Weltrekorde …  –  Freundschafts-Marathon Amberg-Weiden 2011

… werden Reno und ich auf unserem Weg durch die liebliche Hügellandschaft der Oberpfalz zwischen Amberg und Weiden nicht aufstellen. Dennoch brächte ich es nicht über mich, vom eigenen Marathon zu berichten, ohne ihn mit zwei brandneuen Bestmarken der Sportgeschichte in Beziehung zu setzen. Blieb in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends auch manches unverständlich; dass in diesem Universum alles mit allem in Verbindung steht, haben wir inzwischen gelernt. Und wieso sollte die Globalisierung ausgerechnet um die Welt des Sports einen Bogen machen? Weltrekorde also … doch davon später. Zunächst erzähle ich die Geschichte unseres Marathons.

Reno und mich verbindet eine Läuferfreundschaft, wie sie vor der Jahrtausendwende undenkbar war: Man wohnt weit auseinander, sieht sich – wenn’s hoch kommt – einmal im Jahr, an oder auf einer Laufstrecke, steht ansonsten per Telefon oder E-Mail sporadisch in Verbindung. Dass wir uns überhaupt kennen lernten, verdanken wir den Segnungen des Internets, genauer: der Möglichkeit sich in Foren zu beinahe jedem Thema auszutauschen und Kontakte zu knüpfen. Dabei keimte der Wunsch einmal einen Marathon gemeinsam zu laufen. Leichter gewünscht als gefinished. Wegen unterschiedlicher Zielsetzungen, Terminschwierigkeiten und nicht zuletzt meiner anderthalbjährigen Marathonabstinenz infolge Verletzung gingen einige Jahre ins Land. Aber in diesem Herbst klappt es: Nach absolviertem Saisonhöhepunkt sammele ich Marathonläufe. Die Laufzeit spielt dabei eine Nebenrolle. Wer mich kennt, weiß jedoch, wie hoch ich mir die Latte für jeden Marathon mindestens lege – das nenne ich meine „persönliche Schamgrenze“. Außer in extremer Umwelt – beispielsweise viele Höhenmeter bei einem Bergmarathon –, die dieses Ziel von vorneherein negiert, möchte ich unter vier Stunden bleiben. Doch Grundsätze schließen Ausnahmen ein: Ich will 42,195 km an der Seite von Reno laufen und passe mich deshalb gern (!) seinem Tempo an – getreu dem Motto des Laufes: „Freundschafts-Marathon Amberg-Weiden“.

Gegen 8:30 Uhr erreichen wir den Startbereich in Raigering, einem Vorort von Amberg. Fritz, ein guter Bekannter von Reno, hat sich uns angeschlossen. Es ist sein erster Marathon und kein einfacher, dafür werden diverse Anstiege und die Sonne sorgen. Ein paar dünne Wolkenschleier vor azurblauem Septemberhimmel und Reste von Morgennebeln über den Feldern versprechen einen strahlend schönen Tag. Wenn ich nun nicht lauthals jubiliere, dann meinen Mitläufern zuliebe, denen die Sonne zur Tages- und Laufmitte hin sicher zusetzen wird. Außerdem friere ich gegenwärtig bei etwa 7°C und erwäge ernsthaft ein kurzärmliges Unterhemd unters Trägershirt zu streifen. Eine Viertelstunde vorm Start bricht zum Glück die Sonne durch den Bodennebel, streichelt wohlig warm über meine Haut und verhindert so einen fatalen Fehler.

In recht aufgeräumter Stimmung nehmen wir unseren Platz im Schlussdrittel des Feldes ein. Schlechte Laune hat in Renos Umfeld absolut keine Chance. Der quasselt pausenlos drauf los und sicher die Hälfte seiner Bemerkungen erzeugt mindestens ein Schmunzeln. Meine Gedanken reisen eine Woche in die Vergangenheit: Reno hätte ich in Odense an meiner Seite haben wollen, wo mich der Himmel auf Marathonkurs zu ersäufen drohte … Heute ist er mir gewogen, der Himmel, und, als hätte es dieses Hinweises noch bedurft, erscheint am lichtblauen Firmament die Schrift „Der neue Tag“. Bevor es zu mystisch wird: „Der neue Tag“ ist Regionalzeitung und Sponsor der Veranstaltung, das Banner hinter dem kleinen Flugzeug also zugleich Läufergruß und Marketinggag.

