Nicht(s) faul im Staate Dänemark   –   Odense Marathon 2011

Warum nicht mal in Dänemark Marathon laufen, wenn man in Sachen Urlaub ohnehin des Weges ist? Allerdings werden nur Dänemark-Spezialisten die drittgrößte Stadt im Königreich zielsicher auf der Landkarte orten: Mit dem Finger über Schleswig-Holstein fahren, nach Flensburg, ein Stück nach Norden, dann Richtung Osten, schließlich vom Festland auf die dänische Ostseeinsel Fünen. Odense liegt im Nordosten des Eilands, unweit des Odensefjords und mit diesem über ein kurzes Stück Kanal verbunden. So viel zum Wo.

Nun zum Was und Wie: Ich will hier nicht die Marathonwelt verändern, lediglich erstmals dänische Laufstimmung erleben. Wie sind die Nordlichter läuferisch drauf ? Was ist im Staate Dänemark anders als zu Hause? Meine Laufzeit soll unter der persönlichen Schamgrenze von vier Stunden bleiben, mich folglich nicht übermäßig fordern. Also alles auf reines Laufvergnügen ausgerichtet? Natürlich wird ein weiterer Marathon zwei Wochen nach Usedom kein Zuckerschlecken. Zumal ich seitdem der Urlaubsvöllerei hemmungslos frönte. Also wieder leiden vorm Finale und sicher mehr als unter normalen Umständen nötig. Das kalkuliere und akzeptiere ich, kein Wort diesbezüglichen Wehklagens soll über meine Lippen kommen.

Noch anderthalb Stunden vor dem Start bin ich guter Dinge. Zwar ist der Himmel grau, außerdem tröpfelt es dann und wann. Aber ich habe mich schon damit abgefunden bei etwa 13°C und ohne meine heißgeliebte Sonne zu laufen. Als das Tröpfeln dann in Dauerregen übergeht, Tendenz: „stetig wachsende Niederschlagsmenge pro Quadratmeter“, fällt mein Stimmungsbarometer im selben Ausmaß. Da nützt mir auch Ines‘ Zuspruch nichts. Als wir in Richtung Startbereich aufbrechen, regnet es die sprichwörtlichen Bindfäden. Also wieder ein Marathon in strömendem Regen? Einmal mehr Augen zu und durch? Wer weiß, vielleicht hört es ja nach ein paar Minuten auf!?

Ich stehe zwischen Dänen. Lachen und Scherzen? Fehlanzeige. Vielleicht ist die unterkühlte Stimmung ein Werk der feuchten Umstände. Unter tropfnassem Plastiküberwurf hervor lugend fällt sogar temperamentvollen Südländern gute Laune schwer, was ich 2009 in Italien, anlässlich des Treviso Marathons bei Dauerregen, studieren durfte. Auffällig ist dennoch die völlige Abwesenheit jeglicher Form von Aufregung. Und das Startprozedere gleicht eher dem nüchternen Countdown vor der tausendsten Wiederholung eines physikalischen Experiments als dem Auftakt zu einem Marathon. Auf Dänisch und Englisch erfahren wir die verbleibende Zeit bis zum Start: „Noch 3 Minuten“, dann „noch 2 Minuten und 30 Sekunden“ … und so weiter. Keine schmissige Musik, kein dramatisches Heben der Stimme. Dann die letzten 10 Sekunden in Dänisch: „Ti, ni, otte, syv, seks, fem, fire, tre, to, en“ und Startschuss. Manche beklatschen den Abgang ein paar Sekunden artig – das war’s.

Ich bin auch artig und lächle für Ines (und erträgliche Bilder) in die Kameralinse. Sie hat sich kurz hinter dem Starttor postiert, um der Nachwelt meinen Odense-Auftritt im Bild zu sichern. Dann bin ich vorbei und konzentriere mich auf das Wesentliche: Bedächtig anlaufen und Pfützen sicher ausweichen. Räumliche Enge hindert mich daran nicht. Geschiebe, Drängeln und Überholen beim Aufgalopp scheint der dänischen Läuferseele völlig fremd. Die ersten beiden Male und jeweils vom selben Läufer irritiert mich noch der seitlich ausgestreckte Arm. Dann beobachte ich es auch bei anderen, jeweils vor einem Hindernis in Laufrichtung – etwa einer schlecht sichtbaren Verkehrsinsel – und bin beeindruckt. Dergleichen habe ich in 78 Marathonläufen und mehreren Ländern nie erlebt. Ein paarmal wäre ich für so eine Warnung dankbar gewesen (zum Beispiel vor ein paar Monaten in Salzburg). Spätestens von diesem Moment an gehört zumindest dem Dänen als Läufer meine volle Sympathie.

