Wo man vor lauter Wald die Hügel nicht sieht - Königsforst Marathon 2011

Wer so weit zu einem Marathon anreist, hat selbstverständlich alle Bekleidungsvarianten im Gepäck. Sogar frostklirrende Ostwinde – gemäß Großwetterlage ohne Restrisiko ausgeschlossen – brächten mich nicht in Verlegenheit. Sonnenschein und 19°C am Vortag nahm ich jedoch als Versprechen auf einen Waldlauf in kurzem Zwirn: Frühling ich komme! Und nun ist das Rendezvous mit Fräulein Frühling in Bergisch Gladbach geplatzt. Mittags gestatten dunkle Wolken unter milchig-grauem Himmel dem Quecksilber so eben zweistellige Werte anzukratzen. Also muss ein verfrorener Typ wie ich wieder im warmen Langarm-Shirt laufen.

Es ist mein zweiter Marathon in diesem Jahr; erneut ein Vorbereitungswettkampf, ohne Tapering unter voller Trainingsbelastung, den ich im selben Tempo wie vor Zweiwochenfrist im Bienwald laufen möchte (Zielzeit 3:45 h). Allerdings kenne ich diesmal die Strecke nicht. Laut Veranstalter erwarten mich zwei Halbmarathon-Runden mit leichten Anstiegen auf dem ersten Teil. Danach ist eine „Hochgeschwindigkeitsstrecke“ angekündigt. Beim Studium des Profils stoße ich auf ein paar Ungereimtheiten, lasse mich aber vom Text einlullen.

Bereits zwei Stunden vorm Start (14 Uhr) finde ich keinen Parkplatz neben dem Startbereich mehr. Grundsätzlich wäre mir die Viertelstunde Anmarsch vom dezentralen Discounter-Parkplatz gleichgültig. Nur gibt es keine Möglichkeit im Start-/Zielbereich Gepäck zu deponieren und zu den 2,5 km entfernten Duschen fahren Kleinbusse. Also müsste ich nach dem Finish die Strecke dreimal schlurfen: Zum Auto, um meine Utensilien zu holen, zum Duschbus und wieder zurück zum Auto. Von der mutmaßlichen Fußlahmheit infolge exzessiven Joggens mal abgesehen, habe ich nicht die mindeste Lust mich auf diesen weiten Wegen zu erkälten. Zu schlechter Letzt entscheide ich mich für die unsaubere, dafür gesündere Variante: Gesicht, Hals und Hände mit einem Becher Mineralwasser waschen, schlotternd vor Kälte das Auto erreichen, flugs Wäsche wechseln und 570 km zum Duschen nach Hause rollen. Dass ich unter solchen Umständen die Organisation nicht eben mit Lobreden überschütte, wird niemanden wundern. Dazu tragen aber auch andere Details bei, über die noch zu reden sein wird …

Auf einer von mehreren „Wanderungen“ zwischen Parkplatz und Startbereich renne ich Joe in die Arme, den ich aus dem Laufforum und von früheren Läufen kenne. „Laufjoe“, ein unverwüstliches Ultra-Orignal, war einige Monate verletzt. In ein paar Sätzen lasse ich mir seine Kette massiver Blessuren schildern, die ihn letztlich doch nicht hinderten wieder auf Marathon- und Ultrakurs zu gehen.

Eigentlich wollte ich mich nicht einlaufen, verschätze mich aber in der Zeit. Also bleibt nach dem Wegschließen der Habseligkeiten nur die Beine in die Hand nehmen, um den Marathon nicht zu verpassen. Die drei Minuten in der knapp 1.000 Köpfe zählenden Startaufstellung aus halben und ganzen Marathonis, bestätigen dann meinen Eindruck einer insgesamt etwas unpersönlichen Laufveranstaltung. Am Wetter liegt das sicher nicht. Das war woanders auch mal so lala und doch herrschte um mich her freudige Erwartung. Läufer und Zuschauer gucken eher reserviert bis missmutig aus der Wäsche. Möglicherweise geht ein Teil der unterkühlten Stimmung auch auf das Konto des „mitreißenden“ Moderators. Erst vertauscht er die Startnummerfarben, wonach ich verunsichert die Brust meiner Nebenleute mustere und mich erst entspanne, als meine Farbe eindeutig spärlicher vertreten ist … Dann füllt er seine Rede mit einer Flut belangloser Details. Dass er vier Stunden später beim Finish durch Abwesenheit glänzt, überrascht dann schon nicht mehr. Seltsam: Obschon ich inmitten überschäumenden, von suggestiver Redeweise angeheizten Hochgefühls immer unbeteiligt blieb, fehlt nun genau das. Das ganze Brimborium und Drumherum scheint mir wichtiger zu sein, als ich bisher glaubte.

