Endlich!  –  Usedom Marathon 2011

Abfahrt 8:30 Uhr: Ich sitze im Läuferbus von Wolgast nach Swinoujscié (Swinemünde) in Polen. Draußen zieht die mit Morgensonne übergossene Landschaft der Insel Usedom vorbei. Endlich! Endlich Usedom und endlich Sonne. Dieser Marathon lockt mich schon lange – mehr als andere; nur so ein Gefühl, eine Erklärung habe ich dafür nicht. Meinen Gesprächspartnern, der Dame in der Sitzreihe vor mir und meinem Sitznachbarn, versichere ich mit Inbrunst, wie sehr ich sonniges Laufwetter herbeisehnte. „Bei 12°C und Nieselregen laufe ich am liebsten!“ meint der Mann neben mir dagegen lapidar und erntet aus der vorderen Sitzreihe beifälliges Nicken. Munter plaudernd passieren wir gegen 9:20 Uhr die polnische Grenze – nur noch kenntlich am rot-weiß lackierten Grenzpfahl – und steigen zehn Minuten später vor der Strandpromenade von Swinemünde aus dem Bus.

Die Mehrzahl der offenbar ortskundigen Businsassen strebt einem nahegelegenen Gebäude zu. Dort finde ich, wie vermutet, Umkleideräume und Toiletten. In der unvermeidlichen Warteschlange ausharrend sammle ich erste Eindrücke polnischer Infrastruktur: Gebäude und Inventar haben schon einige Jahre auf dem Buckel, präsentieren sich aber in einwandfreiem Zustand und strotzen vor Sauberkeit. Das gilt auch für die Toiletten. Dort finde ich Papier vor und später an den Waschbecken einen prall gefüllten Seifenspender sowie reichlich Papierhandtücher. Wer hätte dergleichen gerade hier erwartet, im oft übel beleumdeten Polen? Bei manchen meiner Wettkämpfe in der deutschen Heimat traf ich auf deutlich miserablere Umstände. Also steht es bereits jetzt 1:0 für diese deutsch-polnische Gemeinschaftsveranstaltung.

10:15 Uhr, noch eine Viertelstunde bis zum Start. Ich streune ein wenig auf der Strandpromenade umher und banne Eindrücke in den Kameraspeicher. Unzweifelhaft ist der bauliche Aufholbedarf unserer polnischen Nachbarn riesig. Nahezu alles vermittelt einen zwar intakten, aber in die Jahre gekommenen Eindruck. Die zweisprachige Moderation begrüßt 295 gemeldete Teilnehmer, jeweils etwa zur Hälfte aus Polen und Deutschland. Ein wenig habe ich bereits über den mutmaßlich folkloristischen Auftrag der beiden, in alte Uniformen gepferchten Männer gegrübelt. Beidseits eines kapitalen Rohres sitzen sie auf der Achse ihrer Kanone und lassen sich bestaunen. Der Sprecher kündigt den Startschuss per Haubitze an. Zugleich fordert er die Schaulustigen dazu auf, den Raum vor der Rohrmündung freizumachen, weil „es dort gefährlich werden könnte.“

Ein Mordsböller versetzt die Läufermeute in Bewegung. Nach-Start-übliches Gedränge und Gerangel um Positionen bleiben trotz fehlender Nettozeitmessung aus. Die Promenade ist breit genug und die Läuferzahl doch recht „überschaubar“. Oberflächlich betrachtet erscheinen knapp 300 Läufer für die 32. Auflage einer Veranstaltung wenig; vergleichsweise dünne Besiedelung und exponierte Lage der Insel im äußersten Nordosten Deutschlands liefern jedoch eine hinreichende Erklärung. Einen halben Kilometer laufen wir zunächst „Richtung Moskau“ bevor uns eine scharfe Kehrtwendung nach Westen schickt. Hinter Swinemünde verläuft die Strecke auf dem neu angelegten Geh- und Radweg. Rechts liegt der Sandstrand, dahinter die Ostsee. Gesehen habe ich sie noch nicht, die bewaldete Stranddüne verwehrt den Blick zuverlässig. Praktisch vom Start weg wische ihr mir den Schweiß aus dem Gesicht. Nach mehreren Schlechtwetter-Wettkämpfen vollziehe ich dieses Ritual mit einigem Vergnügen, suche dennoch schon jetzt jeden Baumschatten.