Nach etwa drei Kilometern lässt der Regen nach. Zu spät für meine Füße, die schwimmen bereits in den Schuhen. Das typische Geräusch von links unten – eine Mischung aus Quietschen und Quatschen – informiert mich akustisch. Mehr gibt es vom ersten Abschnitt des Kurses nicht zu berichten, denn für die Augen hat er nichts zu bieten. Das ändert sich entlang des kleinen Hafens von Odense: Wasser, Kaianlagen, zwei kleine, dennoch ozeantaugliche Frachter und ein winziger Yachthafen bringen auch unter bleiernem Himmel Farbe ins Bild. Da fühlt sich Laufen gleich viel leichter an, zumal die himmlische Sprinkleranlage kaum noch Nässe verspritzt; jedenfalls so wenig, dass es einen als Läufer nicht mehr stört.

Nach längstens vier Kilometern ist der Minihafen umschifft und optische Tristesse hält wieder Einzug: Straßen, Autos auf der Gegenfahrbahn, erst Gewerbe-, dann Wohngebiete, so gut wie keine natürlichen oder architektonischen Reize. Ich verschaffe mir Kurzweil beim Entziffern ungewohnter Straßenschilder, Werbeplakate oder Aufdrucke dänischer Läufershirts. Tempojustierung und fotografisches Einfangen der wenigen interessanten Momente sind Routine und werden nebenbei erledigt. Ein kurzer Wendeabschnitt in Höhe von Kilometer neun bildet schon fast die aufregendste Begebenheit der letzten Minuten …

Ich halte Kurs in Sichtweite des Pacemakers 3:44:59 h. So schnell wollte ich gar nicht laufen. Eine Haaresbreite unter vier Stunden sollte das Maß der Dinge sein. Tatsächlich hielt ich mich nach dem Start zurück und kontrollierte auch emsig meine Zwischenzeiten. Jedes Mal war ich zu schnell unterwegs. Noch langsamer will einfach nicht gelingen. Warum? Die Tendenz anfangs zu überziehen reicht als Begründung nicht aus – nicht mit meiner Erfahrung. Da liefert mein unterschwellig immer aktiver Ehrgeiz schon eher eine Erklärung. Vermutlich spielen Kälte (natürlich laufe ich wieder langärmlig) und Nässe (Pfützen auszuweichen bindet Konzentration) eine entscheidende Rolle. Wer will sich diesen unangenehmen Elementen länger als nötig aussetzen?

Ich halte Kurs in Sichtweite des Pacemakers 3:44:59 h und der … sitzt auf dem Rad! Als ich kurz nach dem Start einen Radler mit Luftballon – Aufschrift: „6:03 min/km“ – überhole, vermute ich noch einen Akt zivilen Ungehorsams inmitten der ansonsten äußerst disziplinierten, dänischen Läuferschar. Bereits der zweite rollende Tempomacher – Ballonaufschrift: „5:41 min/km“ – überzeugt mich von der offiziellen Mission. Eine dänische (oder Odensische?) Spezialität in zweifacher Hinsicht: Pacemaker radeln und die Zielzeit ist in min/km angegeben.

Und dann traben wir kilometerweit ohne wesentliche Richtungsänderung auf die Innenstadt zu. Für eine Stadtbesichtigung war noch keine Zeit und so steigt meine Spannung. Einstweilen unterhalten mich die auf allen bisherigen (und späteren) Streckenteilen obligatorischen Staus. Aberhunderte Autofahrer üben sich in Geduld. Die Streckenführung degradiert diverse Hauptverkehrsadern zu Einbahnstraßen oder kappt wichtige Verbindungen von einem zum anderen Ende der Stadt. Immer wieder warten geduldige Lenker an Grundstücksausfahrten auf eine Lücke. Ausgeschaltete Motoren zeugen von Einsicht, dass diese Lücke in der nächsten Viertel- bis halben Stunde nicht kommen wird … Trotzdem beobachte ich keine Anzeichen von Ungeduld oder Verärgerung, schon gar kein Hupen. Bei einem von vielen Fahrbahnwechseln fällt mir sogar eine Fahrerin an der Spitze einer Staukolonne auf, die sich aus dem Seitenfenster lehnt und frenetisch applaudiert … Spätestens von diesem Moment an gehört auch dem Dänen als Autofahrer meine volle Sympathie.

