Dorf Kleinbottwar sammeln sich Zuschauer an zentraler Stelle. Ansonsten traben wir unbehelligt durch die Gassen. „Ein Tal im Lauffieber“ titelt der Schreiber eines Artikels in der Marathonzeitung. Schamlos übertrieben! Bedenkt man die Bevölkerungsdichte der Region, dann herrscht am Streckenrand eher gähnende Leere. Doch wer wollte es den Menschen verdenken, wenn sie einen der letzten warmen Sonntage des Jahres besser zu nutzen wissen, als Beifall klatschend die Parade von Hobbyläufern abzunehmen?

Kleinbottwar im Rücken, Anhöhe mit Pferdekoppel zur Linken, Wiesen und Auwald rechts, immer mehr Läufer im Gegenstrom auf gesperrter Straße – die Aufzählung fasst den nächsten Kilometer treffend zusammen. Die Bestimmung der Wettkämpfer lässt sich mit der Abkürzung auf der Startnummer unschwer erraten. Von den „HS“ sichte ich nur noch seltene Vertreter, dafür werden die „TM“ (Team-Marathon) und „ST“ (Staffel-Marathon) immer zahlreicher. An die geheimnisumwitterten „DV“ verschwende ich massenhaft Gedankenschmalz, kann mir auf ihr Woher-Wohin-Wie-weit? dennoch keinen Reim machen. Die Erklärung liefert eine Wende an überraschender Stelle im Städchen Steinheim, wo alle „DV“ den Rückweg nach Großbottwar einschlagen. Vielleicht wäre der Groschen von alleine gefallen, aber der an dieser Stelle postierte Sprecher erklärt gerade seinen Zuhörern, dass wieder ein Läufer des „Dreiviertelmarathons“ die Rückreise angetreten hat. Auch Steinheim hat einiges an gut erhaltener Fachwerkarchitektur zu bieten. Fototechnisch verliere ich hier allerdings den Kampf gegen schlechte Perspektiven und zu kurze Reaktionszeiten, so dass kein brauchbares Erinnerungsfoto zustande kommt.

Immer noch Steinheim – still, weitgehend menschenleer. Halt! Dort vorne steht eine Zuschauerkolonie in Höhe eines Transparents mit Aufschrift „Ist nicht mehr weit“. Während ich noch drüber brüte, wie dieser blöde Spruch auf bereits schwächelnde Läufer wirken muss, die hier noch endlose 14 Kilometer vor sich haben, hole ich mir eine Jubelwelle ab. Habe ich mich dafür bedankt oder zog ich ebenso grußlos vorbei wie der weißhaarige Kontrahent vor mir?

Ortsfremde werden gleich mir dem Eindruck unterliegen noch immer in Steinheim zu laufen. In Wirklichkeit gehen Steinheim und die Ortschaft Murr ineinander über. Zunächst durchquert die zufällige Laufgemeinschaft – für ein paar Kilometer kleben der Weißhaarige und ich wie Kletten aneinander – den malerischen alten Ortskern. Keine Menschenseele lässt sich blicken. Unvermittelt stoppt mein Mitläufer, weil er glaubt falsch abgebogen zu sein. Einsamkeit macht unsicher. Genau so schaut er sich um, sieht mich und nimmt den Wettkampf von neuer Zuversicht beseelt wieder auf.

Hinter Murr nimmt die Landschaft einen völlig anderen Charakter an: Kaum Höhenunterschiede, weite Ausblicke, Wiesen, Äcker, eher selten Bäume und Büsche. Kilometer 30 und 31 gehen flott vom Fuß und die vormaligen Zipperlein sind im generell erhöhten Laufschmerzpegel der Marathonspätphase nicht mehr wahrnehmbar. Zwischenzeitkontrollen bestätigen das seit Stunden gleichbleibende Lauftempo. Also bin ich guter Dinge als wir abermals in Murr willkommen geheißen werden. Noch „reichlich Murr“, friedlich, wie im Dornröschenschlaf daliegend, wird besichtigt, bis wir etwa bei Kilometer 34 das gleichnamige Flüsschen auf hölzernem Steg überqueren. Hinter mir schwäbeln zwei zufällige Radwanderer in den höchsten Tönen, weil es ihnen das schmucke, überdachte Brücklein angetan hat.

Zurück in Steinheim; wirklich Steinheim? Sicher bin ich erst, als sich unsere Spur in Stadtmitte wieder mit dem Herweg vereinigt. Ein objektiv betrachtet harmloser Anstieg geleitet uns aus der Stadt. Subjektiv, mit 36 Kilometern in den Knochen, fühlt sich der „Berg“ keineswegs harmlos an. Und die Steigung macht mir bewusst, dass ich werde kämpfen müssen, will ich die Pace ins Ziel retten. Mehrere Hochrechnungen ergaben unisono eine Endzeit von ca. 3:51 h. Zu optimistisch? Die Zweifel wachsen mit jedem Schritt, weil meine Augen noch eine andere Wahrheit übermitteln: Es geht kaum wahrnehmbar, dafür stetig und dauerhaft aufwärts. Ich laufe im Tal, entgegen der Fließrichtung der Bottwar. Also gewinnt das Terrain den Naturgesetzen folgend mehr und mehr an Höhe. Auch Körperwahrnehmungen nähren meine Skepsis: Seit geraumer Zeit schwitze ich beträchtlich. Hoffentlich trockne ich nicht aus. Leider hielt ich mich auf der ersten Hälfte beim Trinken sehr zurück. Außerdem hat sich mein rechtes Bein einen neuen Gag einfallen lassen, um mich zu necken: Immer wieder einmal setze ich einen Schritt unsicher, im Gefühl, ab dem Knie abwärts, die Bewegung nicht exakt kontrollieren zu können; als kämen Nervenimpulse zur Ansteuerung der Knie- und Wadenmuskulatur manchmal zu spät oder gar nicht. Komische Sache …