Mitten hinein in derlei „versammelte Zurückhaltung“ fällt der Startschuss. Na dann los: Erst ein Stück der Straße folgen und im Tunnel die Autobahn A4 unterqueren, dann liegt der ausgedehnte Königsforst auch schon vor uns. Ein endloser, bunt gesprenkelter Lindwurm aus Leibern wälzt sich in sanfter Steigung aufwärts. Zurückhalten heißt meine Devise, erst einmal einlaufen. Fotos schießen, das lenkt ab. Immer wieder versperren Unverbesserliche den Weg, die sich nicht ihrem Leistungsvermögen entsprechend in die Startaufstellung einreihten. Wenn man sie ließe, würden die bei einem Formel 1-Rennen mit ihrem Kleinwagen aus der Pool Position starten … Heute kommt es trotzdem nicht zu Stockungen, die Hindernisse können gefahrlos auf dem sehr breiten Waldweg überholt werden. In der Streckenbeschreibung stand das anders, aber noch denke ich mir nichts dabei.

Zu Beginn macht sich die mäßige Steigung kaum bemerkbar. Kein Wunder also, dass ich die erste Kilometertafel nur ein paar Sekunden über Sollzeit passiere. Mehr Vorsicht? Korrigieren? Langsamer? Nur zu gut weiß ich, wie wichtig gerade die ersten Kilometer für ein verträgliches Finish sind. Viele Läufer verpulvern in der ersten Viertelstunde über die Maßen Energie und staunen, wenn jenseits der 30 Kilometer der Mann mit dem Hammer wartet. Was tun? Die Strecke ist nicht schwer. Ich riskiere es und halte die Geschwindigkeit. Eben in diesem Moment feiere ich die beeindruckendste Begegnung des Tages. Die Läuferin vor mir trägt ein gelbes Oberteil mit den bekannten drei Punkten. Darunter steht dann noch in dicken, schwarzen Lettern „Blind“, um jeden Zweifel zu beseitigen. Mit ihrer linken Hand hält sie über ein kurzes, schwarzes Band Verbindung zur Begleitläuferin. Natürlich lichte ich die beiden ab. Leiten mich dabei Sensationsgier oder voyeuristische Motive? Sicher nicht. Dahinter steckt einerseits so etwas wie die „Berichtspflicht des laufenden Reporters“. Aber mehr noch ehrliche Begeisterung für diese mutige Leistung unter schwierigen Umständen.

Der Waldweg mündet in eine Straße. Nach scharfem Rechtsknick geht es für uns auf dem schmalen Fußweg und deshalb merklich verdichtet weiter. Mit kurzen, knappen Anweisungen, bisweilen durch Ziehen und Schieben verstärkt, steuert die Begleiterin ihre Schutzbefohlene im Strom der Läufer. Sie schaffen es sogar zu überholen. Auto um Auto zischt auf der stark befahrenen Straße vorbei. Wie viel Vertrauen muss man aufbringen, um unter solchen Bedingungen angstfrei zu laufen? und das nicht mal langsam! Auf gleicher Höhe nebenher trabend bringe ich meine Bewunderung zum Ausdruck und wünsche den beiden viel Erfolg.

