Ultralauf-ABC  –  Harzquerung 2011

Ich bin überwältigt, entzückt, verzaubert. Jedenfalls auf jenen, oft kurzen Wegstücken, wo ich es riskiere, den Blick vom Boden zu lösen. In allen Richtungen liegt Harz – Unmengen von Harz, heute in zwei beherrschende Farben getaucht: Unten grün, oben blau. Der Frühling feiert eine zügellose Orgie, besäuft sich mit Natur und strahlendem Sonnenschein.Wir laufen von Wernigerode – das liegt am Nordrand des Harzes in Sachsen-Anhalt – ziemlich genau nach Süden. Ziel ist Nordhausen in Thüringen, wo der Harz hügelig in einer Ebene ausläuft. „Wir“ das sind ungefähr 550 Männer und Frauen, alle auf dieselbe Weise verrückt. Widerspruch nicht zugelassen! Kein normaler Zeitgenosse kommt auf die Idee 51 Kilometer bergauf, bergab, am Stück zu laufen. So ein Unternehmen erfordert viele hundert Laufkilometer Vorbereitung und das vollbringen nur Sonderlinge – eben „wir“.

Meine Laufschuhe hinterließen noch nie Abdrücke in diesem Mittelgebirge. Der Harz ist ganz anders als ich ihn mir vorgestellt habe – zumindest hier. Ich war schon mal im Harz, aber nicht „richtig“, nur ein „bisschen“. Zwei Stunden oder so. Vor zwei Jahren, um Roxi aus Clausthal-Zellerfeld und ihrem damaligen Rudel zu „entführen“. Nein, eigentlich keine Entführung; die geschieht in der Absicht nach Zahlung eines Lösegelds die Geisel wieder freizulassen. Und das wollten wir natürlich nicht. Nie mehr. Wer Roxi ist? Na, unsere dreijährige Hündin. Was die in einem Laufbericht zu suchen hat? Ganz einfach: Sie quert mit mir zusammen den Harz. Augenblicklich erkundet sie dort vorne, irgendwo zwischen anderen Läufern, die Route – kann sie grad nicht sehen ... Aber halt! Wahrscheinlich überfordere ich dich mit diesem wortschwalligen Kuddelmuddel. Ich sollte wohl bei „A“ wie „Absichten“ oder „Alle rennen los“ beginnen und mit „Z“ wie „Zielverpflegung“ aufhören. Ordnung muss sein in einem Laufbericht.

Absichten

Ich war Ultraläufer und ich möchte wieder einer werden – heute. Dazwischen, in den Jahren 2009 und 2010, liegen Verletzung, Laufpause, Frust und Wiederaufbau bis zum Marathon. Details erspare ich dir. Von der Harzquerung erhoffe ich eine Trainingswirkung für die Langzeitausdauer. Oh mein Gott! Es ist schon wieder so weit, bin schon wieder in der Not einen solchen Satz verfassen und dann rechtfertigen zu müssen. Wie elitär und überheblich mag er in deinen Ohren klingen. So isses aber mitnichten gemeint. Ultras rennen nun mal stundenlang durch die Botanik. Zudem lautet mein Saisonziel „100 km rund um Ulm“ am 1. Juli. Und eine Etappe auf dem Weg dorthin verläuft quer durch den Harz. Training also – ergo sollte mir die Laufzeit schnuppe sein. Der Ehrgeiz ist aber selten ganz auszumerzen, verträgliche 5:15 h bis 5:30 h sollten wohl drin sein.

Diesem sportlichen Zeitziel stellt sich nicht nur der Kurs durch den Harz in seiner horizontalen (51 km), wie vertikalen Ausdehnung (1.200 Hm) in den Weg. Es fehlt auch die volle Erholung, mit der man notwendigerweise in so einen Lauf geht, wenn er als Wettkampf gedacht ist. Vor zwei Wochen lief ich im Spreewald einen flachen Marathon am Anschlag und der letzte 30 km-Trainingslauf datiert vom vergangenen Wochenende. Auch an den übrigen Tagen hat man mich das Haus in Laufschuhen verlassen sehen. Also erwarte ich, dass die Ermüdung frühzeitig einsetzen und mir zumindest das letzte Drittel Harzabenteuer vergällen wird.

Und dann ist da noch Roxi, meine Begleiterin auf fast allen Trainingsstrecken. Ich habe nun mal den Herzenswunsch Roxi heute den ersten Ultralauf ihres Hundelebens zu spendieren und auch das bedeutet erfahrungsgemäß Zeiteinbußen. Wodurch und wann? Lass dich überraschen …

Alle rennen los …

Mein Rucksack mit Bekleidung, Waschzeug und Zielverpflegung (für Roxi!) ist auf der Ladefläche eines Klein-Lkw unterwegs nach Nordhausen. Roxi tippelt in verhaltener Aufregung und an der Leine neben mir her; sanft bergwärts, denn der Start liegt ein Stück entfernt, am Ortsrand von Wernigerode, bereits unter den ersten Bäumen der bewaldeten Harzhöhen. Tempozurückhaltung ist heute zwar Trumpf, dennoch werde ich vermutlich flotter unterwegs sein als ein Großteil der anderen. Aus diesem Grund will ich mit Roxi außen am Feld vorbei und einen Platz im ersten Drittel suchen. Aber dazu kommt es nicht. Bereits am Ende des Feldes werden wir von Stefan eingefangen. Drei Jahre liegt unsere letzte Begegnung zurück, entsprechend ist das Hallo. Roxi pflegt derweil eigene soziale Kontakte, kokettiert schwanzwedelnd vor vierbeiniger Laufkonkurrenz. Beide Rüden – ein Husky und ein nicht näher bestimmbarer, dunkelfelliger Gigant – benehmen sich freundlich, schnüffeln aber am falschen Ende von Roxi. Als Folge dieses gattungsüblichen Kennenlern-Rituals dreht sich wie immer das Hundekarussell. Mit Augen und Händen versuche ich Roxi, mit Mund und rechtem Ohr Stefan gerecht zu werden. Bevor meine koordinativen Hirnfunktionen im unweigerlich bevorstehenden Systemabsturz zusammenbrechen, knallt es. Hoppla! Das war der Startschuss und wenige Sekunden danach traben alle an.

Der Schuss gilt ihr nicht als Signal. Aber hunderte Beine, die sich plötzlich alle in dieselbe Richtung bewegen, aktivieren Roxis zweitstärksten Trieb: Laufen! Nach zwei Marathonerfahrungen mit Roxi und schmerzhaften Einschnürungen am Handgelenk, bin ich diesmal bestens vorbereitet. Der improvisierte, dünne Führstrick liegt diesmal diagonal um meinen Oberkörper. Roxis anfängliches Zerren stört also weniger als sonst. Hat sich das Feld entzerrt, werde ich das Seil lösen und Roxi freigeben. Es geht bergan, sofort, kontinuierlich und unter prächtigen Laubbäumen: Buchen, Ahorn und Birken locken mit frischem Grün eines noch nicht gänzlich geschlossenen Blätterdoms. Roxis ungestümer Aufgalopp lenkt mich von Stefan ab. Oder ist es umgekehrt? Unglaublich, was sich in der vergleichsweise kurzen Spanne von drei Jahren alles bei ihm ereignet hat, läuferisch und auch sonst.

