Richtige und falsche Entscheidungen – Spreewald Marathon 2011

Burg im Spreewald, Sonntag, 17. April, 9:50 Uhr: Im Träger-Shirt laufen oder doch besser das kurzärmelige drunter anbehalten? Die Sonne drückt mit Aprilwärme durch die dünne, aufgelockerte Wolkendecke und der Wind scheint noch nicht erwacht. Aber 13°C sind eben auch nur 13°C. Auf dem Weg vom Auto zum Startbereich wechselt meine Bekleidungsabsicht im Rhythmus der Schatten, den Bäume und Gebäude auf den Weg zeichnen. Plötzlich ruft mich jemand und synchron mit Ines drehe ich mich um. Drei Läufer kommen auf uns zu. Aus meinen „schriftstellerischen“ Aktivitäten im Laufforum resultiert ein gewisser Bekanntheitsgrad. Darum bin ich bei jeder Laufveranstaltung darauf gefasst, angesprochen zu werden. Was mir jedoch diese drei eröffnen, macht mich fast sprachlos. Sie kommen aus Marktoberdorf, eine Kleinstadt im Allgäu, also nur eine Autostunde von meinem Zuhause entfernt. Und alle drei haben sich auf den Spreewald Marathon mit den auf unserer Laufseite veröffentlichten Trainingsplänen vorbereitet. Zwei von ihnen wollen unter 3:45 h finishen und der Dritte plant seinen ersten Marathon unter vier Stunden zu laufen. Selbstverständlich entstand „Ein Weg zum Marathon“, samt Trainingsplänen, als Hilfestellung für andere Läufer. Dann aber gleich drei Nutznießern meiner Fleißarbeit leibhaftig und auf einmal gegenüber zu stehen, versetzt mich schon in eine gewisse Hochstimmung.

Und die kommt wie gerufen, weil mich die bevorstehende Aufgabe seit Tagen beunruhigt und keine rechte Vorfreude aufkommen lässt. Meine Jahresplanung vermerkt den Spreewald als Gelegenheit den schnellsten Marathon des Jahres „abzuliefern“. Hierzu trainiere ich seit drei Monaten auf Zielzeitniveau 3:15 h, allerdings einem nicht lupenreinen Marathon-Trainingsplan folgend. Eigentliches Saisonziel sind die 100 Kilometer rund um Ulm (Ulmer Laufnacht 1./2. Juli). Mein Trainingsplan versucht im Spagat beide Ziele – „Tempo-Marathon im April“ und „100 km-Ultra im Juli“ – zu kombinieren. Anspruchsvolle Tempoeinheiten wechselten sich mit ungewöhnlich ausgedehnten, zugleich flotten Long Joggs ab. Wieder einmal fordere ich mich im Grenzbereich, wo „rebellische Anmerkungen“ meines Bewegungsapparats zum Trainingsalltag gehören. Ein ziehender Schmerz im Oberschenkel hinten rechts verdonnerte mich den letzten 12 Tagen zu Bewegungstherapie statt Lauftraining. Somit weiß ich weder wie lange mein Bein scharfes Laufen vertragen wird, noch welches Wettkampftempo ich bis zum Finish durchhalten kann. Also was jetzt? Schneller Marathon oder extrem, langer Lauf knapp unter vier Stunden? Ich kann mich zu keiner klaren Entscheidung durchringen, nicht mal jetzt, eine Viertelstunde vor dem Start. Unentschlossenheit verhilft dem Wunsch zum Durchbruch, also der Tempovariante. Als Zielzeit für diesen Fall schwirrt mir eine 3:20 h (MRT: 4:45 min/km) im Kopf herum.