Außer diesem verliest der Sprecher auch noch die anderen Sponsoren (eine erstaunlich lange Liste). Das muss wohl sein, wenngleich kaum jemand richtig hinhört. Mich stimmt der Umstand, dass Breitensportveranstaltungen dieser Größenordnung ohne Finanzspritzen privater Unternehmen nicht mehr möglich sind, wie üblich nachdenklich. Sponsoring hält Startgelder in erträglichem Rahmen, was jedoch nur vordergründig einen Sinn ergibt. Schließlich wurde den Kunden der Sponsoren – letztlich uns allen – das Geld beim Erwerb von Produkten oder Dienstleistungen bereits abgeknöpft. Dasselbe gilt für die Förderung anderer Veranstaltungen in Sport und Kultur. Also nur eine finanzielle Umverteilung? Einen echten Schnitt machen sicher Vielstarter wie ich, die sich in Armut liefen, wenn sie die tatsächlichen Kosten ihrer Läufe über Startgelder berappen müssten …

Der Sprecher hat aber auch durch und durch Erfreuliches zu verkünden: Horst Preisler hat sich ins Teilnehmerfeld eingereiht. Reno und Fritz kennen ihn nicht, lassen sich die läuferische Berühmtheit von mir zeigen. Um meiner Hochachtung Ausdruck zu verleihen, wünsche ich Horst einen guten Lauf. Ich grüße ihn immer, wenn er mir bei Laufveranstaltungen „über den Weg läuft“, was gar nicht selten vorkommt. Du weißt auch nicht, wer Horst Preisler ist? Nur Geduld, es wird noch von ihm zu berichten sein!

Noch eine Minute. Ich frage Reno und Fritz, ob es eine Nettozeitmessung gibt, was die beiden bejahen. Ich bin skeptisch, weil weder Messeinrichtung, noch ihre Bediener in Höhe des Startbanners auszumachen sind. Sicherheitshalber starte ich meine Uhr mit dem Startschuss, um meine Funktion als Pacemaker für Reno so genau wie möglich wahrnehmen zukönnen (Richtwert: 6 min/km). Mir dienen die ersten Kilometer wie üblich zur Tempofindung und zum Warmlaufen. Reno nutzt sie, um Späße und gute Laune in Serie zu produzieren. Gerade gibt ihm der humorige T-Shirt-Aufdruck Gelegenheit mit einer Läuferin zu scherzen. Bis zur Hälfte will er mich unterhalten, danach soll ich ihn bei Laune halten, meint er wenig später zu Fritz.

Wir schwenken von der Hauptstraße in Richtung eines Industriegebiets, um auf einer Wendeschleife zwei Kilometer zu „verbraten“. Will man Start und Ziel an gegebener Stelle platzieren, sind solche Schleifen zur Streckenlängenjustierung oft unumgänglich. Dankenswerter Weise dürfen wir die optisch anspruchslose Extratour schon zu Beginn und mit frischen Beinen abarbeiten. In Zielnähe eines Marathons empfindet man solche „Schikanen“ immer als mentale Belastung, auch wenn man die tatsächlich noch zu laufende Entfernung kennt. Auf dem Rückweg begegnen wir Horst Preisler. Langsam und alleine trabend, bildet er fast das Schlusslicht des Feldes. Wir klatschen und spornen ihn an.

Dann und wann trete ich für Reno auf die Bremse. In leichten Steigungen oder wenn ihn eines der scherzhaften Zwiegespräche ablenkt wird er schneller. Wir übererfüllen unsere Schlagzahl ein wenig, was Reno aber nicht beunruhigt – jedenfalls äußert er das mehrmals. Fritz fällt beim Trinken jeweils ein Stück zurück, schließt jedoch immer wieder auf. Mit mir selbst bin ich kaum beschäftigt, wenngleich der Marathon vom letzten Sonntag noch in meinen Knochen steckt. Die Beine lassen jede Frische vermissen, außerdem zwickt es da und dort im Laufapparat. Aber das ist so was von egal, wenn man durch die anmutige, oberpfälzische Hügellandschaft trabt, in warmem Sonnenschein und Gesellschaft eines Naturtalents in Sachen „Entertainment“.