Barrieren

Langsam geht’s voran, sehr langsam. Mehrmals erzwingen schmale Pfade einen Gänsemarsch. Was soll’s, Zeit spielt keine Rolle, so lange ich nur laufen kann … Kann ich aber nicht. Nur wenige hundert Meter nach dem Start stockt das Feld und wir stehen. Gehen. Stehen. Stückchen tippeln, bisschen traben. Wieder Stau. Stefan informiert mich derweil munter weiter, verspricht aber bald mit der Beschallung aufzuhören. Macht er aber nicht. Ist auch nicht schlimm, jedenfalls nicht heute und nicht bei Stefan. Nervig ist allein nicht laufen zu können. Normalerweise ertrage ich derlei Unbilden schweigend. Heute kommt mir Stefan gerade recht. „Dieses Gezuckel ist aber nix für mich!“ reibe ich ihm an die Backe und dann: „Ich bin zum Laufen hier und nicht zum Gehen.“ Stefan kennt die Strecke und drosselt meinen Unmut mit dem Versprechen baldiger Besserung. Bald ist relativ. Erst nach zwanzig Minuten und steilem Aufstieg durch einen V-förmigen Geländeeinschnitt gibt es Gelegenheiten das Lauftempo selbst zu bestimmen.

Ciao Roxi!

Der engen Pfade und diversen Stockungen wegen, trabt das Feld noch dicht gestaffelt. Nach meinem Geschmack zu dicht, um Roxi in die Freiheit zu entlassen. Andererseits bin es leid, sie ständig verbal oder per Strick an die Kandare zu nehmen. Wir halten, ich verstaue die Leine und zwinge sie noch ein kurzes Stück am Fuß zu laufen. Als die Läuferschlange einen „ausreichend ausgedünnten“ Eindruck erweckt, hört Roxi ihr Lieblingskommando – „Lauf!“ – und weg ist sie …

Da sie nicht jeden Absatz dominieren soll und du Hellseher sein müsstest, um Roxi zwischen den Zeilen springen zu sehen, will ich ihren „Doggy Way of Running“ vorab zusammenfassen: Für Roxi ist Wettkampf wie Training – nur aufregender. Sie zischt voraus, erkundet das Terrain, erschnüffelt gelegentlich Interessantes neben der Route und überprüft in kurzen Abständen, ob der Rudelführer folgt. Der gerät schon mal außer Sichtweite. Dann bleibt sie stehen oder trottet langsam zurück und „scannt“ jeden der lahmarschig entgegen zuckelnden Zweibeiner. Hat sie mich identifiziert, rast sie wieder los, um ihren Auftrag zu erfüllen, den niemand kennt und den ihr keiner erteilt hat.

Warum sie so gerne rennt? Wie jeder Nachfahre des Wolfes gehorcht Roxi Urinstinkten, die das eigene Überleben, das des Rudels und der ganzen Art sichern sollen. Futtersuche und Paarungstrieb – um Beispiele zu nennen – bringen sie aber nicht dazu freiwillig 50 km durch den Harz zu rennen. Paarung ist schon lange kein Thema mehr (böse Menschen!) und zu fressen gibt’s beim Laufen regelmäßig auch nichts (das wird heute ein klein wenig anders sein, was sie aber nicht wissen kann). Tatsächlich ist Roxi von einer unbändigen, zuweilen explosiven Lauffreude geprägt. Plötzliche Sprintrunden neben der Laufstrecke – ansatz- und grundlos – gehören zum Trainingsalltag. Ich kann nicht mit ihr sprechen, sie nur sehr eingeschränkt verstehen. Dennoch bin ich sicher, dass sie pure Lebens- und Lauflust antreibt. Also genau jenes Motiv, das Läufer zu besessenen Ultras mutieren lässt …

Durchschnitt mau

Nach dem Ableinmanöver war er weg, jetzt habe ich Stefan eingeholt. Vorhin bezifferte er unser Durchschnittstempo auf 10 min/km. Derweil haben wir uns auf sagenhafte 8 min plus X pro Kilometer gesteigert. Stefan wurmt das ein wenig. Wenn er läuft, will er auch eine achtbare Zeit abliefern. So nervig die ersten Kilometer verliefen, inzwischen empfinde ich die Auftaktverzögerung als befreiend. Meine Zielzeitgelüste sind verflogen, reiten wenige Stunden vor Walpurgis auf einem Hexenbesen Richtung Brocken. Mit jedem Schritt, jedem Blick, jedem Atemzug kühler Harzluft wächst meine Unbeschwertheit und ich ahne: Heute ist so ein Tag, an dem sich alles zu einem wunderbaren Lauferlebnis fügen wird.

Endlich freies Laufen

Ich kenne keinen Bewerb mit vergleichbarer Teilnehmerzahl, wo die Läufer eine Dreiviertelstunde nach dem Start einander noch derart auf der Pelle hängen. Wenigstens kann nun jeder sein Tempo frei bestimmen – überwiegend jedenfalls. Durch die Bäume schimmert eine Wasserfläche und übergangslos tappen die Füße auf fein gepflastertem Untergrund. Über die Staumauer gilt es das gegenüberliegende Ufer eines herrlichen Sees zu erreichen. Von Menschenhand geschaffen, ersäufte der einst das ganze Tal. Doch niemand, der – an einem strahlenden Frühlingstag wie diesem – meinen Blicken folgt, wird das bedauern. Über dem spiegelnden Dunkelblau unergründlicher Tiefen wölbt sich das Lichtblau der Sphären, geteilt und zugleich vereint vom Grün bewaldeter Ufer. Keine andere Jahreszeit malt mit so vielen Schattierungen von Grün. Fröhlich frisches Blattwerk stimmt selbst schwermütig düstere Fichten heiter. Das Leben bricht auf zur nächsten Runde …

Diverse Schnappschüsse dieser spektakulären Ansicht – stehend, damit nix verwackelt – kosten mich neuerlich Zeit und Stefans Gesellschaft. Drüben, am Ende der Staumauer und bergwärts, habe ich die Wahl mich vor Stufen anzustellen, oder mit kleinem Umweg außen zu überholen. Ich entscheide mich für den weiteren Weg und mache einige Plätze gut.

Foris

Im Nadelwald orientiert sich der Weg grob am Verlauf des Seeufers. Kälte und Halbdunkel umfangen uns, so dicht stehen hier die Fichten. Auf den Spiegel des Sees gestatten sie nur begrenzte Blicke, wie durch die Schießscharten einer Burg. „Hallo Udo!“ Wieder einmal bin ich entdeckt, einmal mehr verraten von Roxi. Schon auf dem Parkplatz in Wernigerode hörte ich erstmals eine Schlussfolgerung ähnlich dieser: „Wo Roxi läuft, kann Udo nicht weit sein.“ Den Traildachs – so sein Nick im Forum – traf ich vor zwei Wochen anlässlich des Spreewald Marathons, hier hatte ich ihn allerdings nicht erwartet. „Spontan“ habe er sich zur Teilnahme entschlossen. Die nette Plauderei verkürzt uns Zeit und Strecke.