Auf der Suche nach grüner Deckung entferne ich mich von meinem Fanclub (Ines und unsere Hündin Roxi) und jogge im Aufwärmtempo die Chaussee entlang. Der kühle Fahrtwind empfiehlt einmal mehr das kurzärmlige Hemd unter dem Träger-Shirt zu belassen. Noch acht Minuten. Ich finde Ines und Roxi inmitten einer Gruppe Läufer wieder. Wir hielten bereits gestern in Lübbenau, wo Ines am „Biosphären Halbmarathon“ teilnahm, ein Schwätzchen mit ihnen. Heute bringe ich – eingesponnen im Kokon der Vor-Marathon-Selbstzentrierung – außer einem freundlichen „Hallo“ keine Kommunikation zu Stande. Dafür raune ich Ines kurz meine Absicht zu, beim kurzärmligen Hemd bleiben zu wollen, nur um es mir, eine knappe Minute später, vom Leib zu reißen. Keine Ahnung, wodurch ich mich zu diesem spontanen Akt der Entblößung hinreißen ließ. Vielleicht vom Anblick der beiden schulterfreien Kontrahenten dort drüben? Oder war’s ein Wolkenspalt, durch den mich ein zusätzliches Bündel Sonnenstrahlen erwischte und in meinem Entscheidungszentrum den Schalter umlegte?

Ines, um meine läuferischen Zweifel und Nöte wissend, wünscht mir einen guten Lauf. Ihr Blick drückt jene vage Hoffnung aus, die ich in den letzten Tagen, wer weiß, wie oft, beschwor: Vielleicht hält das Bein und es wird ein toller Lauf! – Unablässig verdichtet sich das Feld vor der Startlinie. Über die Absperrgitter beidseits der Straße mag ich nicht klettern, also rolle ich die Meute, trippelnd, im Slalom, mich windend, hin und wieder um Nachsicht bittend, von hinten nach vorne auf. „Vorne“ ist relativ. Etwa dreißig Meter trennen mich noch von der Startlinie, dann ist kein Durchkommen mehr. Sei’s drum – das muss eben reichen. Ein paar wertvolle Vor-Start-Sekunden verschwende ich an die Frage, warum ausgerechnet hier keine Startblöcke gekennzeichnet sind? Drei Bewerbe werden gleichzeitig gestartet, 10 km, Halbmarathon und Marathon. Und ich würde meinen Forerunner darauf verwetten, dass zig Unerfahrene und diverse Gleichgültige unmittelbar hinter der Startlinie stehen und in ein paar Augenblicken unnötige Staus verursachen werden.

Eigentlich sollte ich mir mehr Gedanken darüber machen, wieso ich lückenhaft informiert hier stehe. Gibt’s eine Nettozeitmessung oder gibt’s keine? Dergleichen wäre mir früher nicht passiert. „Früher“ meint jene Wettkämpfe, bei denen jede noch so nebensächliche Einzelheit Einfluss auf die Endzeit hatte – zumindest glaubte ich, dass es so wäre. Vor dem neunundsechzigsten Marathon sieht man vieles gelassener, weiß einzuschätzen, welche Faktoren über Erfolg oder Misserfolg tatsächlich entscheiden. Noch drei Minuten. Das mulmige Gefühl im Bauch will einfach nicht weichen. Insgeheim nenne ich es beim richtigen Namen – Angst. Angst, mich durch einen von hässlichen Gefühlen begleiteten Marathon zu jagen. Angst, mich ärger zu verletzen und damit die weitere Saisonplanung aufs Spiel zu setzen. Angst, geradewegs in jene Sackgasse zu stürmen, in die ich nie wieder geraten wollte und an deren Ende das Schild „Zwangslaufpause“ zur Umkehr zwingt.

Ich löse meine Zeitnahme mit dem Startschuss aus, weil ich annehme, dass keine Nettozeit genommen wird. Gestern in Lübbenau gab’s keine und vorhin, beim Passieren des Starttores und flüchtigem Hinsehen, fiel mir keine Technik auf, um dergleichen zu bewerkstelligen. 5, 10, 20, … 26 Sekunden später überschreite ich die Startlinie und trete dabei auf dünne, mit Klebeband auf dem Asphalt drapierte Drähte. Im Stillen gratuliere ich mir zur tollen Vorbereitung und merke mir die 26 Sekunden als Korrekturwert.