Die Dichte der Läden steigt, ein klares Anzeichen für die nahe Innenstadt. Bisher lief ich völlig unbehelligt unter Dänen. Wiewohl auch zwischen Dänen kaum Gespräche oder Gesten wahrzunehmen waren. Auch hier gilt die „Unschuldsvermutung“: Vielleicht haben sie wegen der Witterung einfach keine Lust zur Kommunikation (kommt mir entgegen, die habe ich ohnehin selten und das nicht nur bei so besch… Wetter). Als ich mal wieder meine Kamera zur „bilddokumentarischen“ Vorbereitung des Laufberichts hebe, ist es mit der nordischen Zurückhaltung meines Mitläufers zur Linken vorbei. Lachend, auf die Kamera deutend und Sätze in erstaunter Stimmlage von sich gebend zieht er vorbei. Anscheinend ist ihm bisher nie einer untergekommen, der sich Laufmasochismus – man nennt es Marathon – auch noch durch Fotografieren erschwert.

Wir biegen nach rechts in die Fußgängerzone ab und passieren eine blauleuchtende, zweizeilige Anzeige: „360“ und darunter die Zahl „772.712“. Ich entziffere über der 360 die Schrift „Cyklister i dag“ und interpretiere sie als „Radfahrer pro Tag“. Der Wert in Zeile zwei zählt anscheinend die Menge der „Cyklister“, die in diesem Jahr bereits die Säule passierten. Der Sinn dieser Zählwerke erschließt sich mir nicht. Andererseits: Muss alles auf Erden einem Zweck zuliebe geschehen? Gerade Langstreckenläufern sollte einleuchten, manche Dinge um ihrer selbst willen zu unternehmen ...

Zunächst scheint es, als würden meine touristischen Erwartungen vom historischen Kern der Stadt erfüllt: Auf dem ansehnlichen Platz vor Rathaus und Dom lege ich eine kurze Fotopause ein, um verwacklungsfreie Ansichten einzufangen. Hinter meinem Rücken steht eine gigantische Bronzebüste des berühmtesten Sohnes der Stadt; Dichter, Märchenerzähler und zugleich Namensgeber des Marathonlaufes: Hans Christian Andersen. Weiter auf der Schleife durch die Fußgängerzone – mit nun minütlich wachsender Ernüchterung. Wirklich sehenswert scheint mir da nichts mehr. Oder ist auch dieser Eindruck dem miserablen Wetter geschuldet? Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass sich das gemüts-neutrale Tröpfeln vorzeiten wieder zum gestandenen Landregen ausgewachsen hat?

Wir verlassen das sonntäglich verriegelte Odenser Einkaufsparadies – die Geschäfte firmieren unter anderen Namen, gleichen unseren jedoch in Aufmachung und Auslage – und traben hundert Schritte in leichtem Gefälle. Doch noch einmal ein Blickfang: Langes, gelbes Fachwerkhaus zur Linken. „Unten“ erreichen wir das Ufer des „Odense Å“. So heißt das Flüsschen, das sich durch die Stadt windet und später – erweitert zum Odense Kanal – in die Ostsee mündet. Meine Aufmerksamkeit gilt einer monströsen Skulptur, einem Pferdekopf mit „noch was dran“, den die Stadtväter inmitten strömenden Wassers verankern ließen. Fast hätte ich meinen Fanclub übersehen, Ines und Roxi, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Regen ausharren. Erst mache ich einen Schritt auf sie zu, überlege es mir dann aber anders. Meine Frau zu begrüßen (oder mir Trost zu holen?) würde schlafende Hunde wecken – im wahrsten Sinne des Wortes. Also begnüge ich mich mit Lächeln und Winken und will mich, von unserem Vierbeiner unbemerkt, über eine Holzbrücke davon stehlen. Aber Roxi schläft nicht und kapiert instinktiv, was das serienweise Klicken der Spiegelreflex zu bedeuten hat …