Gefühle

Das ist mir so auch noch nie passiert: Durch die vielen Begegnungen, Gespräche, Stockungen, mein Augenmerk auf Roxi und den Fototermin am See ist mir jegliches Zeit- und Raumgefühl abhanden gekommen. Die fordernde Strecke, das stete Auf und Ab mit ständig wechselnden Untergründen, tut ein Übriges. Schmale, mit altem Laub bedeckte Pfade wechseln mit tiefen Waldwegen, auf denen reihenweise Wurzeln zum Stolpern einladen. Mal selten benutzte, grasbewachsene Wirtschaftswege, dann wieder holpriger Boden, von schweren Maschinen zerfurcht und aufgeworfen. So etwas wie ein Laufrhythmus konnte sich bei diesen Verhältnissen bislang nicht einstellen. Erstaunt stelle ich fest, schon fast zehn Kilometer und über eine Stunde unterwegs zu sein und kaum auf innere Signale geachtet zu haben. Alle inneren Ampeln stehen auf grün, was meine Zuversicht weiter befeuert und den Spaßfaktor erhöht.

Hast du keinen Durst, Roxi?

Zehn Kilometer vorbei, dann elf. Wo bleibt eigentlich die erste Verpflegungsstation? Der Forerunner meldet 11,5 Kilometer, als wir nach abschüssigem Wegstück und direkt am Bachufer auf das reichhaltige Büffet stoßen. Zunächst deponiere ich Roxi ein Stück abseits („Platz!“ und „Bleib!“), dann genehmige ich mir diverse Becher Iso. Und nur Iso. Feste Kost, unter anderem Butterbrot und Schmalzstullen, verschmähe ich. Noch ein Becher Iso muss rein (schon wölbt sich die Bauchdecke), nachtanken kann ich erst wieder bei Kilometer 20. Jetzt ist Roxi dran … Wo ist Roxi? Nach kurzer Suche entdecke ich sie zwischen Läuferbeinen, natürlich mit der Nase dicht am Boden, nach Krümeln fahndend. Ich führe sie zu einer flachen, kiesigen Stelle am Bach und gebe ihr zu verstehen, was ich will: „Wasser, Roxi, Wasser!“ Vierbeinig kühlt sie ihre Pfoten im klaren Bach, denkt aber nicht daran zu saufen. „Hast du keinen Durst Roxi?“ Keine ernst gemeinte Frage, eher eine Feststellung, um guten Gewissens wieder in den Wettkampf einzusteigen.

Idylle

Auf breitem Wirtschaftsweg begleiten wir den Bach auf seinem Weg im allmählich abfallenden Talgrund. In viel zu schnellem Bildwechsel verdrängt eine herrliche Ansicht die vorige. Mit ein paar Schnappschüssen rette ich die Eindrücke einer lichtdurchfluteten Idylle vor dem Vergessen. Wer vollbringt schon das Kunststück, 50 Kilometer rasch vorbei ziehender Landschaftsbilder im Kopf zu behalten? Da und dort wurzeln bemooste Baumveteranen im grünen Uferteppich. Vom Frühling noch nicht wachgeküsst, recken sie ihre kahlen, verkrüppelt wirkenden Kronen in den Morgenhimmel. Schräg einfallendes Sonnenlicht erzeugt ein reizvolles Schattenspiel, malt hier in Pastelltönen, tüncht dort mit kräftig leuchtenden Farben. Den Bach ficht das nicht an. So oder so und seit abertausend Jahren gurgelt er betulich langsam zwischen graubraunen Steinen talwärts.

Jähes Ende

Eine Straße bereitet der Beschaulichkeit kaum fünf Minuten später ein jähes Ende. Mit Roxi am Fuß quere ich den Asphalt und passiere einen malerisch gelegenen Teich, dem anscheinend bereits etliche, entzückte Besucher zu Nahe getreten sind. Immerhin errichtete sein Besitzer ein Bollwerk aus Bretterzaun und Verboten gegen Unbefugte: „Privatteich, Angeln verboten, Hundebaden verboten“.

Und wieder aufwärts und ab vom Weg. Einmal mehr folgen wir einer Pfadspur im Forst – sozusagen „cross country“: Rutschig, stollig, bollig, kurz hinab, in weitem Satz über aufgeweichte, unsichere Erde, ein Rinnsal auf betoniertem Steg querend und an steilem, grasigem Gegenhang hinan. Hinter mir spricht jemand aus, was ich denke: „Bei Regen möchte ich hier nicht laufen!“ Beinahe minütlich streift sich der Wald ein anderes Kleid über, wobei auf diesem Abschnitt Nadelwald dominiert. Breite Waldwege kreuzen wir meist nur, tauchen unmittelbar danach zwischen Fichten verschiedenen Alters unter. Schon wieder im Abstieg fordern zahlreiche Hindernisse meine volle Konzentration. Mit dem letzten, beherzten Sprung lande ich auf einem breiten Waldweg, nur um ihn mit zwei weiteren Sätzen wieder zu verlassen. Ich folge Roxi über einen Holzsteg und jenseits des Baches in wurzelbewehrter Spur bergan. Nach 15 Kilometern spüre ich bereits die Anstrengung, jedoch von keinem negativen Körpersignal begleitet. Alles in Butter und soweit er auf diesem beständig wechselnden Geläuf überhaupt möglich ist, habe ich meinen Laufrhythmus endlich gefunden.

Kopf einziehen!

Auch das Drehbuch des spannendsten Krimis gewährt dem Zuschauer Atempausen. Eine solche hält die Route jetzt bereit, gönnt mir beschauliches Laufen auf ebenem Untergrund, samt ausgedehntem Blick über eine breite, als Futterwiese genutzte Waldschneise. Andererseits weiß der erfahrene Thrillerkonsument: Regisseure nutzen Phasen der Ruhe, um den nächsten Augenblick des Schreckens gekonnt in Szene zu setzen. Ein paar Schritte abseits sicheren Geläufs und schon verlegt uns ein vom Sturm gefällter Baum den Weg. Kopf einziehen und gebückt drunter durch.

Stückweit voraus tut sich was. Einzelne Zuschauer bedenken die Läuferkarawane mit Anfeuerungsrufen. Eine Frau – nach Alter und Aufmachung urteilend, eher nicht das typische Cheerleader Girl – unterstreicht ihre Begeisterung mit zwei fluffigen Pompons, die sie wild, mit hochgereckten Armen schüttelt. Wie lange steht sie schon da und wie lange kann sie den Einsatz noch durchhalten? Mein morgiger Muskelkater ist ungewiss, ihrer sicher. Roxi bekundet kein Interesse an diesem Schauspiel, trabt munter weiter … Linkskurve … Rechtskurve … aus den Augen und ein bisschen auch aus dem Sinn. Ich hätte es wissen müssen! Wo Zuschauer stehen, kann die Straße nicht weit sein. Ich rufe nach Roxi, doch es ist zu spät. Gerade biegt sie mit Läufern auf die Straße ein. Zwischenspurt und Schrei: „Roxi! Zu mir!“ Absperrposten trennen die Läufer von den Autos. Zwei, drei rollen gerade aus, zu nah an Roxi. Gefährlich? Weiß nicht, zumindest peinlich. Der Vierbeiner trottet mit verständnislosem Blick auf mich zu: ‚Was will Herrchen denn jetzt schon wieder?’ Hundert Meter Straße, Hund am Fuß, dann zurück zur Natur. Während Roxi – befreit von Zwängen – im Affenzahn über die Auwiese fetzt, reduziere ich den Adrenalinspiegel im Blut. Quer durch die Wiese auf ein Brücklein zu, auf diesem über die Kalte Bode (noch Bach oder schon Fluss?), an dieser und dem Waldsaum entlang. Trinkpause für Roxi am flachen Ufer, Fotopause für mich.