Ich schere weit nach links aus und bringe mich auf dem Bürgersteig in Fotopositur. Ines schießt die erhofften Auftaktfotos und entlässt mich mit letztem Gruß auf die Strecke. Die erweist sich auf dem ersten Kilometer als wenig attraktiv, folgt den Hauptstraßen des Touristenortes Burg. In Höhe des Kahnfährhafens überqueren wir die Hauptspree, noch dicht an dicht laufend. Die erwartet häufig blockierenden „Wellenbrecher“ umschiffe ich energiesparend, wobei sich Armkontakte nicht immer vermeiden lassen. ‚Das ist doch … ?!‘ Anfängliche Zweifel, angesichts der beiden, in Pippi-Langstrumpf-Manier seitlich am Kopf entspringenden Zöpfe, weichen rasch, stimmt doch die übrige Erscheinung ganz und gar mit der von Bienchen überein. Gestern Abend saßen wir mit ihr und anderen Läufern aus dem Forum plaudernd zusammen. Bienchen will der gestrigen Sub-1:45 h beim Lübbenauer Halbmarathon heute dieselbe Leistung folgen lassen. Wir wünschen uns gegenseitig gutes Gelingen und verlieren uns dann aus den Augen.

Per Linksschwenk biegen wir auf die Burger Ringchaussee ab. Unvermittelt finde ich mich in einer uralten und gerade im Frühling bezaubernden Kulturlandschaft wieder, wie man sie nirgendwo ein zweites Mal findet. Brettflache Wiesen bilden die Grundlage, durchschnitten von zahlreichen, untereinander verbundenen Wasseradern. Neben der Hauptspree, der Kleinen Spree oder dem Burg-Lübbener-Kanal quert man ständig weitere, so genannte Fließe. Von zwei bis mehrere Meter Breite stehen dem Wassersportler unzählige Kilometer idyllischer Wasserläufe offen. Dann und wann verlegen ihm Wehre den Weg, die mittels kleiner Bootsschleusen überwunden werden. Uferbewuchs, kleinere Wäldchen, Buschgruppen und einzelne Bäume, von denen jetzt viele blühen, sorgen für rasch wechselnde Ansichten. Immer wieder wird man einsamer Höfe ansichtig, oder mehrere Gebäude ducken sich im Grün zu einem winzigen Burger Ortsteil zusammen.

Nichts davon entgeht mir, obwohl sich ein Teil meiner Wahrnehmung nach innen richtet. Drei Kilometer, sämtlich im 4:40iger-Schnitt gelaufen, liegen hinter mir und die kritische Stelle im Oberschenkel sendet ein sehr schwaches Signal der Art „Da war was und wenn du übertreibst, dann wird da auch wieder was sein“. Ein anderes Signal kommt von meiner Bauchdecke, ein ganz und gar ungewöhnliches ... Pieken. Reflexartig taste ich zur rechten, unteren Ecke der Startnummer. Der Sekundenbruchteile später folgende Blick registriert gerade noch, wie die aufgesprungene Sicherheitsnadel in Richtung Straße segelt. Ein Bild zischt durch meinen Kopf: Die Nadel tanzt mit der aggressiven Spitze nach oben über den Asphalt und dringt tief in die Sohle eines ahnungslosen Mitläufers ein … Unwillkürlich erwarte ich einen Schmerzensschrei, obschon die Wahrscheinlichkeit für dieses Ereignis der eines Meteoriteneinschlags im Spreewald in nichts nachsteht. Schrei und Apokalypse bleiben aus, also entspanne ich mich wieder.

Die erste Streckenweiche nach knapp drei Kilometern spaltet nur einen kleinen Teil des Feldes ab, die 10 km-Läufer. Der Rest hält Kurs auf der Ringstraße. Mit Befriedigung registriere ich, dass die Entscheidung für die sparsame Bekleidungsvariante goldrichtig war. Trotz kühler Luft perlen bereits Schweißtropfen von Stirn und Schläfe und der Himmel tendiert zu mehr Sonne. Bei Kilometer sechs biegen wir von der Ringchaussee Richtung Westen ab. Auf dem nunmehr rauen, rissigen Asphaltsträßchen halte ich Kurs in der Mitte, um die vielfach geflickten Fahrspuren zu meiden. Auch die Umgebung wandelt sich. Jetzt geht es an Feuchtwiesen vorbei, die von sumpfigen Gräben und langen Baumreihen begrenzt werden. Ein Stück querab grasen Kühe, lugen mit gattungsüblichem Unverständnis herüber. Kurz nach links, auf ein Wohnhaus zu, und sofort wieder nach rechts. Dankbar begrüßen meine Füße den nun wieder glatten Asphalt.