Mit Roxis wildem Bellen im Rücken und heftigem Wummern von vorn jogge ich durch ein Stück Stadtpark am Flussufer. Techno aus monumentalen Lautsprecherboxen versetzt meine Bauchdecke in niederfrequente Schwingungen. Als DJ fungieren zwei jungenhafte Kerle hinter brusthohem Mischpult. Das ganze Rhythmusarrangement steht auf der Ladefläche eines Lkw-Anhängers, von dessen Plane vor Nässe geschützt. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass mir der Genuss diverser musikalischer Darbietungen entlang der Strecke zuteil wird: Da ist die „Nordfyns Spillemandslaug“ – Durchschnittsalter der Combo locker über 70 – deren ziehharmonika-lastige Weisen kaum mehr Temperamt versprühen als die gelangweilten Blicke der Musikanten. Schon besser: Eine leicht brasilianisch angehauchte Trommlergruppe, die in Stadionnähe müde Beine in Schwung bringt. Und kurz vor der Innenstadt mühen sich zwei anmutige Däninnen, eine mit Gitarre, die andere per Stimme, Zuschauer und Läufer zu wärmen – durchaus mit Erfolg. Die übrigen Protagonisten, darunter eine Mädchentruppe in gelb-blauen Uniformen, verfehlen allerdings meinen Musikgeschmack um Längen. Einerlei: Ein Dank gebührt allen, die dem Mistwetter trotzen, um uns Läufern den Kampf zu erleichtern.

Ja Mistwetter! Auf dem letzten Abschnitt vor dem Stadion (optisch wirklich nichts, worüber zu schreiben sich lohnt) dreht jemand die Brause stufenweise weiter auf. Mehrmals richte ich den Blick auf lichte Stellen am Himmel und denke: ‚Bestimmt hört es gleich auf zu regnen!‘ Aber mein Flehen wird nicht erhört. Neben mir rennt einer in durchsichtiger Kunststoffpelle. Die Spitze seiner nutzlos am Rücken baumelnden Kapuze schwappt lustig hin und her – dort hat sich reichlich Wasser gesammelt. Noch macht mir die Nässe nichts aus, doch die Aussicht eine zweite Halbmarathon-Runde unter diesen Bedingungen zu erdulden zieht mich Schritt um Schritt runter. Ich biege auf die breite Straße vor dem Stadion ein. Zig begossene Pudel traben vor mir her und zig begossene Pudel kommen mir auf der Gegenseite entgegen. Am Ende der Straße nutzen wir einen Kreisverkehr zur Wende – weit ausholend, weil der kürzere Innenradius nur schwimmend zu überwinden wäre.

Nach einer Stunde und knapp 53 Minuten habe ich den halben Marathon hinter mir. Es ist noch heller geworden, dafür – pardon – pisst es umso ergiebiger. Die Phase inneren Flehens geht fließend (wie sinnig!) in Fluchen über. Ich blicke nach oben, sehe die Sonne wie durch dickes Milchglas als blendendes Auge und fühle mich vom Schicksal verhöhnt. Denn praktisch zur selben Zeit brechen im Himmel alle Dämme. Ein Wolkenbruch geht über uns nieder, wie ich ihn höchstens mal bei Gewitter und im Training erlebte. Wasser bahnt sich seinen Weg, gurgelt in Bachstärke durch Rinnsteine, sammelt sich in riesigen Pfützen, platscht mir als taubeneigroße Tropfen von Alleebäumen auf Kopf und Schultern. Wasser fließt von meinem Kopf, rinnt mir in die Augen, strömt von den Schultern, sickert über den ganzen Kerl, suppt in die Schuhe – wischen zwecklos. Auch Wind ist inzwischen aufgekommen, zu allem Übel von vorn. Zur Nässe kommt die Kälte. Nichts ist mehr wichtig, nur noch der Kampf gegen das alles durchdringende, alles erschwerende Wasser …

Ich schlage mich durch. Alle um mich her schlagen sich durch. Was sonst? Man kann doch nicht abbrechen, nur weil es wie aus Gießkannen schüttet, weil Laufen jetzt zur hässlichsten Sache der Welt geworden ist. Keiner gibt auf. Vielleicht sind dänische Läufer solche Güsse gewöhnt (Ines berichtet mir später von vielen Zuschauern in Gummistiefeln und speziellen, knöchellangen Regenmänteln). Vielleicht sind sie auch härter im Nehmen, aber das glaube ich nicht. Sie ducken sich wie ich vor dem nassen Element, empfinden wohl dasselbe: Wenn es nur schon vorbei wäre!