Laufen, nicht Gehen

Der flache Streckenabschnitt ist zu Ende. Als plötzliche Serpentine über bolliges Gras wendet sich der Weg nach oben und wird steiler. Wie mehrmals zuvor, schalten die meisten in die Fortbewegungsart Gehen zurück. Manchmal, bergauf, mit Beinen dick wie Brückenpfeiler, wenn mein Herzmuskel Blut im Volllastbetrieb durch die Adern quetscht und alles Denken in unablässiger Qual versinkt, dann beneide ich euch. Ihr, die ihr geht und euch nicht mit meiner Maxime geißelt. Aber was soll ich machen? Für mich gab es nie ein anderes läuferisches Selbstverständnis als dieses: Ich laufe die komplette Strecke. Unterbrechungen und Gehen kommen nur in Frage, wenn ich dazu gezwungen bin. Fehlt mir mutmaßlich die Ausdauer, einen Bewerb in dieser Manier zu überstehen, kommt er für mich nicht in Betracht.

Ganz langsam steppe ich aufwärts, nähere mich zwei identisch schwarz gewandeten Läuferinnen. Roxi taxiert gerade mal wieder jeden Passanten mit Nase und Augen, sucht mich, findet mich, saust davon. „Vielleicht hört er ja schlecht?“ meint die rechte zur linken Schwarzen. Zweifelsohne meint sie Roxi und deren undurchschaubares Verhalten. Auf gleicher Höhe tippelnd fällt mir dann kein aufklärender Satz ein, der kurz genug wäre, um ihn zwischen zwei Atemzügen an die Frau zu bringen. Vorbei. Vorbei an den Damen und vorbei die Gelegenheit.

Gerade öffnet sich ein prachtvoller Blick Richtung Nordwesten über die bewaldeten Höhen des Harzes. Kurzer Fotostopp, dann weiter. Die Bedingungen sind zwei Stunden nach dem Start weiterhin ausgezeichnet. Kühle Luft und häufige Baumschatten verhindern übermäßigen Schweißverlust. Und wenn’s mich gerade mal wieder fröstelt, wärme ich mich in einer sonnigen Lichtung wieder auf.

Mischwald

Erstaunlich dieser Wald! In manchen Abschnitten ändert er binnen weniger Minuten mehrmals sein Gesicht. Gerade rannte ich noch im Schatten bejahrter Fichten, dann flankierte frisches Birkengrün den Weg und nun behindern Gewächse in Weihnachtsbaumgröße meinen Blick zu einer Hochebene. Querab mache ich eine Traube von Menschen aus, wir nähern uns dem zweiten Verpflegungspunkt.

Noch’n Becher

Kurz vor der Tränke weisen gelbe Schilder den Weg: Gerade aus auf die kürzere 25 km-Strecke, links ab für die Ultras. Roxi schicke ich seitlich ins Gras. Mit Wälzen und wohligem Brummen demonstriert sie, wie gut es ihr dort gefällt. Mich dürstet nach … ? Die Wahl fällt auf Cola und innerhalb weniger Sekunden füllt sich mein Bauch wie eine Talsperre. Noch’n Becher und noch einer. Nur die Furcht vor „natürlichem Überlauf“ gebietet mir Einhalt. Wieder offeriert die Theke Schmalz- und Butterstullen. ‚Liegt hier nirgendwo ein Stück trockenes Brot herum?’ Fehlanzeige. Also schnappe ich mir eine halbe Scheibe Butterbrot und beiße ab, bis ein fettfreier Kanten übrig bleibt, der Roxi als Leckerle durchaus mundet.

Ob er es ins Ziel geschafft hat?

Aufstoßen und Schwappen im Bauch lassen allmählich nach. Wieder gilt meine volle Aufmerksamkeit dem Boden. Bloß kein Fehltritt auf diesem erneut recht „crossigen“ Geläuf. Drei, vier Mitläufer kämpfen vor mir mit den Tücken des Kurses, scheinbar querbeet im Wald und nur von Markierungen auf Kurs gehalten. „Was ist los mit dir?“ fragt einer seinen Vordermann und erregt meine Neugier. „Hab Probleme mit dem Kreuz!“ antwortet der und sucht erkennbar vorsichtig eine Furt durch dieses Meer aus Knubbeln, verdeckten Löchern und lose herum liegenden Knüppeln. Gerade setze ich zum Überholen an, als mich ein halb erstickter Schmerz- und Schreckenslaut alarmiert. Mit einem Messer im Rücken steht der Mann da, wie schockgefroren, in der Wirbelsäule verbogen, die Arme verkrampft und stocksteif vom Körper abstehend. Sofort läuft vor meinem inneren Auge ein Horrorfilm, mit seinen Kameraden und mir in der Hauptrolle, ihn beidseitig stützend und mit qualvoll verzerrtem Gesicht aus diesem Wald tragend. Doch dann trabt er wieder an und verbreitet Zuversicht: „Wenn ich laufe dann geht es!“ Aufmunternde Worte, wohl mehr an sich selbst, als an seine Begleitung gerichtet. Ob er es ins Ziel geschafft hat?

Prachtvolle Natur

Übergangslos renne ich aus dem Halbdunkel des Waldes in blendende Helligkeit. Der Hunger auf hübsche Fotos bringt mich alsbald zum Stehen. Ein einzelner, nicht mal besonders großer Baum inmitten von Wiesen hat es mir angetan. Fotogen beherrscht er die Szene, lässt sich vom gelben Schimmer des Löwenzahns schmeicheln. Etwas weiter rechts, Richtung Osten, verliert sich mein Blick im Dunst der Ferne. Beinahe widerwillig falle ich wieder in Trab … Alle paar Sekunden möchte ich nun stehen bleiben, schauen und mit der Kameralinse Erinnerungen einfangen. Aber dafür bin ich nicht hier. Und so verhalte ich nur noch einmal meinen Schritt, oberhalb der Ortschaft Trautenstein, vor einer saftig grünen Viehweide. Malerisch, harmonisch, friedvoll, zauberhaft – weder einzeln, noch in der Summe vermögen diese Worte zu beschreiben was ich sehe …