Die Homepage des Spreewald Marathons wirbt mit der weltweit flachsten Strecke, mit nur 1,6 Metern Höhenunterschied. Nach diversen sanften Wellen der Ringchaussee keimten bereits Zweifel, in Sachen Höhenmeter einem Irrtum aufgesessen zu sein. In diesem Moment, da ich auf kurzer, aber steiler Brückenauffahrt ein Fließ überwinde, erkenne ich meinen Fehler: Gemeint waren nicht Höhenmeter insgesamt, sondern die maximale Höhendifferenz pro Hindernis. Und von denen werden sich mir noch einige in den Weg stellen, zum Beispiel eine weitere Fließbrücke, gerade mal drei Minuten hinter der ersten.

Nach acht Kilometern beginnt der reizvollste Streckenteil. Häufige Richtungswechsel auf nicht asphaltierten, dennoch festen Fuß- und Feldwegen bringen die Natur noch näher heran. Ich rausche an knorrigen, zigfach zurückgeschnittenen Weiden vorbei, setze auf schmalem Steg über ein Fließ, flitze in scharfer Linkskurve um einen duftend blühenden Strauch und verfolge einige Kontrahenten zwischen Viehweiden. Kraft fließt stetig und – so scheint es – aus unerschöpflichem Depot. Lediglich die Furcht vorm Teufel im rechten Bein hemmt ein wenig den Laufgenuss, wenngleich sich die Wahrnehmung nicht verändert hat.

Zehn Kilometer: Ich nehme die Zeit, subtrahiere den Korrekturwert und teile durch zehn. Mit einer Pace von 4:43 min/km liege ich sogar leicht unter dem anvisierten Schnitt. Das ist nur eine Kontroll-, beileibe keine Hochrechnung. Sobald es da unten zu ziehen beginnt, werde ich das Tempo drastisch reduzieren – so zumindest mein strenger Vorsatz.

Vor einem Streckenposten der Feuerwehr samt Grüppchen applaudierender Zuschauer scharf nach links, dann weiter auf schmalem Fuß- und Radweg. Ein Baum teilt Weg und Läuferfeld; ich wähle den linken Pfad und überwinde mit weitem Satz eine ausladende Wurzel. Nach nur zwei Kilometern mündet der asphaltfreie Streckenteil in ein schmales, stilles Sträßchen.

In meiner Gesäßtasche stecken drei Gelbeutel. Den Inhalt des ersten will ich bei Kilometer 15 mit Wasser runterspülen. Das Missgeschick vom letzten Jahr, beim Maratona d’Italia, wo mir eines der unersetzlichen Beutelchen durch die feuchten Hände flutschte, mahnt zur Vorsicht. So krame ich schon lange vor der Tränke die Kalorien heraus, berge den Beutel sorgsam in der linken Hand, reiße die Lasche mit Umsicht und den Zähnen ab, drücke mir den Löwenanteil der Portion in den Mund und schlucke. Ätzend süß. „Ätzend“ im Wortsinne, denn nach dem Schlucken bleibt ein Gefühl als wollte mir die klebrige Soße die Rachenschleimhaut wegätzen. Durch Zusammenrollen und -quetschen der Verpackung, presse ich die letzten Gramm der im Grunde widerlichen Substanz in den Mund. Wieder einmal bedauere ich die fehlende Alternative, den Kalorienbedarf während eines Marathons auf ebenso verträgliche und extrem komprimierte Weise mitzuführen, wie mit diesen vermaledeiten Gels. Auf die offizielle Verpflegung kann man in dieser Hinsicht nur selten bauen. Meist werden kalorienhaltige, isotonische Getränke gar nicht oder zu spät angeboten.