Man sollte meinen, dass einen „Sohlenwetzer mit meinem Abriebindex“ auf Marathonpfaden nichts mehr verwirren kann. Den Ausrichtern dieses Laufes gelingt das spielend. Nach einem Kilometer pinselten sie in großen Lettern „1.000 m“ auf den Asphalt, nach einem weiteren „2.000m“. Irgendwann gingen sie dann zu Tafeln der Form „noch xx Kilometer“ über. Zunächst glaube ich an einen Spaß. Dergleichen ist nicht nur unüblich, es kann für Läufer in Schwächephasen brutal demotivierend sein. Jeder erfahrene Marathoni wird dir raten, nicht zu früh die Gebetsmühle in der Form „Noch-so-und-so-viele-Kilometer“ rotieren zu lassen. Für ein Weilchen verliere ich den Überblick, wie schnell wir unterwegs sind, bis der Kopf die neue Formel für unsere Zwischenzeiten aufgestellt hat.

Obwohl spektakuläre An- oder Aussichten fehlen, empfinde ich die Strecke als ungemein reizvoll. Felder wechseln mit Wiesen, sanft geschwungene Hügel mit ebensolchen Tälern und in allen Richtungen begrenzen Waldränder die Sicht. Immer wieder spiegelt sich die Landschaft in Teichen, queren wir kleine Bäche oder laufen durch Dörfer, die auf mich wirken, als hätte man sie zum Marathonsonntag besonders adrett heraus geputzt. Nur wenige Zuschauer säumen den Kurs, eindeutig ein Manko für Reno. Er liebt die Begegnung, den emotionalen Austausch, blüht dabei auf und lässt sich davon tragen. Ich profitiere von seiner Gute-Laune-Aura, amüsiere mich prächtig, bleibe jedoch meistens stumm. Andererseits: Gemessen an sonstigen Wortproduktionsziffern während Marathonläufen gebe ich mich heute geradezu redselig. Auch Fritz trägt meist ein lächelndes Gesicht durch die Gegend – kein Zweifel: Uns dreien geht es ausgezeichnet!

Hirschau, Kilometer 15: Während wir auf einem Radweg neben der Bundesstraße 14 das Städtchen erreichen, erzählt mir Reno von der Zeit vor Fertigstellung der Autobahn A6 Richtung Prag. Damals erstickte der Ort in einem nicht enden wollenden Strom von Fahrzeugen. Am stillen Sonntagvormittag kaum mehr vorstellbar, zumal, wenn man durch das malerische Zentrum mit Kirche und historischem Rathaus trabt. Wie schon mehrfach zuvor, flitze ich ein Stück voraus, um meine Begleiter frontal abzulichten. In einem Hirschauer Wohngebiet flankieren tatsächlich ein paar Zuschauer die Strecke. Wie immer wollen manche nur einen staunenden Blick auf laufende „Exoten“ werfen, rühren keine Hand für Applaus. Die haben allerdings nicht mit einem Reno in Bestform gerechnet: Mit humorigen Bemerkungen fordert er Unterstützung ein und bekommt sie natürlich von den verdutzten Zaungästen. Ein andermal demonstriert er „La Ola“ und schon spült die Welle auch durch Zuschauerreihen. The Reno One Man Show goes on … Herrlich! Auch drei Beamte der örtlichen Polizei, eine Straßenquerung sichernd, macht er unversehens zu lachenden Opfern; bedankt sich bei jedem, dass er speziell für ihn die Straße sperrt. Und wenn weder Mitläufer noch Zuschauer oder Offizielle seine Späße herausfordern, dann lässt er mich wissen, wie viel es ihm bedeutet heute mit mir unterwegs zu sein. Ich spüre seine innere Bewegung bei diesen Sätzen, auch wenn sie, wie viele andere, scherzhaft verkleidet daher kommen.

Hirschaus Straßen liegen hinter uns. „Das ist der Monte Kaolino!“ Reno folgt meinem Blick, der sich an einen aus weißem Sand bestehenden Hügel neben Produktionsanlagen heftet. Spontan denke ich an ein Zementwerk, erfahre dann aber, dass dort drüben Kaolin, eine weiße Tonerde, als Rohstoff für die Porzellanherstellung abgebaut wird. Nutzlose Bestandteile wurden mit der Zeit zu einer 120 Meter hohen Abraumhalde aufgeschüttet. Sogar eine Freizeitanlage zum „Sandskifahren“ hat man laut Reno dort eingerichtet. Laufen bildet. Man braucht nur Muße zum Hinschauen und Hinhören. In Teilen Unverstandenes – der Technik sei Dank – lässt später im Internet nachlesen.