Eine hässliche, breite Schneise im Wald erstreckt sich quer zur Laufrichtung. Sie markiert den Verlauf der einstigen Grenzanlage und wurde durch ein nagelneu wirkendes Mahnmal ein wenig aufgehübscht. Ein Läufer steht davor, deutet mit einer Hand auf das Monument und schwenkt in der anderen seine Digicam. Mein Denkprozess Sehen-Verstehen-Entscheiden dauert wie üblich auf Marathonkurs zu lange. Also hoffe ich auf einen quicken Läufer im hinteren Feld, der ihm seinen Porträtwunsch erfüllt.

Kilometer eins und zwei auf polnischem Boden waren nicht markiert. Ein ebenso unnötiges wie ärgerliches Manko, das die wichtige Tempojustierung der Anfangsetappe erschwert. Mir ist das heute einerlei, es geht um nichts als einen möglichst genussreichen Lauf und eine weitere Medaille in meiner Sammlung. Bei Kilometer 3 bin ich dann doch erstaunt, dass mir der vermeintlich langsame Auftakt einen 5er-Schnitt beschert. Das ist wahrscheinlich zu schnell für meine Tagesform. Egal. Für taktische Überlegungen fehlt mir heute völlig die Lust. Das wird sich von selbst regeln und so lasse ich es einfach laufen …

Fußgänger und Radfahrer begegnen uns; zunächst spärlich, als dann zwischen Bäumen die ersten Häuser von Ahlbeck auftauchen, immer häufiger. Dass zwanzig Jahre nach der Wende ein Großteil der maroden DDR-Hinterlassenschaft beseitigt sein würde, war zu erwarten. Auf die nun pausenlos vorbei ziehenden Prachtfassaden war ich nicht vorbereitet: Bäderarchitektur vom Allerfeinsten. In neuem Glanz präsentieren sich Hotels aus der Gründerzeit, spitzgiebelig untergliedert, manchmal verspielt mit Türmchen. In parkähnlichen Gärten ducken sich alte, zur Gänze aus Holz erbaute Villen unter uralten Baumbestand. Nicht mehr zu rettende Bausubstanz wurde durch Neubauten ersetzt, modern im Stil, aber durchaus geschmackvoll. Dann erhasche ich rechter Hand für kurze Zeit einen Blick auf die historische Seebrücke von Ahlbeck und unbewusst wohl auch erstmals zum Meer. Was eine Seebrücke ist? Am flachen Sandstrand gibt es keine natürlichen Häfen. Also baut man mehrere hundert Meter lange Stege – Seebrücken – bis Fahrgastschiffe eine ausreichende Wassertiefe zum Festmachen vorfinden. Ufernah und ebenfalls auf Stelzen wurde dann häufig ein Restaurant oder Café in den Steg integriert. Die Seebrücke von Ahlbeck, 1890 erbaut, überstand wie durch ein Wunder alle Wirren der Geschichte. Durch einen Brand zerstört, wurde sie 1930 originalgetreu wieder aufgebaut.

Kilometer um Kilometer das gleiche Bild: Links Hotels, Villen, Appartementhäuser und vor mir die schnurgerade Strandpromenade. Längst hat sich die Kette der Läufer weit auseinander gezogen. Zufällige Zaungäste streben per Pedes oder Velo ihrem Strandabschnitt zu. Manchmal muss ich ausweichen, doch meist begnügt sich das Badevolk mit dem Fußweg, überlässt uns Läufern den breiten, überwiegend asphaltierten Radweg. Kilometer 8: Noch immer Häuser, noch immer Promenade. Wahrscheinlich laufen wir inzwischen durch Bansin, ein weiteres der so genannten Kaiserbäder. Dieses Prädikat verdanken die Orte häufigen Kurbesuchen des deutschen Kaisers. Usedom gehörte zu jenen Orten, wo er bevorzugt Entspannung suchte. Jetzt also Bansin. Dem Ortskundigen wird meine „Unterschlagung“ auffallen: Zwischen Ahlbeck und Bansin erstreckt sich Heringsdorf. Doch Ortschilder stehen keine an der Promenade und die Streckenkarte in meinem Kopf ist lückenhaft.