„Vorsicht!“ Die Warnung eines nachfolgenden Läufers reißt mich jäh aus träumerischer Betrachtung. Immerhin stehe ich mitten in der schmalen Spur und dies ist eine Ultralaufveranstaltung. Roxi hat nur auf eine Bewegung gewartet und zeitgleich nehmen wir das Rennen wieder auf. Am Fuß trottet sie mit mir durch den kleinen Ort. Eine Wohnstraße, leicht abschüssig, ein Stück Hauptstraße, dann links ab und schon gewinnt uns die Natur zurück. Und was für eine Natur! Kaum etwas bringt mich mehr ins Schwärmen als ein ganz und gar sich selbst überlassener Wasserlauf. Wie er zwischen viel- und dünnstämmigen Ufergewächsen mäandert, über Steine plätschert, Sandbänke anhäuft und tiefe Kuhlen spült. Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Orten ist eine Gerade, die schönste dieser Bach. Ein Sinnbild für vieles: Umwege genießen – nicht mit dem Kopf durch die Wand wollen – Rücksicht nehmen – sich Zeit lassen …

Quasi-Barfußschuhe

Wie schade, dass ich genau davon in einem Wettkampf zu wenig habe – Zeit. Nach knapp zwei Kilometern idyllischer Aulandschaft wenden wir uns dem Wald zu und natürlich aufwärts – abwärts – aufwärts – abwärts. Wir nutzen ausschließlich Pfadspuren, entsprechend vorsichtig gehe ich zu Werke. Wurzeln, Steine, Stöcke, Kuhlen, Schollen, Knollen – völlig unmöglich hier hundertprozentig fehlerlos zu laufen. Einmal knalle ich mit dem rechten Fuß gegen ein Hindernis, das sich im Waldschatten verbirgt. Stolpern, straucheln, erschrecken, abfangen, alles eins – Glück gehabt! Ich denke an den Mann in den Leichtschuhen, der eine Weile vor mir her lief. In meinem Schuhschrank stehen ebensolche Quasi-Barfußschuhe, doch käme mir nicht in den Sinn einen Ultra – schon gar keinen so „crossigen“ – in diesen Tretern zu absolvieren. Aber vielleicht wäre ja genau das die richtige Strategie. Je weniger Material den Fuß isoliert, umso vollständiger, früher und genauer beschreiben seine Rezeptoren den Untergrund. Besser kann man die Laufkoordination des Nervensystems nicht unterstützen. Nur geht das nicht von heute auf morgen, die Füße müssen sich an die zusätzliche Belastung gewöhnen. Und billig ist das auch nicht, weil diese Schuhe schneller verschleißen.

Risiken

Ein gähnender Abgrund tut sich vor mir auf. Jedenfalls empfinde ich es so, als ich vorsichtig, bremsend, tastend diesen gefährlich abschüssigen Teil des Sophienhofer-Stieges bewältige. Mit Laufen hat das nichts mehr zu tun. Vielleicht kann man da runter laufen. Mir ist das Risiko zu hoch und den anderen – das sehe ich aus dem Augenwinkel – geht es ebenso. Wie übersteht man bei Regen diesen Hang ohne Sturz? 50 Meter, 60, keine Ahnung wie viele, dann bin ich unten, überquere einen Waldweg und arbeite mich gegenüber wieder hinauf.

Ich mag echt nicht jedes Mal erwähnen, wie mich der Weg rannimmt, besonders aufwärts. Aber verdammt! Genau so ist es. Schweiß rinnt trotz der Kühle des Waldes an den Schläfen herunter. Was mit Roxi ist? Die macht ihr Ding. Steht schon da oben auf dem …? Das ist doch … sieht aus wie ein … Bahndamm. Charakteristisch der angehäufte Schotter und oben angelangt erblicke ich folgerichtig die Schienen. Sicher eine aufgelassene Strecke, hier mitten im Wald. ‚Aber wieso glänzt dann das Eisen wie poliert? Und diese Leute dort hinten, vor dem kleinen Häuschen, was tun die da?’ Langsam dämmert mir, gerade über die metallenen Schwellen der Harzeisenbahn zu laufen. Die schmale Spur des Gleises bestätigt meinen Verdacht. Und ich hab Roxi mal einfach so laufen lassen. Was, wenn … ? ‚Aber darauf war ich nun wirklich nicht vorbereitet und außerdem kommt hier höchstens einmal im Jahr ein Zug vorbei’ versuche ich mein Gewissen zu erleichtern. Ich konnte noch keine 200 Meter zwischen mich und den Schienenstrang bringen, als ein kräftiges, sehr nahes Pfeifen in meinem Rücken ertönt. Offenbar ist das Jahr gerade wieder um … Oh heilige Einfalt, dein Name ist Udo!

Sympathisch

Wieder bleibt der Wald zurück, empfangen mich Sonnenschein und Wiesen. Vor mir liegt der Weiler Sophienhof und die dritte Verpflegungsstelle. Noch während ich Roxi platziere, vernehme ich nach langer Pause wieder Stefans Stimme. Er stellt mir seine sympathische Frau vor und reflexartig streckt sich ihr meine sicher nicht mehr taufrische Hand entgegen. Na ja, nach 31 anstrengenden Kilometern funktioniert das Oberstübchen halt nicht mehr in allen Segmenten stilsicher. Jedenfalls schüttelt sie mir ohne äußere Anzeichen von Abscheu die Hand und fragt ungerührt, ob sie Roxi eine Kaustange geben darf. Natürlich habe ich nichts dagegen, trage jedoch seit diesem Moment eine quälende Frage mit mir herum: Wieso hat die Frau ein Hundeleckerchen in ihrem Beutel? Zugegeben: Frauenhandtaschen beherbergen massenhaft Gegenstände, auch überraschende und mysteriöse, sogar diverse funktionelle. Aber prophylaktisch Hundeleckerchen? Vielleicht für den unwahrscheinlichen Fall der Begegnung mit einer reißenden Bestie und deren Besänftigung? Roxi ist das egal, in Windeseile mampft sie die Stange, muss dann allerdings warten bis Herrchen seinen Bauch wieder mit Cola druckbetankt hat.

Noch ein paar Sätze, dann verabschiede ich mich und nehme Roxi an den Fuß. Keine Minute vergeht bis das winzige Dörfchen hinter uns liegt und wir – vorbei an einem zauberhaft angelegten Fischteich – wieder dem Wald zustreben. Laubwald hüllt uns ein, lichtgrün, vom Wind bewegt und leise raschelnd. „Gar nicht so leicht dich einzuholen!“ schallt von hinten Stefans Stimme. Ab jetzt unterhält er mich wieder ein paar Minuten, während wir auf schmalem, aber gutem Pfad immer mehr an Höhe verlieren. Nach zehn Minuten und immerhin 200 Höhenmetern ist der Talgrund erreicht. Unschwierig geht es dahin, auf breitem Waldweg und malerisch am Bach entlang. Lichtreflexe im Wasser, strahlend hellgrünes Laub an dünnen Ästen und über allem der blaue Himmel. Stefan schweigt. Brachte ihn die ergreifend schöne Ansicht zum verstummen?