„Schon wieder ein Kilometer um!“ Reno lässt die Bemerkung mehrmals in Höhe einer der Kilometertafeln fallen. Auch für mich vergeht die Zeit wie im Flug, obschon wir gemütlich vor uns hin zuckeln. Natürlich ist das Tempo für Fritz (Wo steckt der eigentlich? Ah ja, 20 Meter hinter uns!) und Reno alles andere als „gemütlich“. Dennoch scheint mir hier und jetzt in keiner Weise vorstellbar, Reno, dieser Ausbund an Kraft und Zuversicht, könne irgendwann in den nächsten Stunden einbrechen. Wie um diesen Eindruck zu untermauern, erzählt er mir dann auch noch zwei Witze und überbrückt damit die nächsten 300 Meter …

Fritz hat wieder aufgeschlossen, und so messen wir zu dritt zwei Kilometer durch die Straßen der Ortschaft Schnaittenbach ab. Beim Passieren des Halbmarathonstarts mache ich Reno darauf aufmerksam, dass wir nun die Hälfte gepackt haben. Als er nicht wie erwartet freudig oder sonst wie spaßig darauf eingeht, setze ich noch eins drauf: „Von nun an geht’s bergab!“ Sein Schmunzeln lässt erkennen, dass er die Doppeldeutigkeit meines Spruchs erkannt hat. Aber, um der Wahrheit die Ehre zu geben: Sie war gar nicht beabsichtigt …

Am Ortsausgang von Schnaittenbach deutet Reno auf ein Gebäude im Gewerbegebiet, an dessen Planung er beteiligt war. „Jetzt weiß ich wenigstens, wie es aussieht“ raunt er mir zu. Er erzählt von der Notwendigkeit dergleichen Gebäude mit Pultdächern auszustatten, um Platz für viele Solarelemente auf dem Dach zu schaffen. „Das sieht manchmal so hässlich aus!“ So ist das wohl, wenn man von Bauplanung leben muss: Nicht jeder kann seine architektonischen Vorstellungen in beinahe Reinkultur verwirklichen, wie weiland ein Friedensreich Hundertwasser. Bei dieser Gelegenheit erfahre ich auch, dass die Sonnenscheindauer in der Oberpfalz etwa 25 % unter der bei mir zu Hause in Augsburg liegt. Welch glückliche Fügung also, dass die Sonne ausgerechnet heute ein strahlendes Gastspiel für mich gibt.

Apropos Sonne: Um kurz nach elf verlassen wir Schnaittenbach und etwa zu dieser Zeit lässt es sich nicht mehr verdrängen: Der gleißende Stern macht uns mehr und mehr zu schaffen. Selbst bei mir rinnt der Schweiß, obschon mich das Tempo kaum fordert. Seltene Schattenzonen konservieren ein angenehmes Klima. An der Lufttemperatur liegt es also (noch) nicht. Die direkte Wärmestrahlung heizt den Körper erbarmungslos auf. Die erste (und einzige) längere Waldpassage kommt da gerade recht. Lichter Kiefernwald unterstützt unser Vorhaben für einige Minuten, ein fortdauernder, leichter Anstieg macht die Wirkung leider wieder zunichte. Ich stelle mich an den Wegrand und schieße ein Foto von Reno. „Nicht von hinten! Von vorne musst du fotografieren!“ rufen mir zwei Verfolgerinnen zu. „Dann erkennt man ja, wer es ist!“ scherze ich und ergänze: „Aber wenn ihr das wollt, könnt ihrs gerne haben!“ Mit digital erzeugtem Klick speichert meine Kamera ein Bild von den beiden.

Noch 17 Kilometer, der Wald liegt hinter uns: Ich mache mal wieder eine Tempoansage. Nach wie vor liegen wir leicht unter dem 6er-Schnitt. „Hoffentlich werden wir das nicht bereuen!?“ Einen solchen oder ähnlichen Satz höre ich jetzt schon zum dritten Mal. Einmal zu oft für mein Empfinden. Erstmalig kommen mir Bedenken zu Renos Verfassung. Andererseits hat er mir auch mehrmals bedeutet, dass die Gangart passt. Was nun? Quo vadis, Reno? Soll ich ihn laufen lassen oder wäre es besser die Zügel anzuziehen? Sind solche Bemerkungen purer Zweckpessimismus, um sich Luft zu machen oder Ausdruck frühzeitig einsetzender Ermüdung? Ich habe keinen Schimmer, kenne ihn als Läufertyp einfach zu wenig. Zuflucht suche ich in der Überlegung, dass dies nicht sein erster Marathon ist, er also seine Tagesform einschätzen kann. Ein reines Gewissen beschert sie mir nicht, denn erstens überschätze ich mich selbst immer mal wieder. Außerdem wird er darauf erpicht sein, sich nicht ausgerechnet in meiner Begleitung eine Blöße zu geben. Ich bin also gewarnt und schiele nun häufiger zu ihm rüber. Darüber hinaus achte ich noch konsequenter auf meine Taktik einen halben Schritt schräg hinter ihm zu laufen, um keine beschleunigten Schritte zu provozieren.