Nach häufigen Richtungswechseln ging meine Orientierung in irgendeinem der Fließe baden. Gegenwärtig laufen wir am Ufer eines recht breiten Kanals, mit Kajaks im „Gegenverkehr“. 18 Kilometer habe ich bereits in den Beinen und noch immer kein Meutern des Oberschenkels. Dafür fühlen sich die Stelzen allgemein schwerer an – „dicker“ –, als das nach nicht mal der halben Distanz im Lehrbuch steht. Doch in dieser Hinsicht gebe ich heute den Fatalisten: Wenn nur das Bein hält, der Rest findet sich …

Nach Überquerung des breiten Fließes verzweigt die Strecke abermals. Ab hier nutzt Runde zwei etwa vier Kilometer eines alternativen Abschnitts. „Marathonis links, Halbmarathonis rechts!“ Mit einer Armbewegung verleiht der Streckenposten seiner Anweisung Nachdruck. Gleich hinter der Weiche entsteht der Eindruck, als habe man mich in die Irre geleitet und so aus dem Wettkampf genommen. Auf mehreren hundert, geradeaus gut überschaubaren Metern rennt lediglich ein „Briefträger“ vor mir her. Langsam, gaaanz langsam verkürze ich den Abstand zu dem Mann im gelben, mit großem Posthorn dekorierten Trikot.

Kurz hintereinander gilt es zwei Fließe zu überqueren. Beim ersten genügen ein paar angestrengte Schritte über Asphalt. Angesichts des zweiten, hölzernen Steiges schrillen blitzartig alle Alarmglocken. Hohe Holzstufen führen nach oben und ebenso viele jenseitig hinab. Sofort fällt mein Blick auf die rechtsseitig, zwischen Treppe und Geländer angebrachte, schmale Rampe aus Holzbohlen. Üblicherweise schieben abgestiegene Radfahrer ihren Drahtesel auf den Planken zur anderen Seite, während sie selbst die Treppe nutzen. Ich entscheide mich für die Holzbohlen und gebe kräftig Gas, um die Schräge zu packen. Leider eine Fehlentscheidung, weil ich die Wucht, mit der meine bewegte Masse gegen die Schräge prallt, unter- und die Kraft meiner Beine überschätze. Strauchelnd kann ich den Sturz zwar abfangen, aber nur auf Kosten einer Schramme am Ellbogen, die mir das Geländer zufügt.

Meine Stimmung steigt mit jedem Schritt, weil eine Begegnung mit Ines ansteht. Sie wollte an einer Kreuzung, ungefähr bei Kilometer 22, Position beziehen. Als es dann soweit ist, entfaltet ihr Lächeln mindestens die aufputschende Wirkung von zwei Gelportionen. Leider ist die Fabel von Hase und Igel nur ein Märchen. Andernfalls könnte mich Ines am Ende jeder Ackerfurche … äh … jedes Streckenabschnitts mit einem lächelnden „Bin schon da! Noch einen guten Lauf!“ dauerdopen. Apropos Doping – es ist Zeit für den zweiten Schuss und wieder beginnt die verhasste Prozedur mit dem Beutel …

Langweilig wird dieser überwiegend solo gelaufene Marathon nicht, auch wenn sich auf den nächsten Kilometern kaum Nennenswertes ereignet. Mangel an Abwechslung bleibt in dieser Idylle schlichtweg ausgeschlossen; Beschaulichkeit und Muße leider auch, dafür ist mein Treiben zu anstrengend … Irgendwann biege ich wieder von der Alternativroute auf die bereits bekannte Ringchaussee ein, dann und wann überhole ich langsamer werdende Mitläufer, seltener nähern sich schnellere Schritte von hinten. Ein kleines Wunder bahnt sich an: Im Grunde habe ich meinem Oberschenkel keine zehn Kilometer in diesem Tempo zugetraut. Inzwischen summieren sich 27 und er hält immer noch eisern durch. Darf ich’s wagen, darf ich hoffen, es könnte bis zum Finish dabei bleiben?

Ab Kilometer 29 bewege ich mich wieder im schönsten, asphaltfreien Teil des Kurses. Herrjeh! Was war außer Wasser noch in dem Becher? Dieselbe Trinkprozedur wie mehrmals zuvor – nicht mehr, nicht kälter, nicht gieriger – und doch überfielen mich kurz nach der Tränke Magenschmerzen. Zwei, drei Kilometer, dann lässt der Druck unterm Rippenbogen endlich nach. Niemand vermag Magenschmerzen und Ermüdung gleichermaßen in Schach zu halten. Tatsächlich unterschreite ich auf diesen Kilometern erstmals das geplante Tempo (4:55 min/km).