Näher rückende Schritte der Verfolger bringen in Erinnerung, dass ich eigentlich zum Laufen hier bin. Und dieser minimal abschüssige Weg eignet sich hervorragend, um Zeit gut zu machen. Also lasse ich es laufen, kann jedoch nicht verhindern, dass Stefan und ein paar andere immer weiter davon ziehen. Ich lasse es geschehen und schone meine Reserven, vor allem, weil ich weiß, dass der dickste Brocken noch kommt. Also nicht der „Brocken“, aber ein Brocken, genannt Poppenberg, mit 300 Höhenmetern Anstieg.

Ein Weilchen trabe ich parallel zur Gleisanlage der Schmalspurbahn und finde mich plötzlich inmitten einer zur Besichtigung freigegebenen alten Bergwerksanlage wieder. „Rabensteiner Stollen“ steht am Eingang der jetzt mit allen Insignien touristischer Nutzung gesegneten Einrichtung. Über den Parkplatz führt unser Trail, danach an der Ausstellung ausrangierter Bergwerksvehikel vorbei. Zwei kleine Mädchen turnen darauf herum. Die Kleinere der beiden erschrickt, als ein großes, schwarzes Monster schwanzwedelnd auf sie zuhält. Woher soll sie auch wissen, wie heiß und innig Roxi Kinder liebt. „Der will nur spielen!“ Aus meinem Mund wär’s ein hummeldummer Spruch. Aber die ältere Schwester stellt’s fest, während Roxi sich mit mir schon wieder Richtung Wald verzieht.

Türme stehen immer oben

Richtung Wald und – wie wohl sonst – aufwärts. Auf den ersten Metern dieser Steigung rätsele ich, ob das schon der Poppenberg sein kann. Der Forerunner zeigt erst 34 Kilometer und meine Erinnerung vom Streckenprofil erzählt von ungefähr 36. Egal, es geht rauf. Weiter und weiter, ein Ende ist nicht abzusehen. Ich verkürze meine Schritte, um die Belastung erträglich zu halten. Minutenlang, schneckengleich krieche ich bergwärts. Doch immer wieder wird die Anstrengung von Begeisterung verdrängt. Grandiose Weitblicke über die in jungfräuliches Grün gekleideten Hügel des Harzes lohnen jede Mühe. Mehrmals bleibe ich stehen und beschenke mich mit Fotos, auch wenn das Wiederloslaufen noch so schwer fällt. Fantastisch, einzigartig, wunderschön.

Dann sieht es so aus, als käme das Ende der Strapazen, eine bewaldete Kuppe, in Sicht. Irren ist menschlich. Jäh schlägt der Weg einen Haken rechts aufwärts und wird noch steiler. Grenzwertig steil. Meine Fersen hängen in der Luft, auf den Ballen steppe ich nach oben. Schweiß tropft vom Gesicht. Beine schwer wie Blei, dick wie Ballons. Stefan voraus, weibliche Begleitung an seiner Seite. Beide gehen. Verkürze den Abstand. Bin gleich auf. „Du siehst aber nicht mehr so gut aus!“ meint Stefan. Habe ich zustimmend gebrummt oder bilde ich mir das ein? Mehr kann’s mangels Kraft nicht gewesen sein. „Na ja, für Bergauflaufen sieht das noch ganz gut aus!“ widerspricht seine Begleiterin. Warum auch immer – ihr Satz setzt Kräfte frei. Und ich brauche sie jetzt. Es ist hart. Ungeheuer hart. Weiter! Rauf! Laufen! Weit kann’s nicht mehr sein. In Wahrheit habe ich keinen Schimmer, wie weit es noch ist. Doch auch so ein kleiner Selbstbetrug erleichtert das Vorwärts-Aufwärts.

Daheim werte ich die GPS-Aufzeichnung aus und bin überrascht: Geschlagene 30 (!) Minuten dauert der Aufstieg. Meine Schätzung fiel deutlich niedriger aus. Ich kenne diesen Effekt: Während einer Phase höchster Belastung sind Wahrnehmung und damit die Erinnerung stark eingeschränkt. Was mich durchhalten lässt, kann ich selbst nicht genau sagen. Natürlich Willenskraft. Übrigens selektive, ausdauerbezogene Willenskraft, auf die ich mir nichts einbilde. Dann Leidensfähigkeit, vor allem aber auch das Fehlen einer Alternative: Ich laufe noch immer, weil ich nicht gehen „darf“. Das lässt der Anspruch an mich selbst, mein läuferischer Verhaltenskodex, einfach nicht zu. Gehen wäre gleichbedeutend mit Niederlage.

Zeitgefühl habe ich keins, also reihe ich Schrittchen an Schrittchen, ertrage was zu ertragen ist, schnaufe, schwitze, tropfe. Ich starre auf diese kleine Fläche vor meinen Füßen, vielleicht 50 mal 50 Zentimeter, einigermaßen scharfes Sehen. Diesen Fleck schiebe ich vor mir her, mit den Augen, den Berg hoch. Nur selten, für einen Moment, hebe ich den Kopf, flehend fast der Blick – und wieder kein Anzeichen baldiger Erlösung. Mein Empfinden ist nicht schlecht, nicht gut, nicht verzweifelt, nicht hoffnungsvoll – da ist nichts außer dem Wunsch oben anzukommen. Weiter, weiter … Das Wissen bald 40 Kilometer gepackt zu haben, gerade der härtesten Prüfung unterzogen zu werden und doch immer noch laufen zu können hilft. Und dann endlich … Ist das der Scheitel des Berges, das Ende der Tortur? Ein Verpflegungspunkt. Dahinter ein Turm. Türme stehen immer oben. Geschafft. Trinken. Cola. Binnen weniger Sekunden erholt sich der Puls.

Unverwüstlich

Wir machen uns an den Abstieg. Roxi springt quicklebendig los, als wären es ihre ersten Meter heute. Mit einem Affenzahn saust sie vorneweg, liegt meist mit ein, zwei Wegbiegungen in Führung, kehrt häufig um, holt mich ab. „Wo bleibst du?“ fragen ihre Augen. Wie schon so oft, berausche ich mich auch jetzt an ihrer Lauflust. Ein älteres Wandererpaar kommt uns entgegen. Wie alle zufälligen Passanten, haben sie nur Augen für den Hund. Mich könnte sicher niemand beschreiben. Gerade schießt Roxi in halsbrecherischem Tempo und spitzem Winkel vom Haupt- in einen Nebenweg, kriegt kaum die Kurve. Da meint die Frau: „Man sieht, wie viel Spaß ihm das macht!“ Ich lächele still in mich hinein und konzentriere mich auf den Weg. So überstehe ich die nicht ungefährlichen drei Kilometer Runterweg ohne Straucheln und Rutschen. Meine Füße sind nass. Drei Schlammlöcher in Folge und das Duell mit dem letzten habe ich verloren. Geschenkt.

Der Wald bleibt zurück. Vor mir liegen bestellte, bereits saftig grüne Felder und unweit querab die ersten Häuser eines Ortes. Der Blick reicht darüber hinaus, findet waldreiche Hügel, die immer niedriger werden. Den Anblick empfinde ich als Signal! Das Finale beginnt, die letzten 10 Kilometer. Obschon ziemlich müde, bin ich bester Dinge. Ich weiß, wir werden ankommen und es wird uns gut gehen dabei.