Nicht zu fassen: Läufer, Autos, Bäume, die ganze klatschnasse, dreidimensionale Welt wirft jetzt schwache Schatten! Lediglich eine dünne Wolkenschicht verdeckt die Sonne und doch rauscht der Wasserfall unvermindert auf uns nieder. Sogar die Frau im hautengen, schulterfreien, am Rücken tief ausgeschnittenen Oberteil gibt nun klein bei. Ihr Begleiter nestelt einen Kunststoffüberzug aus seinem Laufrucksack mit dem sie sich notdürftig vor Wind und Regen schützt. Die Arme muss halb erfroren sein.

Die Sintflut ist vorbei. Nach vielleicht zwanzig Minuten Wasser aus allen Rohren fällt jetzt kein Tropfen mehr vom Himmel. Noch traue ich dem Frieden nicht, hoffe dennoch inständig er möge halten. Immerhin liegt noch ein Drittel Marathon vor mir. Von gröbster Not befreit hellt sich meine Stimmung auf und die Gedanken wenden sich wieder dem Wettkampfgeschehen zu. Tempokontrolle: Nach wie vor liegt meine Pace eher bei 5:20 als 5:30 min/km. Durst habe ich keinen, kippe dennoch etwa alle fünf Kilometer einen Becher „Energidrik“, wie man hier sagt, farblos trüb, mit Pfirsichgeschmack. Nach dem ersten Schluck wartete ich gespannt auf die Antwort meines Magens. Der gluckste ein wenig, gab sich dann aber entspannt und verarbeitete willig die weiteren Rationen. An Kraft gebricht es mir nicht, obschon ich die 30 km-Marke bereits hinter mir weiß. Dafür schmerzen Beine und Pomuskulatur höllisch und seit kurzem zieht es gemein im Kreuz. Das Jaulen im Gebein verstärkt sich bis zum Finale um einige Dezibel. Ich will es nur erwähnen, nicht klagen, schon gar nicht jammern – wie eingangs versprochen.

Abschließend muss ich von einer englischen Lady erzählen. Sie sieht beileibe nicht so aus, wie man sich eine englische Lady vorstellt. Nichts an ihr ist piekfein oder dezent. Klein, gedrungen, sogar leicht untersetzt läuft sie seit dem Wolkenbruch mit mir auf gleicher Höhe. Ihr Hinterteil steckt im Union Jack, schlabbrigen Shorts, die an ihrer Nationalität keinen Zweifel lassen. Das auffällige Oberteil ziert ein grausliches, züngelndes Wappentier. Immer wieder höre ich sie hinter meinem Rücken schnaufen, wenn sie nach einer der minimalen Steigungen oder nach dem Trinken aufholt, um nach kurzer Zeit wieder in Führung zu gehen. Wäre ich ein Gentleman, erwähnte ich nicht die extreme Orangenhaut an ihren Oberschenkeln. Ich tue es trotzdem, aber nur um zu fragen: Was kürt eine solche schreiend bunte, nicht im Mindesten anmutige Erscheinung zur Lady?

Mir imponiert ihre Haltung! Ich sehe (und höre) wie sie sich gegen den Regen stemmt, mehr noch gegen wachsende Erschöpfung. Dennoch findet sie immer wieder Luft und ein Lächeln, um sich für die zahlreichen Anfeuerungsrufe zu bedanken. Wer sie anschaut, traut ihr keinen Marathon zu, nicht mal ’nen halben. Wer sie hört, erwartet ihren baldigen Zusammenbruch. Doch in ihrer Brust schlägt ein ausdauerndes Kämpferherz. Bei Kilometer 40 trinkt sie noch einmal und fällt zurück. Eigentlich schade, sie ist mir in gut anderthalb Stunden ans Herz gewachsen und war meiner Kamera häufiges Fotomodell.

Upps! Fast hätte ich Ines übersehen. Ich erwartete meine Frau eigentlich im Stadion, aber sie steht bereits kurz hinterm Kreisverkehr, der uns auch in Runde zwei nicht erspart bleibt. Diesmal kann ich die Kurve eng ziehen, das Wasser ist abgelaufen. Ines fotografiert, winkt und freut sich mit mir über den nahen Erfolg. Noch 700 Meter. Wie immer kurz vor dem Ziel schmerzen die Knochen erbärmlich und wie immer auf dem finalen Stück, den sicheren Marathonsieg vor Augen, spielt das absolut keine Rolle mehr …