Auch um mich nicht vorzeitig zu verausgaben, nehme ich den Zeitverlust hin. Meine Stoffwechselsituation hat sich zwischen Kilometer 21 bis 23 rapide verschlechtert. Innerhalb dieser kurzen Distanz stieg der Herzfrequenzdurchschnitt um etwa 5 bpm! Was kann ich tun? Kohlenhydrate müssen her! Früher als geplant verabreiche ich mir den letzten Beutel Gel. Ob reale, körperliche Wahrnehmung oder mentale Stimulation, vermag ich nicht zu sagen. Jedenfalls empfinde ich kurz danach einen leichten Energieschub und für ein paar Kilometer erreicht die Pace fast wieder anfängliche Werte.

‚Noch sieben Kilometer, nur noch sieben!‘ Längst und wie jedes Mal in voller Absicht, weil es zusätzlich motiviert, greife ich gedanklich dem Finish voraus. Doch heute bringt das nix. Die Härte des Tempos fordert schon jetzt meine volle Leidensfähigkeit. Jeder Schritt kostet Überwindung und schmerzt in allen Fasern. Wenn jetzt das Ziehen im Oberschenkel einsetzte – ich würde es nicht mal merken. Noch sechs Kilometer und erneut werde ich langsamer. Aus Gründen „mentalen Selbstschutzes“ unterbleibt der Kontrollblick zur Uhr. Ich sinne nach einem Ausweg. (Vorsicht! Rationalem Denken stehen unter härtester Ausdauerbelastung einige Milliarden Synapsen weniger zur Verfügung.) Wenn ich nichts unternehme, werde ich binnen ein, zwei Kilometern brachial einbrechen. Manche sprechen von der „Begegnung mit dem Hammermann“. Was tun? Zucker habe ich keinen mehr an Bord. Vielleicht hilft ein Becher Cola!?

Der Entschluss steht und unglückseligerweise sichte ich bald darauf eine Verpflegungsstation. Obwohl mir schon reichlich schummrig zu Mute ist, trinke ich das sprudelnde, schwarze Zeug in zwei gierigen Schlucken. Und weiter. Und Aufstoßen. Und weiter. Möchte gerne Aufstoßen, kann aber nicht. Und weiter. Noch fünf Kilometer. Schneller werde ich nicht, dafür durchzieht mich immer stärker dieses schummrige Gefühl. Mir wird schlecht. Auf eine Weise, wie es nur Ausdauerbelastung vermag und ich weiß, die Konsequenz ist nicht mehr aufzuhalten. Manches hätte ich ungestraft tun dürfen, aber auf keinen Fall Cola mit Kohlensäure trinken. Obwohl die Katastrophe unausweichlich scheint, schleppe ich mich mit dem Mut der Verzweiflung weiter. Noch irrsinnig weite vier Kilometer. Mann oh Mann, ist mir jetzt übel. Zwanzig Meter vor einem Streckenposten bleibe ich stehen, huste, niese und übergebe mich in einem. Schwarz verrinnt es im Gras. Der Streckenposten eilt mir entgegen, hält eine Trinkflasche in der ausgestreckten Hand: „Komm, trink einen Schluck! Dann geht’s dir wieder besser!“ Nach der zweiten Eruption würde ich ihm gerne erklären, mein Magen habe sich doch soeben unmissverständlich zum Thema „Flüssigkeitsaufnahme“ geäußert. Mangels Kraft belasse ich es bei einer abwehrenden Handbewegung …