Verhext

Neustadt heißt der Ort. Wir betreten ihn über ein Sport- und Freizeitgelände im Halbrund einer herrlich angelegten Allee. Erst reihen sich jüngere, mittelwüchsige, später alte, hoch aufragende Baumgestalten aneinander. Eine Frau mit Kinderwagen auf Gegenkurs, sonst ist kaum jemand unterwegs. Der Ort wirkt menschenleer. Fachwerkhäuser säumen unseren Weg auf der Hauptstraße von Neustadt. Die hässliche, zum Glück leblose Empfangsdame vor einem der Hotels bringt mir das heutige Datum wieder in Erinnerung: 30. April, Walpurgis. Doch vor den Hexenwesen in der Nacht, machen wir die Gegend unsicher. Rennen durch das Stadttor von Neustadt, wunderschön eingefasst von Fachwerkbauten, vorbei an applaudierenden Zuschauern und quer über einen Parkplatz. Hier gibt’s Verpflegung. Während ich trinke, fällt mein Blick auf Kekse. Warum eigentlich nicht? Besondere Situationen rechtfertigen Ausnahmen. Ich greife mir zwei Kekse und gebe sie Roxi. Das bisschen Zucker wird ihre Hauer und ihre Verdauung schon nicht ruinieren.

Zurück auf die Strecke. Beim Verlassen des Parkplatzes stoße ich erstmals auf eine Entfernungsangabe. Ein Pappschild, überaus provisorisch, drauf steht: „Noch 8 km“. Mein Forerunner hat aber erst gut 41 Kilometer gezählt. Ist der verhext? Was stimmt denn nun? Nachdem es bisher keine Km-Tafeln gab, mag ich dieser keinen Glauben schenken. Wird wohl ein Irrtum sein. Hinter Neustadt überwinden wir eine vergleichsweise harmlose „Bodenwelle“. Bäume spenden Schatten bis zum höchsten Punkt. Von hier fliegt der Blick weit hinaus, über Felder und Hügel. Ich nehme Fotos mit und trabe wieder an, runterwärts, zwischen Äckern. Der Pfad mündet in der Sohle des sanft geschwungenen Tälchens in den breiten Hauptweg.

Weiterlaufen ist keine Alternative

Ein Schrei! Kurz nur, aber laut und schmerzerfüllt. Unten auf dem Hauptweg liegt einer der Läufer, in ganzer Länge hingestreckt. Zwei, drei andere erreichen ihn vor mir. Er blutet aus einer etwa zwei Zentimeter langen Platzwunde zwischen Stirn und Schläfe. Seine Brille ist zerbrochen. Ganz offensichtlich brachte ihm das Brillengestell die Wunde bei, als er mit dem Kopf am Boden aufschlug. Blut überall. Auf seinem Shirt, im Gesicht, den Beinen, sogar im Dreck des Weges. Hellrotes Blut. Noch nie hab ich so helles Blut gesehen. ‚Sauerstoffreich!’ schießt es mir durch den Kopf. Alle mühen sich um den Kameraden, fördern Papiertaschentücher zu Tage, damit er die Wunde bedecken und sich abwischen kann. Er wirkt benommen, ein bisschen desorientiert. Aber er ist mit allen Fasern Läufer. Und deshalb will er weiterlaufen. Einer der Helfer gebärdet sich ein wenig hysterisch. Schreit rum, hält einen Radfahrer an. Hat der ein Handy? Hat er. Also Notfallnummer wählen. Ich steuere unterdessen weitere Taschentücher bei. Die Wunde blutet nicht mehr, also kein Grund zur Panik. Aber weiterzulaufen ist definitiv keine Alternative. Die Wunde sieht aus, als müsste sie genäht oder zumindest geklammert werden. Der Hysteriker schreit immer noch herum. Spinnt der? Später rechtfertigt er sich mit der mutmaßlichen Absicht des Radlers ohne Hilfeleistung weiterzufahren.

NiX Böses mehr

Der Radler verspricht zu bleiben, bis Hilfe eintrifft, also machen wir uns wieder auf den Weg. „Ich glaub’ da kommt nix Böses mehr.“ Stefan, seit der Unfallstelle wieder an meiner Seite, hat sein Versprechen kaum formuliert, als der Weg erneut an Steigung zulegt. Objektiv sicher „nix Böses“, für meinen ausgelaugten Körper ein kapitaler Gipfel. „Dir glaube ich nie mehr was!“ presse ich an Stefan gewandt heraus. Zum Sprechen muss ich zwar Energie in Höhe der Mundpartie verschwenden, dafür erleichtert so ein Scherz das Durchhalten.

Im Zenit eines Grasbuckels endet dieser Aufstieg. Nicht erst seit ein paar Minuten stelle ich erstaunt fest, dass ich zwar müde, aber noch lange nicht dem Ende nahe bin. Ein Indiz ist der ungebrochene Wunsch zu fotografieren. Sonst, so kurz vor dem Finish, allenfalls eine mit letzter Kraft erfüllte „Pflicht“. Und ich schaffe es diese letzten Kilometer zu genießen, mich an der traumhaft schönen, mit Sonne übergossenen Landschaft zu erfreuen. Zum Beispiel an diesem Bild, wie aus einem Kalender: Der Rand eines Wäldchens und weit ausladende Äste betagter Bäume rahmen eine satt grüne Wiese, in der das Gelb des Löwenzahns zu explodieren scheint. Dahinter empfangen mich blühende Obstbäume vor einem Gehöft und ein zur Aussaat bereiteter Acker. Poesie ist eigentlich nicht mein Ding, aber die eine Gedichtzeile drängt sich mir nicht zum ersten Male heute auf: „Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte …“

Roxi trabt an meiner Seite. Hinter dem Weiler Rüdigsdorf nutzen wir auf ein paar hundert Metern Länge die Straße. Neben dieser und der angrenzenden Wiese plätschert Wasser in einer Rinne. Roxis hechelnde Zunge lässt mich halten. Nach eindringlichem Kommando „Wasser!“ stellt sie sich mitten ins kühlende Nass und schlabbert ein bisschen lustlos drin herum. 50 Meter weiter zwingt mich eine Attraktion der Kategorie „Menschen, Tiere, Sensationen!“ zu neuerlichem Fotostopp. Man mag es kaum glauben, aber hinter den Zaunmaschen, in der Rüdigsdorfer „Prärie“ grasen leibhaftige Bisons. Bullen, Kühe, sogar ein wenige Wochen altes Kalb.

Seit wir mit dem Poppenberg die großen, zusammenhängenden Wälder hinter uns ließen, ist die Lufttemperatur merklich gestiegen. Deshalb kommt mir die Verpflegungsstelle kurz nach dem Verlassen der Straße sehr gelegen. Cola plus Cola plus Cola ist gleich Völlegefühl. Ich schnappe mir drei Kekse für Roxi, die sie sich munden lässt, während ich meinen letzten Becher leere und nach Stefan Ausschau halte. Der hat meine vielen Stopps natürlich nicht mitgemacht und ist über alle Berge.