An einem Ast zu meiner Rechten baumelt das 2 km-Schild. Unmöglich! Demnach hätte ich den letzten Kilometer deutlich unter fünf Minuten zurückgelegt!??? Auch einige Mitläufer checken verdutzt ihre Chronometer. Das Zählwerk meines GPS-Knechts springt erst eine Minute weiter auf den vollen Kilometer. Bei Kilometer 3 wiederholt sich die Differenz, was ein Gefühl der Verunsicherung hinterlässt – zum zweiten Mal an diesem Tag: ‚Der Marathon wird zum x-ten Mal ausgetragen. Und dann stimmen die Kilometer nicht? Fehlt der Strecke am Ende die volle Marathonlänge?’ Keine Ahnung, wie andere mit solchem Zweifel umgehen. Aber die Vorstellung einen Marathon zu finishen und irgendwann käme heraus, dass der ein paar hundert Meter zu kurz war, verdirbt mir ein bisschen den Spaß.

Nervig! Ständig düsen Autos vorbei. Obschon in der Streckenbeschreibung erwähnt, habe ich mit einer so stark befahrenen Straße nicht gerechnet. Zwei und einen halben Kilometer Krach und Abgase. Endlich, bei Kilometer vier, wenden wir uns wieder einem Waldweg und der ersten Verpflegungsstelle zu. In der Bewegung schnappe ich mir einen Schluck Iso und kippe ihn runter. Ein Mund voll reicht. Mir ist nicht kalt, aber ich schwitze auch nicht nennenswert – wie auch, bei verhalten tickendem Puls (70 bis 73 % Hfmax), kaum 10°C und ohne Sonne.

Schon eine Minute später geht’s merklich bergab. Ich genieße das Gefühl ohne große Anstrengung flott dahin zu gleiten und ein wenig Boden gut zu machen. Die Umgebung gefällt mir; alter Baumbestand, meist Laubwald. Wie in heimischen Wäldern, waren auch hier die „Holzhacker“ im vergangenen Winter fleißig. Häufig passieren wir abholbereite Holzstapel. Solche Unmengen Holz wurden in den Vorjahren nicht eingeschlagen. Vor einigen Monaten las ich von dem in ungeahnte Höhen gekletterten Holzpreis. Funktionierende Marktwirtschaft nenne ich das: Durch Pelletsheizungen und steigende Rohstoffpreise ist der nachwachsende Energieträger wieder in Mode gekommen. Und nun machen die Waldbesitzer eben Kasse.

Kilometer 5 am Streckenrand und Kilometer 5 auf meiner GPS-Anzeige sind wieder nahezu deckungsgleich. Auch bei der Vier-Kilometer-Markierung vorhin war das so. Wie können „2“ und „3“ cirka 200 Meter zu kurz gegriffen, „4“ und „5“ dann wieder korrekt bezeichnet sein? Mir will zu dieser Denksportaufgabe einfach keine (wahrscheinliche) Lösung einfallen.

Laufjoes markante Gestalt reißt mich aus meinen Gedanken. Manch ein Mitläufer hält uns bestimmt für blasierte Spinner, weil wir uns sofort gegenseitig ablichten. Woher sollen sie auch wissen, dass jeder von uns einen Laufbericht zu illustrieren hat? Bevor unser Dialog richtig in Gang kommt, schert Joe zu einer Bank am Wegrand aus. Ob irgendwas mit seiner Ausrüstung nicht stimmt? Damit endet unser Paarlauf so unvermittelt, wie er begann.

Wie gern man doch das geschriebene Wort ungeprüft, sogar wider bessere Erkenntnis, für bare Münze nimmt. Alle Absätze der Streckenbeschreibung konzentrieren sich warnend auf die ersten, gut vier Kilometer Höhengewinn und enden mit der Zeile „Ab Forsbach beginnt dann die „Hochgeschwindigkeitsstrecke!“ Klingt als wären die restlichen drei Viertel der Schleife ein Kinderspiel. Die „Hochgeschwindigkeitsstrecke“ endet aber vor Kilometer neun, um in eine sanft gewellte Waldlandschaft überzugehen. Hügel, die du auf noch ausgeruhten Beinen nicht als fordernd wahrnimmst, weil sie sich im Wald verbergen und deinen Herzschlag kaum beschleunigen. Objektiv kosten sie dich einiges an Körnern. Die Anstiege ziehen sich in die Länge, auch mal über mehr als einen Kilometer. Ein solches Profil hatte ich noch nicht unter den Füßen. Paradox im 68. Marathon: Mir fehlt es an Erfahrung, also trabe ich munter und arglos drauflos …