Ich falle wieder in leichten Trab … Es muss einfach gehen. Wie denn auch nicht. Beim 24-Stunden-Lauf rannte ich nach unfreiwilliger Magenentleerung noch 16 Stunden und 140 Kilometer. Da werde ich diese lächerlichen vier doch wohl packen. Ein Laufkamerad nimmt mich mental zusätzlich an die Hand: „Komm! Lauf! Es ist nicht mehr weit. Das packst du noch!“ Ich fühle mich in der Tat erleichtert und nehme Fahrt auf. Einige Gramm schlechtes Gewissen muss ich schließlich runterwürgen, als ich meinen Motivator wenig später überhole und hinter mir lasse. Es spitzt sich beileibe nicht jedes Mal zu, aber heute gerät mir der Marathon zur emotionalen Achterbahnfahrt. Alles dabei, Angst, Freude, Begeisterung, Staunen, Zuversicht, Schmerz, Erschrecken, Panik, Bedauern und Enttäuschung. Wie? Keine Zeile kündete bisher von Enttäuschung? Kommt gleich, nur noch ein paar Schritte …

Das Sträßchen entlang des Fließes dehnt sich endlos, wie die Milchstraße am nächtlichen Sternenhimmel. Noch drei entsetzlich lange Kilometer. Drei Kilometer reichen dem frischen Udo gerade mal, um sich warmzulaufen. Wie drei Lichtjahre fühlen sie sich an, wenn ihm die Kohlenhydrate ausgehen und genau das ist geschehen. Zu hoch gepokert; die Trainingseinbußen raubten mehr Ausdauer als gedacht. Endlich kommt das Ende der elend langen Passage am Fließufer in Sicht. Noch zwei Kilometer. Dort vorne über’s Fließ, dann die Weiche … Nicht mehr weit! Nicht mehr weit!

Nichtbegreifen plus Verwirrung: Von rechts traben Läufer vorbei, überqueren das Fließ Richtung Ziel. Mein erster Impuls unterstellt einen Kurzwettbewerb im Rahmen des Spreewald Marathon, dessen Teilnehmer von hier ebenfalls dem Ziel zuströmen. Wirbelnde Gedanken: ‚Wo kommen die her?‘ Alles in mir wehrt sich dagegen, auf den letzten Metern und in dieser Verfassung, in einem Strom frischer Athleten schwimmen zu müssen. – ‚Sind nicht schneller als ich. Sind auch nicht viele.‘ – Zwanzig Meter weiter erkenne ich meinen simplen Irrtum. Es ist der bittere Moment, da man mich – weg vom Ziel – in eine Schikane schickt, mit der nun wirklich nicht zu rechnen war, weil sie der Streckenplan verheimlicht! Wie? Ja, natürlich ist es im Grundsatz egal, über welchen Zickzack du die verbleibenden Meter zu Ende trabst. Aber versetz dich mal in diese Lage: Du bist schon am Ende oder kurz davor, und plötzlich zeigen deine Fußspitzen wieder in die vom Ziel abgewandte, in die falsche Richtung!

Hundert Meter – oder so – dann erlaubt eine Markierung die Wende. Zurück. Mühsam. Zeitlupe: Ich bewege mich, wie denke. Oder verhält es sich umgekehrt? Fließen die Gedanken zäh, weil ich so langsam unterwegs bin? Über’s Fließ gelange ich zur vormaligen Weiche. Jetzt nach rechts Richtung Ziel. Ich durchquere eine Zone erhöhter Schwerkraft, die mich gegen die Straße presst. Kann’s nicht lassen, schaue zur Uhr, rechne kurz und werde von eine Welle der Enttäuschung weggespült. Augenblicklich verkürzen sich meine Schritte. ‚Zeit versaut!‘ denkt’s in mir. Und wieder: ‚Zeit versaut!‘ Ich warte auf die „41“. Aber Beelzebub höchstselbst enthält sie mir vor. Infolge Sehstörungen übersehen? Hat jemand die „41“ geklaut oder wurde sie gar nicht erst hingestellt? Mann! Wie dringend hätte ich gerade heute dieses blöde Schild gebraucht. Und was ist das? Toller Regieeinfall! Kurz vorm Ziel, wo ohnehin schon alle auf dem Zahnfleisch radieren, endet der Asphalt, schiebt sich das holprigste, sandigste – mit einem Wort: ekligste – Stück Piste zwischen mich und das ersehnte Finish. ‚Komm! Reiß dich zusammen! Weiter!‘. Ich eiere über zahllose, kleine Buckel, kann mir nicht vorstellen, dass das noch wie Laufen aussieht. Irgendwer – weibliche Stimme – ruft: „Gleich seid ihr da! Nur noch dort vorne ums Eck!“ Noch nie hing ich so an den Lippen einer Fremden. Ah! Endlich wieder Asphalt. Dann Lautsprechergetöse und Zuschauerspaliere. Rechts abbiegen. Ich sehe das Ziel, werde noch einmal schneller (hätte ich das bloß unterlassen), letzte Meter. Das Ziel. Arme hoch, austrudeln.