In Bansin laufen wir auf der Stranddüne und nicht mehr dahinter. Dadurch ergeben sich ständig reizvolle Ausblicke Richtung Meer. Lichtblau, ganz dem wundervollen Tag entsprechend, blinkt der Wasserstreifen herüber. Schöne Sommertage bedeuten dem Marathonläufer Anstrengung und Schweiß; erstere spüre ich schon deutlich in den Beinen, letzterer rinnt unablässig über Stirn und Schläfen. Dann sind zehn Kilometer geschafft und die Uhr zeigt knapp 52 Minuten. Nein, ich stelle jetzt keine Hochrechnungen auf das Finish an. Schon der Blick zur Uhr – eine über viele Jahre und Wettkämpfe eingeschliffene Routine – war überflüssig. Hier und heute laufe ich nur um des Laufens willen. Außerdem werde ich das gegenwärtige Tempo kaum ins Ziel retten können.

Ein Streckenposten schickt uns von der Promenade Richtung Inselinneres und bergwärts. Kein Scherz! Auf mehreren, zwar kurzen aber ziemlich steilen Anstiegen verabschieden wir uns von der Strandpromenade und verschwinden übergangslos im Wald. Hohe, dicht an dicht wachsende Buchen und Eichen haben die morgendliche Kühle konserviert. Die Wege sind fest, also gut zu belaufen. Wer nun glaubte, wieder norddeutsch-flach einher traben zu können, sieht sich getäuscht. Unablässig reiht sich Hügel an Hügel, folgt Buckel auf Buckel.

Gespräche unter Läufern bleiben Mangelware. Dafür sorgen allein schon die großen Abstände, mit denen wir in diesem herrlichen alten Forst unterwegs sind. Und wenn doch einmal Sätze durch die Stille des Waldes hallen, so verstehe ich sie nicht. Merkwürdigerweise traben vor allem polnische Mitkämpfer gerne in Grüppchen zu zweit oder dritt. Häufig gebärdet sich einer als Wortführer und verbreitet seine Weisheiten mit unangebracht lauter Stimme. Stört mich das? Nur ein bisschen. Die lauthalse, fremdartige Intonation unterbricht immer wieder den Fluss meiner Gedanken. Weder sind die wertvoll, noch sonstwie von Belang. Aber ich mag es eben, auf einer so langen Strecke ziellos vor mich hin zu brüten. Nicht nur gut 40.000 Schritte aus bewegten Beinen, auch zahllose Bilder, Empfindungen, Ideen, Schlussfolgerungen, Irrtümer, Wenns und Abers puzzeln meinen Marathon.

Ein kurioser aber wunderschöner Campingplatz! Rechts trennen ihn Düne und ein paar Baumreihen vom weißen, feinsandigen Ostseestrand. Links des asphaltierten Zufahrtsweges, auf dem wir laufen, begrenzt ein Damm das Areal. Zwischen Damm und Sträßchen reiht sich Zelt neben Zelt und Wohnmobil neben Caravan. Dem Platz fehlt die Tiefe, dafür dürfen wir sicher zwei Kilometer weit das Camperdasein studieren.