Noch 16 Kilometer: Auf leicht abschüssiger Straße spurte ich einige Meter voraus, um Reno von vorne einzufangen. „Kommt! Nehmt mich in die Mitte, dann sehe ich besser aus!“ wendet er sich lachend an die beiden Damen von vorhin, die zwischenzeitlich aufgeschlossen haben. Kurz darauf tauchen wir zu viert in den kühlen, leider zu kurzen Schatten eines Waldstücks ein. Ich versuche den von Reno erhaltenen Auftrag – Unterhalter auf der zweiten Marathonhälfte – umzusetzen und fabuliere etwas von Bäumen, die vorzeiten gepflanzt wurden, um uns Marathonis ein bisschen Schatten zu spenden. Ich lobe die Umsicht dieser Leute; umso mehr, da sie damals noch gar nicht wissen konnten, dass dereinst hier ein Marathonlauf vorbei führen würde … Na ja, Renos Späße kommen besser, aber die haben nun leider bereits Seltenheitswert.

Noch 14 Kilometer: Mein Begleiter hat mich wissen lassen, dass er kämpfen muss. Daraufhin haben wir das Tempo etwas zurück genommen. Renos Haut glänzt schweißnass. Unter nun wirklich sengender Septembersonne traben wir durch eine Ortschaft. Ich deute auf den Bürgersteig: „Lauf im Schatten!“ Dreihundert Meter genießt er kühle Luft vor Häuserfronten, dann kehrt er an meine Seite zurück unter den glühenden Stern – Marscherleichterung Ende. Das Ortsende wandert achtern aus und Reno deutet in Richtung einer Kuppe: „Da müssen wir hinauf.“ Die Erhebung hätte ich vorab nicht als ernstzunehmende Prüfung eingestuft, sehe mich hinter einer Kurve aber einem elend langen und zuletzt steiler werdenden Anstieg gegenüber. „Wo ist Fritz?“ Bereits zum dritten oder vierten Mal erkundigt sich Reno nach dem Laufkameraden. „Etwa hundert Meter hinter uns“ antworte ich. Fritz ist zu weit weg, um aus der Mimik auf seine Verfassung zu schließen. Dass sich der Abstand zu uns stetig vergrößert, obwohl wir etwas an Fahrt eingebüßt haben, spricht jedoch Bände.

„Lauf jetzt langsamer!“ schlage ich Reno vor, weil ich spüre, wie ihm Hügel und Sonne zusetzen. Auf diesem Abschnitt setzen sich die beiden Damen ein Stück von uns ab. Das gefällt mir gar nicht. Ich hoffe, dass es auf meinen Begleiter nicht demoralisierend wirkt. Noch hundert Meter und Reno ringt mit der jetzt maximalen Steigung. Ich versuche ihn abzulenken, lasse irgendeinen der situationstypisch einfältigen Sprüche ab. Und auf dem Scheitelpunkt des Hügels, von wo der Blick weit voraus über die oberpfälzer Landschaft reicht, will ich wissen: „Sind das da vorne schon die Häuser von Weiden?“

Wir trudeln abwärts, dreißig Kilometer liegen hinter uns. Ich warte darauf, dass sich Reno auf dem langen Gefälleabschnitt erholt und wieder Fahrt aufnimmt. Stattdessen räumt er eine Schwächephase ein – zu früh, wie wir übereinstimmend und ein bisschen erschrocken feststellen. Die Straße führt uns an einem Golfplatz vorbei. Distinguierte Herrschaften, Golfschläger in den Händen, schreiten entspannt über das Grün. Mir liegt die Bemerkung auf der Zunge, dass es denen dort drüben jetzt deutlich besser geht als uns. Aber das ist natürlich „Käse hoch drei“ und deshalb behalte ich es für mich. Ein paar Schritte später klärt mich Reno darüber auf, dass an diesem Wochenende hier ein Behindertengolfturnier stattfindet. Dass es sich dabei um Spitzensport handelt, ähnlich den Leistungen bei den Paralympics, begreife ich erst nach häuslicher Recherche im Internet. Denn just im Moment, da Reno von Behindertensport spricht, fällt mein Blick auf ein Rudel geparkter Elektro-Golf-Karren und vor dem geistigen Auge sehe ich vornehme Herrschaften in ihnen über Grüns sausen. Mein Gesicht verzieht sich bei dieser Vorstellung – für einen Läufer so etwas, wie der Inbegriff um sich greifender Dekadenz – zu einem Lächeln. Doch ich behalte den Gedanken für mich, weil mein Begleiter sicher eine andere Art von Behindertensport im Sinn hat …