Yin und Yang* vor Nordhausen

Der Forerunner meldet 46 Kilometer. Also dann, die letzten fünf packe ich jetzt auch noch. Das „Packen“ beginnt mit einem (harmlosen) Anstieg, dem tatsächlich letzten. Wir folgen einem Wanderpfad zwischen Äckern, dessen Verlauf von kleinen Bäumen, Büschen und Hecken markiert ist. Wie die Perlen einer Kette reihen sich die Läufer entlang der allmählich abfallenden Spur. Beidseits grüne Felder und voraus – im Dunst – die Stadt (das muss Nordhausen sein). Ein tolle Perspektive, die jedes Fotografenherz heftig klopfen lässt. Ich will ehrlich sein: Natürlich zischt mir bei jedem Stopp der Gedanke an die länger werdende Laufzeit durch den Kopf. Aber das ist nur ein Reflex, ein im Hintergrund laufendes „Programm“, eingeschliffen über Jahre, das sich nicht so einfach stoppen lässt. Bedeutung hat es keine. Deshalb stelle ich mich nun an den Feldrain und warte bis genügend Läufer den Hang hinunter perlen. Roxi wartet unschlüssig, wirkt ein bischen verwirrt. Sobald ich mich zum Laufen wende, zischt sie wieder ab, überholt einen Läufer, zwei, drei. Mehrmals guckt sie zurück und würde rufen, wenn sie könnte: „Was ist? Kommst du endlich?“

Gemütliches Laufen auf ebenem, breitem, minimal abschüssigem Feldweg. Ich genieße es in dieser Schlussphase mal nicht drauf achten zu müssen, wo ich hintrete. Die Aussicht dort oben zwischen den Feldern war zwar grandios, der bisweilen holprige Pfad hätte mir aber keine Nachlässigkeiten verziehen. Jetzt fühle ich mich sicher. Laufen unter blauem Himmel, es ist warm, das Ziel ist nah und mir fehlt absolut nichts. Nicht mal Kraft. 49 Kilometer meldet mein GPS-Knecht. Also noch zwei. Ein Wasserlauf neben dem Weg verbreitert sich am Ausfluss eines Rohrs zum Tümpel. Vielleicht die letzte Gelegenheit für ein Hundebad und zum saufen. Immerhin haben wir noch zwei Kilometer vor uns, eventuell mehr, wenn der Forerunner zu viele Kilometer anzeigt, was seinem üblichen „Gebaren“ entspricht (regelmäßig etwa 400 Meter mehr bei einem Marathon). Roxi holt sich bereitwillig nasse Füße, aber trinken will sie nicht. Wir traben an, wähnen uns eine knappe Viertelstunde vor dem Ziel, biegen um die Ecke und … Was ist das denn? Links voraus, durch Bäume und Büsche zu erahnen … das sieht aus wie ein Stadion. Und wenn ich jetzt keiner Fata Morgana aufsitze, dann rennen da welche ins Ziel!?? Tatsächlich finden wir hundert Meter weiter den Eingang ins Stadion. Roxi läuft längst neben mir. Gemeinsam traben wir über die letzten hundert Meter Aschenbahn und sind im Ziel. Einfach so und die längst verloren geglaubte Zielzeit haben wir trotz aller Verzögerungen und Unterbrechungen auch noch knapp erfüllt.

Zielverpflegung

Natürlich stille ich erst einmal meinen Durst. Was ich da trinke weiß ich nicht. Wasser mit Geschmack würde ich es nennen. Iso? Keine Ahnung und es ist mir auch egal. Dann hole ich meinen Rucksack. Leichter geschrieben als gefunden. Anscheinend haben die Helfer keinen Versuch unternommen, die Beutel wenigstens ansatzweise in Startnummernfolge zu sortieren. „Wie sieht er denn aus?“ Da gucke ich die beiden Bewacher der Läuferschätze schon ein bisschen ungläubig und eine Spur verzweifelt an. „Er ist dunkelblau …“ höre ich mich sagen, was ungefähr auf die Hälfte der aberhundert vor mir deponierten Säcke zutrifft. Nach minutenlangem Hin und Her fördert die Suche dann endlich meine Utensilien zu Tage.

Ich suche mir ein Rasenplätzchen mit Roxi und binde sie an einen Pfahl. Was ich dem Rucksack entnehme, weitet ihr die Augen: Erst den flexiblen Reisenapf (so was gibt’s!) und dann eine halbe Tagesration ihres Futters. Während sie ihre verdiente Belohnung mit großem Hunger verschlingt, freue ich mich über unser gelungenes Ultralaufabenteuer.

Ergebnis: 5:28:52 h, Platz 229 von 550 Teilnehmern, Platz 10 von 42 in M55

 

Fazit zur Harzquerung

Die Strecke ist ebenso schön wie anspruchsvoll. Sie verlangt nicht nur stundenlange, auch in Bergläufen trainierte Ausdauer, sondern vor allem gut ausgeprägte koordinative Fähigkeiten. Leichtsinn, insbesondere in Abwärtspassagen, wird bestraft. Bei Regen halte ich den Kurs sogar für ausgesprochen gefährlich. Die Harzquerung sollte man sich keinesfalls als Wettkampfstrecke aussuchen. Jederzeit kontrolliertes Tempo und Kraftreserven bis zum Schluss bieten den größtmöglichen Schutz gegen Stürze.

Meine einzige, dafür aber harsche Kritik am Veranstalter betrifft das Fehlen einer unzweideutigen Charakterisierung der Strecke, samt eindringlicher Warnung. Die Harzquerung ist nicht einfach ein 51 km-Ultralauf. Etwa ein Viertel bis ein Drittel der Strecke gehört in die Kategorie Cross. Daher sollte der Trail nur von entsprechend erfahrenen Läufern angegangen werden.

Ich anerkenne die Absicht des Organisators, die Schönheiten des Harzes im Streckenverlauf unterzubringen. Unter anderem deshalb muten wir uns solche Läufe zu. Dennoch hätte ich mir dann und wann eine Entschärfung durch alternative Wegwahl gewünscht, selbst wenn letztlich ein paar Kilometer mehr dabei heraus kommen. Ich kann mir angesichts 1.001 erlebter Schönheiten einfach nicht vorstellen, dass ein paar Umwege die Attraktivität der Harzquerung schmälern.

Manches an der Organisation der Harzquerung wirkt improvisiert. So lange in allen Bereichen die Mindestanforderungen erfüllt werden, was nach meiner Beobachtung der Fall war, sollte man darüber mit einem lächelnden Schulterzucken hinweg gehen. Immerhin stellen sich viele Menschen ohne jeden persönlichen Vorteil in den Dienst einer wunderbaren Sache. Auch die erstaunlich niedrige Startgebühr spricht in dieser Hinsicht Bände.


*) Yin und Yang werden häufig als Umschreibung für gegensätzliche oder stark unterschiedliche Pole benutzt, zum Beispiel für: Stark-schwach, männlich-weiblich, gleich-ungleich, aktiv-passiv, gebend-empfangend.

 

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