Der Reiseführer beschreibt Usedom als stellenweise dicht bewaldete Insel. Vor allem hinter dem der offenen See zugewandten Sandstrand erstreckt sich ein breiter, kaum unterbrochener Streifen Laubwald. Überrascht bin ich somit lediglich von der Streckenführung, die uns auf etwa der halben Marathondistanz in eben diesem Forst vor der Sonne versteckt. Überrascht bin ich auch vom Anspruch des Streckenprofils. Eine Skizze in den Unterlagen zeigt zwar drei markante Erhebungen zwischen Kilometer 10 und 25, deren Höhendistanz beträgt jedoch harmlose 25 bis 30 Meter. Die vielen „Buckel im Hügel“ unterschlägt die grobe Auflösung notgedrungen; ebenso die Steilheit des Geländes. Gerade halte ich auf ein Schild zu, das 16 % Gefälle ankündigt. Der Gedanke ‚Gut, dass ich das nicht aufwärts laufen muss!‘ ist nur ein paar Minuten alt, als eine ähnliche Tafel mit 16 % Steigung droht. Und der Radweg macht die Drohung wahr …

Die Hälfte der Distanz liegt hinter mir. Wie viel Zeit vergangen ist? Ich weiß es nicht. Ganz bewusst widerstehe ich dem Impuls auf die Uhr zu schauen. Ich bin langsamer geworden – so viel steht fest. Und dafür sind nicht nur die Höhenunterschiede maßgeblich. Meine Beine fühlen sich schwerer an als nach halber Strecke zulässig. Wenn kein Wunder geschieht – die sind im Ausdauersport äußerst selten – wird es mich auf der Schlussetappe ziemlich beuteln.

Weiter durch den Wald, weiter im Auf und Ab des Buchenforstes. Zuschauer und Applaus wird auf diesem Abschnitt niemand erwarten. Dennoch postiert sich immer wieder zufälliges Publikum, Spaziergänger, Radfahrer oder Badegäste auf dem Weg zum Strand. Viele von ihnen – insbesondere jene weiblichen Geschlechts – sparen nicht mit Beifall. Zufall oder Regel? Bislang fiel mir nie eine ausgeprägte Empathie weiblicher Zaungäste auf – von Ines einmal abgesehen, der als Zuschauerin regelmäßig Stimmbänder und Hände schmerzen. Ach ja Ines! Meine Frau ist auf Halbmarathonkurs unterwegs: Start (10:30 Uhr) und Ziel im Peenestadion in Wolgast. Ein Blick zur Uhr sagt mir, dass sie inzwischen das Ziel erreicht haben wird.

Halblaut murmelnd liest jemand den Namen meines Vereins vom Rücken. Der Jemand schließt auf, entbietet ein lautes „Hannover grüßt Augsburg!“ und zieht mit raumgreifenden Schritten auf langen Stelzen davon. Mit leichter Verzögerung erwidere ich ein irritiertes „Hallo!“ und brüte über einer netten Denksportaufgabe: Was steckt hinter seiner im Wortlaut völlig klaren Formel „Hannover grüßt Augsburg!“? Will er einfach nur nett grüßen oder mir einfach seine Herkunft mitteilen? Erhoffte er sich ein Gespräch, um den Lauf in Kurzweil zu verkürzen? Aber warum rennt er dann vorbei und nun schon fünf Meter voraus? Sogar eine „interdisziplinäre Sportkameradschaft“ ziehe ich in Betracht, denn immerhin spielt der FC Augsburg seit dieser Saison mit Hannover in der ersten Fußballbundesliga. Vielleicht ist sein Spruch aber auch nur dem Umstand geschuldet, dass langes Schweigen manchen Menschen entsetzlich schwer fällt …

Die lange, an Buckeln reiche Waldpassage liegt hinter mir, derzeit geht’s auf einem Hochwasserdamm schnurgeradeaus und brettflach dahin. Pralle Sonne lässt den Schweiß in Strömen rinnen. „Die Sonne meint’s heute aber gut mit uns!“ meint der Hannoveraner, als er mich nach einem Verpflegungspunkt einmal mehr (und noch aufreizend leichtfüßig) überholt. „Dafür bin ich dankbar!“ halte ich dagegen „Mistwetter hatte ich lange genug!“ Als missfiele ihm meine Antwort, zieht er flugs davon und schließt zu einem Läufer des Tusem Essen auf. Die beiden wechseln ein paar Sätze, dann sieht auch der Westfale nur noch die Sohlen des langen Niedersachsen. Was er wohl von ihm wollte? Ein kurzes „Hannover grüßt Essen!“ loswerden oder jemand, der in Sachen „Sonne“ sein Empfinden teilt?