Am Fuß des langen Abstiegs liegt das Dorf Oberwildenau. Am Ortseingang erwartet uns eine Verpflegungsstelle, auf die wir sehr langsam zutraben. Nachdem ich getrunken habe, greife ich nach einem Extrabecher Wasser für Reno, wie schon mehrmals vorher. Zum Trinken oder zum Kühlen. Es dauert deutlich länger als zuvor, bis wir wieder in leichten Laufschritt fallen. Die Krise ist zu sehen, zu hören und, wenn man stundenlang zusammen läuft, sogar zu fühlen. Ich verordne mir einen Maulkorb, werde ihn nicht anfeuern und ganz sicher auch nicht zum Laufen animieren, so lange er gehen will. Auch hoffe ich keinen der bekannten, dummen Sprüche in den unschuldigen Sonntag zu entlassen. Wenn die Kraft schwindet, empfindet man solche Äußerungen eher als Spott und aus dem Mund eines noch starken Begleiters vielleicht sogar zynisch. So traben wir mehr oder weniger wortlos nebeneinander her. Noch 10 Kilometer. Ich klammere mich an die irrationale Hoffnung, er möge die kleine Tafel übersehen haben, denn 10 Kilometer sind so verflucht weit, wenn man müde ist …

Von der gesperrten Staatsstraße biegen wir in Richtung einer Auenlandschaft ab. In Höhe der nächsten Km-Tafel versuche ich Reno aufzumuntern: „Noch neun Kilometer. Jetzt sind wir einstellig!“ Ich denke dabei an Kraxi, meinen Lauffreund aus der Steiermark, der mich letztes Jahr bei meinem Marathondebüt nach langer Verletzungspause begleitete und mir mit demselben Satz zu helfen versuchte. Damals war ich auch schon müde, kämpfte mit immer schwerer werdenden Beinen. – Was für ein herrlicher Ort: Hinter Bäumen blinken Teiche, Büsche und Bäume gliedern das Terrain abwechslungsreich, Vögel zwitschern in den Kronen – ich fühle mich wohl und habe fast ein schlechtes Gewissen dabei. Hätte ich dieses Wetter letztes Wochenende genießen dürfen, nähme ich dafür heute Kälte und Regen gerne in Kauf. Ein bedeckter Himmel und zehn Grad weniger würden Reno den Lauf erleichtern. Ich wälze Theorien in meinem Kopf: Bei warmem Wetter erzwingt der Stoffwechsel einen Laufzeitzuschlag. Bei den heutigen Bedingungen und in unserem Leistungssegment summiert sich das leicht zu einer Viertelstunde. – „Vorsicht Schlange!!!“ Ich stoße die Warnung unwillkürlich aus, so wie der Fuß im Auto bei einer Notbremsung reagiert. Den sich windenden Körper auf dem Asphalt vor Reno wahrnehmen, seinen nächsten Schritt voraus berechnen, die Vorstellung eines zertretenen Tieres entwickeln und sprechen sind eins. Reno erschrickt, verlängert im letzten Moment seinen Schritt, die Ringelnatter schlüpft ins Gras und ist gerettet.

Seit Minuten traben wir ohne Richtungsänderung dahin. Neben uns ein Bahngleis, auf dem gerade der zweite Nahverkehrszug vorbei rauscht. Von schräg hinten müht sich die Sonne nach Kräften unser Leiden zu vergrößern. Weit voraus verliert sich eine endlose Kette von Läufern in mittäglichem Dunst und Flimmern. Bedrängt von Erschöpfung und dem Wissen noch zu laufender Distanz kann einen so ein Anblick entmutigen. Deshalb mache ich eine Bemerkung zur langen Geraden und versuche sie unbeschwert klingen zu lassen. Ich verstehe ohnehin nicht, woher er noch die Kraft zum Laufen nimmt. Der Einbruch ist jetzt sechs Kilometer her. Wir traben langsam, aber wir traben. Zwischenzeiten nehme ich schon lange nicht mehr. Wozu auch. Es geht nur noch darum in Würde anzukommen.