Der Himmel trübt sich weiter ein, was meiner Stimmung keinen Abbruch tut. Ein Marathon im Wald – was will ich mehr? Nun gut, blauer Himmel als Dreingabe wär’ ganz nett. Dafür regnet es nicht; man kann nicht alles haben. Ich bin nicht unzufrieden ... oder etwa doch? Wie müssten sich Lauf und Rahmenbedingungen fügen, damit ich mir launige Anmerkungen verkneife? Gibt es das überhaupt, völlige Zufriedenheit? Nähmen „zufriedene“ Läufer die Strapazen harten Trainings und noch härterer Wettkämpfe bereitwillig auf sich? Was treibt mich an? Erlebnishunger? Ehrgeiz? Ganz sicher Motive, die eine Rolle spielen. Doch warum will ich laufend etwas erleben, wozu meinen Ehrgeiz stillen? Demaskiert man dieses Streben nach Zugewinn, zeigt es sein wahres Gesicht: Unzufriedenheit mit dem Bestehenden. Per se also nichts Übles, obschon wir „unzufrieden“ eher mit Frustgefühlen assoziieren.

„Das ist doch ein schönes Tempo!“ Sagt’s und läuft lächelnd neben mir her. Der Satz wurde akzentfrei ausgesprochen, laut und deutlich. Also verstehe ich auf Anhieb, entgegne dennoch ein irritiertes „Bitte?“ Wunschgemäß wiederholt sie den Satz, was sie weitere tausend Mal tun könnte, ohne dass sich mir sein Sinn erschließt. Verlegen gebe ich die knappste aller möglichen Antworten – „Ja!“ – und zermartere mir anhaltend das Hirn, wie sie das wohl meinen könnte, worauf sie Bezug nimmt … … … … … … Eine Äußerung nicht zu durchschauen, folglich nicht darauf eingehen zu können, belastet. Ach, du meinst, ich hätte fragen sollen? Doch, ja, aber nach längerem Grübeln sähe das nach seeeehr langer Leitung aus und ziemlich doof. Also enteilt die Sphinx und lässt mich mit ihrem Rätsel zurück.

Schilder wachsen in diesem Forst an jeder Kreuzung aus dem Boden. Sie weisen die Richtung oder geben den Wegen Namen. Irgendwann entzifferte ich „Rennweg“, was unmittelbar eine Flut von Erinnerungen an den Rennsteig, jene legendäre Strecke über die Höhne des Thüringer Waldes, auslöste. Aber diese Tafel steht vor einem Baum: „Zwölf-Apostelbuche“. Ich bleibe kurz stehen, fotografiere die Sehenswürdigkeit (ist es eine?). Angesichts des vielgliedrigen Stammes glaube ich die Namensgebung durchschaut zu haben. Zu Hause, unter genauer Betrachtung mit Brille, endet dann der Zählvorgang bei weniger als zehn Stämmen und das Fragezeichen ist wieder da.

„Das sieht gut aus Udo!“ Mein Kopf fliegt herum und hastig erwidere ich ein erfreutes „Hallo!“ Schon wieder eine Denksportaufgabe: Wer war das? Ich habe das Gesicht nicht erkannt. Natürlich jemand aus dem Laufforum, aber wer? Ach egal. Wichtig ist nur der Ansporn. Und den kann ich etwa vier Kilometer vor Ende der ersten Runde gut gebrauchen. Von nun an geht es stetig aufwärts. Ein abermaliges, kurzes Intermezzo am Straßenrand, dann zum Glück wieder zurück in den Wald. Neuerlich umfängt mich Stille. Laufgeräusche hat man nach so vielen Kilometern längst ausgeblendet. Noch ein Schlenker nach links und weiter sanft bergan. Dann kommt die Schikane. Dass Start- und Ziellinie übereinstimmen und die Aneinanderreihung von Waldwegen zufällig genau einen Halbmarathon ergeben soll, hatte meine Skepsis hinsichtlich der Streckenlänge ebenso genährt, wie die falschen Kilometermarken. Als ich nach gut 100 Metern Hin- und ebendiesem Rückweg die Reihe der Pylonen hinter mir lasse, sind die zeitweiligen Risse in meiner Marathonwelt bestens gekittet.