Der Damm knickt seewärts. Ich knicke mit und werde wenig später mit ultrakurzem Meerblick belohnt. Einmal mehr verschwinden wir auf dem Radweg im Wald, bis uns ein Streckenposten mit eindeutiger Geste landeinwärts schickt. Auf einem von vielen Regengüssen aufgeweichten Trampelpfad kostet das Laufen zusätzlich Treibstoff. Und von diesem Treibstoff schwappt in meinen Tanks nur noch eine Neige. Das merke ich in diesen Minuten und in Höhe der 30 Kilometer-Marke überdeutlich. – Urplötzlich spuckt uns der Trampelpfad auf die sonntäglich stark befahrene Bundesstraße 111. In Kolonnen sind Fahrzeuge in beiden Richtungen unterwegs; verlangsamt, weil für uns Läufer mit Pylonen ein Streifen abgeteilt wurde.

Nun folgt der sicher unattraktivste und nicht zuletzt deshalb auch härteste Streckenteil. Kilometer um Kilometer traben wir auf einem Radweg neben der Bundesstraße Richtung Wolgast. Autolärm, wachsende Erschöpfung und das gut heizende Zentralgestirn unseres Planetensystems schmieden eine unheilvolle Allianz. Viel zu früh beginne ich mit sehnsüchtigem Countdown: Noch 10, noch 9, noch 8 … Ich blicke umher: So flach stellt man sich Norddeutschland vor. Riesige Felder, weitgehend abgeerntet und von ein paar Busch- und Baumgruppen aufgelockert. Nicht unhübsch, aber eben völlig anders als die buckelige Waldlandschaft vormaliger Kilometer. Ein paar Wolken schieben sich vor die Sonne, was ich entgegen meiner Grundeinstellung nun doch begrüße. Dafür bremst jetzt Wind schräg von vorne. Bisher wehte er ablandig und damit genau von der Seite. Ich kämpfe hart und noch liegen sieben lange Kilometer vor mir.

Rechter Hand voraus, hinter einer Busch- und Baumreihe, steigt Rauch auf… Aus der Nähe besehen entpuppt sich der „Rauch“ als Staubwolke hinter einem arbeitenden Mähdrescher. Ein Koloss von einem Mähdrescher! Wie ein Panzer bewegt er sich auf Ketten vorwärts, um nicht vom Eigengewicht im Acker versenkt zu werden. Noch sechs Kilometer: Die gegnerische Sonne-Wind-Erschöpfungs-Allianz erhält Unterstützung von weiteren Buckeln. Mit Genuss hat der Marathon in dieser Phase rein gar nichts mehr zu tun. Es geht jetzt nur noch darum anzukommen – laufend natürlich. Dass von ein paar hässlichen, wie Gerippe in den Himmel ragenden Kranauslegern Hoffnung und Ansporn ausgehen könnte, hätte ich mir auch nie träumen lassen. Sie überragen die Hügel in Laufrichtung und gehören zur Peenewerft in Wolgast. Höchstens ein halber Kilometer trennt sie vom Zieleinlauf im Stadion …

Noch vier Kilometer. Ich fühle mich schwach wie selten und stöhne lautlos. Warum tut er sich das immer wieder an?, wirst du dich fragen. Vielleicht verleitet dich mein Jammern auch zu falschen Schlüssen. Kampf und Leiden gehören für mich zu jedem Marathon. Ganz gleich in welchem Tempo und unter welchen Umständen gelaufen: Das Finale tut weh. Hemmungsloses, inneres Wehklagen entspricht meiner Art mit der körperlichen Not umzugehen. Diese Taktik war in jedem Fall erfolgreich. Auch auf langen Ultradistanzen, wo einen körperliche oder mentale Tiefs mehrmals bedrängen. Ein schönes Marathonerlebnis ist optional, das Leiden sicher. Warum trotzdem so viele der langen Strecke verfallen, gehört zu den Geheimnissen der menschlichen Psyche.