Für ein paar Meter geht Reno, läuft wieder an. Wir tauchen in einer nicht mal mannshohen Röhre unter der Bahnlinie durch und laufen jenseits in einer Ortschaft weiter. Noch 5 Kilometer. Reno legt erneut ein Stück gehend zurück, trabt jedoch nach unverhältnismäßig kurzer Zeit wieder an. Wenn er geht, bleibe ich dicht hinter ihm, tippele für mich auf der Stelle. Ich weiß, meine Gegenwart bringt ihn dazu früher wieder in Trab zu fallen als vielleicht angemessen. Sollte ich ihn auffordern länger zu gehen? Wie ist sein leises Fluchen zu bewerten, wie sein kurzes Auflachen, dann und wann? Ich schweige, beobachte ihn aber aufmerksam. In jeder Kurve räume ich für ihn den kürzeren Innenradius, lenke, wo möglich, seine Schritte durch jedes Fleckchen Schatten. „Lauf zu Udo!“ Nicht zum ersten Mal fordert Reno mich auf ihn zurückzulassen. Natürlich muss er das tun – aus seiner Sicht. Und selbstverständlich bleibe ich bei ihm und nicht nur, weil man einen Laufkameraden in solcher Situation nicht im Stich lässt. Wir wollten diesen Marathon gemeinsam laufen und deswegen werden wir auch gemeinsam ankommen!

„Nur noch drei Kilometer. Lächerliche drei Kilometer. Das packst du!“ Nun ist es doch passiert, dass ich ihm eine Durchhalteparole hinsemmele. Mir war danach und drei Kilometer sind ja wirklich nicht mehr weit. Oder? Mist! Ganz großer Mist! Drei Kilometer entsprechen ungefähr der Entfernung Erde-Mond, wenn dir vor fast einer Stunde der Hammermann eins über die Rübe gezogen hat. Und dieser Kerl kämpft und läuft immer noch. „Aber einen Endspurt lege ich heute nicht mehr hin!“ Offensichtlich denkt er an seinen Sub4h-Triumph beim Fürth Marathon 2009, wo ich ihn auf den letzten 10 Kilometern begleitete. Da war noch genug Energie für ein tolles Finish in den Beinen. Endlich geht er ein Stück, schont sich; aber höchstens zwanzig, dreißig Meter. Meine Gegenwart ist ihm Segen und Fluch zugleich. Sie hilft ihm vorwärts, treibt ihn durch verfrühtes Wiederanlaufen aber auch immer tiefer in die Erschöpfung. Ich schwanke zwischen dem Wunsch nach mehr Präsenz und Unsichtbarkeit.

Wir passieren das Ortschild von Weiden, noch zwei Kilometer. An jeder Seitenstraße wacht jetzt ein Feuerwehrmann oder eine Feuerwehrfrau (schon unterwegs war ich überrascht, wie viele junge Frauen mittlerweile den freiwilligen Feuerwehren angehören). Manche begrüßt er mit Handschlag, eine Dame in feuerfester Hose wird sogar kurz umarmt. Alle übrigen reichen ihn mit Zuspruch an den nächsten Posten weiter. „Bist du etwa selbst bei der Feuerwehr?“ Es hätte seiner Zustimmung nicht mehr bedurft. Schade, dass er die Parade seiner Zunft entlang der Weidener Bahnhofstraße nicht mehr mit vollem Genuss abnehmen kann.

Plötzlich ist Renos Sohn Stefan neben uns, begleitet uns auf dem letzten Kilometer. Schon biegen wir in die Fußgängerzone ab. Reno geht wieder ein Stück, sammelt Kräfte für das Finish. Wieder anlaufen, noch mal gehen. Das Manöver ist klar: Keinesfalls möchte er in Sichtweite des Marathontors gehen müssen. Ich kann es kaum fassen, wie wenig Zuschauer diesen letzten Streckenteil säumen. Ein paar zufällige Passanten, dort Besucher eines Straßencafés, nur selten rühren sich Hände zum Klatschen. So fühlt es sich also an, wenn man im Marathonfeld im letzten Viertel unterwegs ist. Erst die Läufer des Halbmarathons, dann die Spitze von Marathon und Staffel. Die Neugier ist gesättigt, wer will da noch die weiter hinten platzierten Läufer sehen? Egal: Jetzt durchs Obere Tor und schon kommt das Ziel auf dem historischen Marktplatz in Sicht. Ich verharre kurz für ein Foto und nehme dann die Beine in die Hand, um neben Reno über die Ziellinie zu laufen. Einen halben Schritt komme ich zu spät, sehe dafür, wie er lachend und mit erhobenen Armen das Finish genießt …