Weit komme ich nicht, stütze mich auf die Knie und überfallartig krampft mein Magen. Schlussverkauf: Alles muss raus! Einmal, zweimal … ein Weilchen nichts … dann ein letztes Mal. Ich fühle Blicke von allen Seiten, aber es ist mir von Herzen egal. Der regionale Fernsehsender RBB sendet einen Zusammenschnitt von diesem Marathon in den Sportnachrichten. Habt ihr einen gesehen, der zehn Meter hinter der Ziellinie eine Pfütze auf dem Asphalt hinterlässt? Das war ich.

Fazit: Ein toller Lauf, trotz Furcht vor neuerlicher Verletzung, der Fehleinschätzung verfügbarer Ausdauer und dem wirklich dilettantischen Griff zu einem Becher Cola zur Unzeit. Etwa 30 km des Marathons konnte ich genießen und mit 3:24:34 h bin ich letztlich hoch zufrieden (zumal mich die Zwangspause bei Kilometer 38,5 eine volle Minute gekostet hat). Überstrahlt wird alles vom überraschenden Durchhalten meines rechten Oberschenkels, der die Härteprüfung nahezu klaglos wegsteckte. Tags drauf bin ich lediglich hundemüde, kann aber schon wieder ein paar Kilometer regenerativ laufen …

Zeit: 3:24.34 h
Platzierung Gesamt: 46. von 369 Teilnehmern
Platzierung M55: 4. von 31 Teilnehmern

 

Ines Halbmarathon in Lübbenau

Während die sonntäglichen Laufbewerbe in Burg routiniert und nach meiner Beobachtung reibungslos über die Bühne gingen, kommt der „Biosphärenreservat Halbmarathon“, tags zuvor in Lübbenau, über die Note ungenügend nicht hinaus. Gerne begnügte ich mich mit einem „mangelhaft“, was beispielsweise die grob ungenau markierte Strecke einschlösse. Nicht nur Ines‘ Forerunner, auch andere (forumsbekannte) Teilnehmer bestätigten viel zu kurze Auftakt- und überlange Schlusskilometer. Wer, wie Ines, der offiziellen Beschilderung vertraute, verlor auf dem ersten Streckenteil viel Zeit, die im Finale nicht mehr aufzuholen war. Auch der reichlich indisponierte Sprecher (Fachwissen lässt sich durch uninspirierten Wortwitz nicht ersetzen!) hätte die Gesamtnote nicht auf indiskutabel drücken können. Nicht einmal die hundert Meter nach dem Start in die Straßenmitte ragende Absperrung verlangt ein so hartes Urteil, wenngleich sie das Unfallrisiko erhöht. Dass die ersten Läufer, angeführt vom Radbegleiter, das Ziel auf dem Marktplatz aus einer falschen Richtung ansteuerten und dabei noch kurz von einem Sperrgitter aufgehalten wurden, ist allerdings unentschuldbar.

Davon wenig betroffen und beeindruckt, genoss Ines ihren Wettkampf nach drei Jahren Halbmarathon-Abstinenz. Dafür genügte ein Lauf ohne innere Zwischenfälle, unter tiefblauem Frühlingshimmel, in einer unvergleichlich schönen Landschaft. Einzig ein mehrere Kilometer langer Weg über Betonschwellen dämpfte zeitweise ihre Lauffreude. Mit der Laufzeit von 2:13:44 h war sie letztlich hoch zufrieden.

Zeit: 2:13:44 h
Platzierung Gesamt: 330. von 507 Teilnehmern
Platzierung W40: 22. von 36 Teilnehmern

 

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