Entlang einer doppelten S-Kurve der B 111 und neuerlich von Pylonen vor Autofahrern geschützt erreichen wir die Brückenauffahrt. Der Brückenschlag über den Peenestrom verbindet die Insel Usedom mit dem Festland. Mehrmals täglich wird das Mittelteil der Brücke von hydraulischer Titanenfaust hochgeklappt, um großen Schiffen die Weiterfahrt zu ermöglichen. Gerade passiere ich ein Schild mit dem Zeitplan für das Hochklappen. Der Zeitplan erklärt die exotische Startzeit des Marathons: Nur am frühen Nachmittag unterbleibt die Brückenöffnung für längere Zeit.

Wer das noch kann, genießt von der Brücke eine herrliche Aussicht auf Wolgast (westwärts voraus), die Werftanlagen (südwärts) und vor allem zahlreiche mit Schilf bewachsene Buchten des Peenestroms (nordwärs in Richtung Ostsee). Mir gibt der Anblick nichts mehr, erlebte ihn auch schon gestern Nachmittag, anlässlich eines Spazierganges. Sicher wirkt es auf Betrachter nicht so, doch zwischenzeitlich schleppe ich mich vorwärts. Die innere Warnlampe blinkt blutrot und meine Schritte werden immer unsicherer, tappsiger. Die ersten Häuser von Wolgast. Quer über die Straße und dann Richtung Werft. Plötzlich ein Anflug von Übelkeit. Oh nein! Bitte das nicht auch noch! Ein Streckenposten zeigt nach rechts in eine Seitenstraße. Noch zwei Kilometer und noch’n Buckel. Verdammt ist das hart. Flehen erhört, das ungute Bauchgefühl ist verschwunden. Lange Gerade in sanftem Gefälle: Dort unten, hinten, zweigt der Weg zum Stadion ab. Hier sollte ich auf dem Bürgersteig laufen, die Straße ist ungesichert. Aber ich scheue die vielen Unebenheiten, Bordsteinkanten und Grundstückseinfahrten, will jeden unnötigen Höhenzentimeter vermeiden.

Auf dem Weg zum Stadion – noch ein Kilometer: Hundert Meter übles Kopfsteinpflaster, Marke „DDR-uralt“. Egal. Schlimmer ist das da vorne, dieser letzte, recht heftige Anstieg. Von dem wusste ich, bin also geistig vorbereitet, was mir aber rein gar nichts hilft. Bin schwach, so schwach; trabe langsam, dann noch langsamer. Oh du dummer, blöder Ehrgeiz! Natürlich verpfände ich ganz zum Schluss nun doch wieder meine Läuferseele, will unter 3:45 h bleiben. Geb‘ ja zu, auf den letzten Kilometern immer wieder verstohlen Hochrechnungen angestellt zu haben. Und nun will ich diese Zeitmarke knacken. Dummer, blöder Ehrgeiz? Wohl eher ein Trick meines sportlichen Ichs, um durchzuhalten. Ein Kniff, der dem tendenziell Unerträglichen einen erträglichen Anschein und dem objektiv Nutzlosen einen Sinn verleiht. Und dann bin ich oben, wende mich nach rechts, laufe durchs Stadiontor, auf die Aschenbahn, entgegen der laufüblichen Richtung.

Noch zweihundert Meter. An Endspurt ist heute nicht zu denken. Noch bin ich nicht völlig am Ende, aber sicher kurz davor. Jede Zelle meines Körpers schreit vor Schmerz. Physisch sind die letzten Sekunden die schlimmsten überhaupt. Den sicheren Marathonsieg vor Augen nehme ich es nicht mehr wahr, lasse es nicht mehr an mich ran. Ein Hund kläfft. So entfesselt bellt nur Roxi, wenn sie mich erkannt hat. Noch 100 Schritte, noch 50 … und dann hab ich es geschafft.