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Im Moment des Zieleinlaufs nicke ich innerlich zufrieden zu der Aussicht im Klassement nun den Platz hinter Reno einzunehmen. Wie die Zeitnehmung es fertig brachte, mich mit einer Sekunde Vorsprung auf den Platz vor Reno zu setzen, wird wohl ewiges Marathonmysterium bleiben. Ich war in Zielnähe nicht mal auf seiner Höhe und eine Nettozeitmessung gab es nicht (Ergebnis: Reno: 4:33:53 h, Udo: 4:33:52 h). Fritz musste der Hitze größeren Tribut zollen und erreichte das Ziel in 4:45:50 h. Ach ja, da war ja noch die Sache mit den Marathon-Weltrekorden: Im Ziel erfahren wir von Renos Sohn, dass der Kenianer Patrick Makau wenige Stunden zuvor in Berlin mit 2:03:38 h einen neuen Weltrekord aufgestellt hat. Obwohl des Kenianers und unsere Leistung um Lichtjahre auseinander liegen, fühle ich mich ihm trotzdem verbunden. Es ist ein gutes Gefühl am Tag eines neuen Weltrekords selbst auf Marathonpfaden unterwegs gewesen zu sein.

Das gilt auch für den zweiten Marathon-Weltrekord dieses Tages und den erleben wir sogar live. Um ihn aufzustellen, braucht Horst Preisler mit seinen 76 Jahren nur das Ziel zu erreichen. Nach 5:12:44 h läuft er in erstaunlich frischer Verfassung durchs Marathontor und feiert seinen 1743. Marathonsieg.

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Unser gemeinsamer Marathon war für mich ein tolles Erlebnis, wenngleich ich bedauere, dass Reno auf dem letzten Abschnitt – vor allem witterungsbedingt – heftig kämpfen musste. Unter solchen Umständen bleibt der Genuss im wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke. Andererseits weiß ich, dass das Unangenehme mit jeder Stunde mehr verblasst und der Stolz auf das Erreichte zurückbleibt. Der Freundschaftsmarathon Amberg-Weiden hat seinen Zweck erfüllt: Er schenkte uns 42,195 Kilometer gelebte Laufkameradschaft. Ich bin stolz darauf, einen Kämpfer wie Reno begleitet zu haben.
(Ungewollt, keine Fotomontage und doch aussagekräftig: Das letzte Bild auf dieser Seite!)

 

Veranstaltungsfazit

Den im Zweijahresrhythmus veranstalteten Freundschaftsmarathon Amberg-Weiden sollten vor allem Landschaftsläufer auf ihren Terminplan setzen. Die reizvolle, oberpfälzische Hügellandschaft hat viel fürs Auge zu bieten. Zuschauer lockt der Lauf nur wenige an. Und wer im letzten Drittel des Marathonfeldes läuft, sollte auch auf dem Schlusskilometer nicht mit Beifallsstürmen rechnen. Da man überwiegend ungeschützt auf freiem Feld läuft, sollte man seine Zielzeit bei Gegenwind (Nord, Nord-Ost) oder warmer Witterung, korrigieren. Bitte beachten: Die Laufrichtung wird jedes Mal gewechselt. 2013 wird der Lauf also von Weiden nach Amberg führen. Meine Richtungsangaben zum Gegenwind in diesem Fall bitte anpassen.

Die Organisation ließ keine Schwächen erkennen. Die Verpflegung unterwegs war ausreichend, im Ziel sogar fantastisch (unter anderem ein leckeres Kuchenbüffet, Pasta mit zweierlei Soßen, belegte Semmeln). Sammler werden bedauern, dass es zwar ein Funktionsshirt, aber keine Finisher-Medaille gab. Angesichts des vergleichsweise geringen Startobolus ist das aber zu verschmerzen.

 

Last but not least ...

... und gewissermaßen "Off-the-Record": Einen Gruß und herzlichen Dank an zwei wohltuende und erfolgreiche Hände, die meine strapazierte Muskulatur wiederbelebten!

 

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