Auch deutsche Fußballmannschaften (insbesondere solche aus München) haben englischen Kampfgeist schon unterschätzt. Auf den letzten Metern vorm Stadion vernehme ich wieder das inzwischen vertraute Keuchen der Britin im Rücken. Vielleicht war ich im heute knallgrünen Shirt für sie so etwas wie ein Bezugspunkt. Möglicherweise haben wir uns ohne Wissen und Absprache wechselweise über die schwerere, zweite Hälfte dieses Marathons gezogen … Beim Stadioneinlauf ist sie nurmehr zwei, drei Schritte hinter mir. Ich spüre noch reichlich Reserven und freue mich auf das Finish. Aber merkwürdigerweise weniger auf meins, als auf ihrs! Plötzlich bricht sich ein Gedanke Bahn: Sie soll vor mir durchs Ziel laufen! Ich drehe mich zu ihr um und feuere sie an: „Come on! Come on! Go for Victory!“ Mein Spruch katapultiert sie geradezu nach vorn. Sie lacht mich an, presst ein „Thank you!“ aus heftig atmender Kehle und zischt raketengleich davon. Ich schicke ihr noch ein „anschubsendes“ Kompliment hinterher: „Great race!“ und hoffe, dass es bei ihr ankommt. Auf der Gegengerade ist sie bereits fünf Meter in Front. Wenn ich ihr Finish im Bild festhalten will, muss ich mich sputen. Der Belag der Tartanbahn umschmeichelt die wehen Füße nach 42 km hartem Asphalt. In der Zielkurve: Die Engländerin legt noch einmal zu, überholt eine andere Läuferin. Um dranzubleiben schiebe auch ich mich an der unbekannten Frau vorbei. Das ist mir beinahe peinlich. Irgendwie habe ich das Gefühl, man tut so was nicht in Dänemark. Der Fremden gefällt das offensichtlich auch nicht. Mit einem Sprint stellt sie die alte Reihenfolge wieder her, flitzt sogar noch an „meiner“ Britin vorbei ...

„Congratulations!“ Ich reiche der Engländerin die Hand, erst danach lasse ich mir die Finishermedaille umhängen. Es ist der Moment in dem letzter Frust von mir abfällt. Seltsamerweise bin ich von der Regenschlacht und dem eher langweiligen Kurs nicht enttäuscht. Das ist wohl dänischen Besonderheiten beim Marathon und nicht zuletzt dem beherzten Lauf einer britischen Amazone zu danken.

Ergebnis: 3:46:36, Platz 653 von 1259 Männern

Veranstaltungsfazit

Odense, Dänemarks drittgrößte Stadt, kann kaum Glanzlichter setzen, die 21,1 km lange Strecke demzufolge auch nicht. Bei gutem Wetter fällt diese Bilanz sicher nicht viel besser aus. Vielleicht lohnt die spezielle Stimmung des Laufes eine Anreise. Schon im strömenden Regen säumten erstaunlich viele Zuschauer die Strecke und sparten nicht mit Beifall.

Die Organisation verdient ein fettes Lob. Alles klappte völlig reibungslos. Die Verpflegung unterwegs war mehr als ausreichend und im Ziel sogar üppig. Besonders hervorzuheben: Nach dem Lauf endet die für Finisher eingerichtete Gasse in der Halle der Kleiderabgabe, mithin vor kalter Witterung geschützt. Von dort sind es nur ein paar Meter bis unter die Dusche.

Als vorbildlichen Service empfand ich die deutschsprachige Version der Homepage in einwandfreier Übersetzung. So blieben (fast) keine Fragen offen. Eine klärte ich per E-Mail auf Deutsch und erhielt auch nach zwei Tagen Antwort.

Die Startgebühr ist für eine Zweirundenstrecke mit 550 Kronen, das sind ca. 75 Euro, horrend. Allerdings sollte man bedenken, dass das Preisniveau in Dänemark generell deutlich über dem in Deutschland liegt. Außerdem schließt die Startgebühr neben den üblichen Leistungen ein Funktionsshirt und die Nutzung eines Leihchips ein (siehe Bild).

Außer dem Marathon werden auch zwei Halbmarathons veranstaltet: Ein Frauenlauf (!), Start eine Stunde vor dem Marathon um 9 Uhr und ein reiner Männerlauf, Start um 13:30 Uhr. Und damit verbindet sich die letzte dänische Besonderheit, von der ich berichten will: Die Startliste der Halbmarathon-Frauen war länger als die der Männer! Siehe Bild: Frauen links, Männer rechts.

 

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