Persönliches Fazit

30 Kilometer Laufgenuss + 12 Kilometer harter Kampf = Udos Usedom Marathon

Der Marathon quer über die Insel Usedom diente einzig dem Zweck meine Marathonerfahrung zu erweitern und ein weiteres Prachtstück in meine innere Sammelvitrine zu stellen. Sonne hatte ich mir erhofft und Sonne habe ich bekommen. Herrlich! Das zu schnelle Anfangstempo war natürlich ein Spiel mit dem Feuer und für meine Tagesform zu schnell. Dergleichen gestatte ich mir aus zwei Gründen: Erstens erreiche ich auch nach einem Einbruch laufend das Ziel. Diese Gewissheit schöpfe ich aus mittlerweile 78 Marathons und Ultras – darunter auch völlig verkorkste. Zudem beeinträchtigt eine brutale Schlussphase ein insgesamt tolles Lauferlebnis nicht.

Ergebnis: 3:44:53 h, Platz 8 in Altersklasse M55

Ines‘ und Roxis erster gemeinsamer Halbmarathon

Mit Roxi oder ohne sie? Auf den ersten Kilometern muss unsere Hündin immer an die Leine. Animiert vom laufenden Rudel vor ihr, lässt sie den Leinenführer in den ersten Minuten alles Ungestüm ihres wölfischen Wesens gepaart mit ungezügelter Lauflust spüren. Nach einem sportlichen Seitensprung im Klettergarten kämpft Ines noch mit Muskelkater in Armen und Schultern. Mal scheint es ihr unmöglich einen wild zerrenden Hund zu bändigen, dann wieder Roxi den Laufspaß vorzuenthalten. Schließlich obsiegt ein Paar treue, braune, unwiderstehlich bittende Hundeaugen. Wie ferngesteuert greift Ines nach der Leine und Roxi ist mit dabei ...

Start ist gleichfalls um 10:30 Uhr, im Peenestadion Wolgast. Bis zur Brücke über den Peenestrom deckt sich der Marathonkurs mit Hin- und Rückweg des Halbmarathons. Roxi beruhigt sich rasch und so kann Ines den Lauf in vollen Zügen genießen. Sie wählt ein vorsichtiges Tempo, denn die Vorbereitung auf den Wettkampf war „nicht wirklich üppig“. Nach der Brücke schwenkt das Läuferfeld Richtung Süden und erkundet einen von Landwirtschaft geprägten, leicht welligen Teil der Insel Usedom. Meist trabt Roxi ohne Leine im Kommando „Langsam!“ neben ihr, ab und an darf sie aber auch frei die Streckenränder erkunden. Ines hat von Beginn an Gesellschaft und macht erstmals die Erfahrung eines von A bis Z „verquatschten“ Halbmarathons. Nach zwei Wenden, viel Sonne, etwa 100.000 gesprochenen Worten und neun Viertelstunden ungetrübten Laufvergnügens sind Ines und Roxi im Ziel.

Ergebnis: 2:16:32 h, Platz 12 in Altersklasse W40

Veranstaltungsfazit

Der Usedom Marathon wartet mit einer auf den ersten 30 Kilometern ungemein attraktiven Strecke auf, die alle Geschmäcker bedient: Die Kuriosität des Grenzübertritts ist hier zu nennen, zehn Kilometer mondäne Strandpromenade, einen Halbmarathon weit hügeliger Waldlauf und vieles mehr.

Dem Veranstalter muss man großes Lob zollen. Alles verlief reibungslos und nach Negativkritik sucht man wirklich mit der Lupe. Einzig erwähnenswert sind die fehlenden Km-Tafeln eins und zwei in Polen (Allerdings kann ich nicht völlig ausschließen, sie einfach übersehen zu haben.)

 

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