5, 4, 3 … mein stiller Countdown klingt wie Flehen und Stoßgebet zugleich. Schweiß rinnt unablässig. Obwohl ich die Sonne nun als Feind betrachten müsste, möchte ich sie keinesfalls missen. Ich halte die Pace und spüre, wie die Ermüdung wächst – rapide wächst! Einerlei! Das ziehe ich jetzt durch. Eine bessere Zeit heraus zu schinden spielt dabei weniger eine Rolle, als der Wunsch schnellstmöglich das Leiden zu beenden. Lauf zu! Beißen! Das geht schon! Einfach das Gehirn ausschalten und nicht dran denken, wie eklig Laufen sich jetzt anfühlt. Nicht denken, nur fühlen und ertragen … Und dann, kurz vor Kilometer 40, ziehe ich doch die Notbremse: Dieses elende Gefühl, das sich wie Gift im ganzen Körper ausbreitet, kenne ich zu gut. Bitte, bitte nicht! Nur DAS jetzt nicht! Was ich spüre, sind untrügliche Signale mich demnächst übergeben zu müssen. Dieses Empfinden durchzieht alle Körperfasern. Klingt komisch, ist aber so. Es hat seine Ursache ja auch nicht in Verdauungsproblemen. Die Überlastung des Stoffwechsels ist schuld. Ich verbrauche zu viel Energie; mehr als die Muskelzellen liefern können …

Gaaaanz langsam trabe ich in Richtung Ziel. Tippele durch die ersten Straßen von Großbottwar, zuckele am Bach entlang. Immer kurz vor der Katastrophe! So langsam wie möglich, nur Gehen kommt nicht in Frage. Himmel noch eins: Nimmt denn dieser Uferweg gar kein Ende? Ich niese, einmal, zweimal. Auch das Niesen entspringt diesem schummrigen Ziehen, denn kein Stäubchen reizt meine Nasenschleimhäute. Ich denke an einen Marathon vor vielen Jahren im Winter, als ich kurz hinterm Zielstrich zugleich niesen, husten und würgen musste. Endlich, die Brücke über den Bach. Noch 300 Meter. Lautsprechergetöse empfängt mich, Zuschauer stehen um eine mobile Bierbar, laben sich mit Süßem an einem Kuchen- und Crêpe-Stand. Das Süßliche zieht mir jetzt widerlich durch die Nase, zum Glück nur auf ein paar Metern. Um die Kurve und dann liegt das Ziel vor mir, am Ende des Schlussanstiegs. Verfluchter Automatismus! Mein Blick fällt auf die Uhr und die zeigt 3:52:30 h. Verfluchter Ehrgeiz! Der Gedanke ist gefasst: ‚Vielleicht schaffe ich es noch unter 3:53 h!’ So verzichtbar wie ein Kropf, aber ich Blödian lege noch mal einen Zahn zu … Erhöhtes Tempo und Steigung verbünden sich gegen mich. Fünfzig Meter vor der Ziellinie ist mir dann wirklich speiübel. Sofort falle ich wieder in meinen Trippelschritt und mit diesem sicher imposanten „Endspurt“ würge ich über die Ziellinie.

Minutenlang stehe ich seitlich des Marathontors und kämpfe gegen Würg- und Hustenreiz. Husten darf ich auch nicht, sonst geht’s dahin. Auf der anderen Seite des Zieleinlaufs stehen Foris und winken mir zu. Mit schwacher Geste signalisiere ich Erkennen und stehle mich schließlich davon, als das ungute Gefühl abzuflauen beginnt. Sicher haben sie meine Schwierigkeiten bemerkt und verstehen, dass mir jetzt nicht nach Reden ist.

Ergebnis: 3:53:06 h, Platz 192 unter 345 Männern, Platz 6 von 25 in M55

Veranstaltungsfazit

Die Strecke des Bottwartal Marathon ist bis auf vereinzelte, kurze Abschnitte sehr reizvoll. Daran wird sich auch im kommenden Jahr wenig ändern, wenn der Start/Zielbereich von Großbottwar nach Steinheim umzieht. Diese Änderung wurde wegen wachsender Teilnehmerzahlen und daraus folgender Enge notwendig.

Trotz Tohuwabohu infolge Enge beim Abholen der Startunterlagen muss man der Veranstaltung einen völlig reibungslosen Verlauf attestieren. Auch das wird sich vermutlich im nächsten Jahr fortsetzen; trotz verlegten Start/Ziel-Bereichs und obwohl der Cheforganisator aus Altersgründen an einen Nachfolger übergibt. Das eingespielte Team lässt auf Kontinuität in der Organisation hoffen.

 

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