Von links dringt das Rauschen schneller Fahrzeuge durch nacktes Geäst. Die Autobahn! Also kann es nicht mehr weit sein. Entlang der A 4 weiter aufwärts, merklich aber weiterhin ohne große Mühe. ‚Das sieht gut aus Udo!’ hallt es in mir nach. Ja jetzt noch, doch in knapp zwei Stunden, kurz vor dem Finish, werde ich hier auf dem Zahnfleisch gehen, so viel ist jetzt schon klar. Ein Linksschwenk bringt mich im Tunnel unter die Autobahn, hindurch und auf die Zielgerade. „Marathon rechts! … Marathon rechts! … Marathon rechts!“ Rechts am Streckenposten vorbei? Aber da ist doch nur der unbefestigte Straßenrand!? Ich muss zweimal hinsehen, um den zentimeterbreiten Streifen Asphalt als Laufstrecke zu erkennen. Halbzeit: Nach etwa 1:52:30 h passiere ich die übermannshohen Bügel der Zeitmessung.

Zunächst schwappt eine kleine Welle der Enttäuschung durch meinen Kopf: ‚Wo habe ich die Zeit verloren?’ Als ich den simplen Rechenfehler beim Verdoppeln der Zwischenzeit entdecke brandet der Autobahnlärm bereits wieder gegen meinen Rücken. In Mathe war ich immer gut und Demenz scheidet als Begründung hoffentlich noch viele Jahre aus. Bleibt nur die streng wissenschaftliche Erklärung eingeschränkter Denkleistung, die mir jüngst zu Ohren kam: Die Steuerung der Laufbewegung stellt für unser Gehirn einen recht anspruchsvollen Prozess dar, der einen Großteil seiner Zellmasse beschäftigt. Der Frontallappen hinter der Stirn wird zu dieser Koordinationsaufgabe nicht benötigt und deshalb in seiner Aktivität reduziert. Just in diesem Nervenzellhaufen residieren jedoch geistige Leistungen wie Sehen, Ortssinn, optische Aufmerksamkeit und … Rechnen.

„Jetzt sind wir ganz alleine!“ lässt mich die Laufnachbarin mit schelmischem Unterton in der Stimme wissen. Zwischen Baumfluchten greift der Blick ins Leere. Weit und breit kein Läufer. Also mustere ich ein wenig meine Kontrahentin. Verschmitzte Bemerkungen passen gut zum spitzbübischen Äußeren. Diesen Eindruck vermittelt vor allem der peppige, an den Spitzen blondierte Kurzhaarschnitt (Am intensiven Studium des weiblichen Geschlechts scheint mein Frontallappen jedenfalls noch nicht gehindert.). Auf den folgenden Kilometern wechseln wir uns in der „Führungsarbeit“ ab, was den unterschiedlichen Wettkampftaktiken geschuldet zu sein scheint. Ich trachte nach gleich bleibendem Energieeinsatz, bin mithin aufwärts verlangsamt und abwärts beschleunigt unterwegs. Für sie bildet das Tempo die Konstante. Auf dem als „Hochgeschwindigkeitsstrecke“ apostrophierten Teil fällt sie zurück und scheint lange „besiegt“. Doch irgendwann trabt sie wieder an mir vorbei und nimmt mir bis ins Ziel eine halbe Minute ab.

Ach ja … das Ziel. Mir ist ein bisschen langweilig. Immerhin kenne ich alle Bäume und Schlaglöcher schon. Nein, ich habe mich nicht verschrieben. Einige Kilometer Forstweg verfügen über eine nicht mehr ganz intakte Asphaltdecke. Durchaus willkommen, denn Unsereinem erleichtert der Asphalt die Laufarbeit. Während Umlauf eins konnte ich allerdings beobachten, wie die blinde Läuferin von ihrer Steuerfrau per Anweisung und Handgreiflichkeit um eine der Stolperfallen herum bugsiert werden musste. Ach ja … das Ziel. Im Moment fände ich es nicht schade, wenn ein Marathon nur 30 km lang wäre, dann hätte ich meine Tagesleistung bereits erbracht. So bleiben noch über acht Kilometer.

Am äußersten Eckpunkt der Schleife durch den Königsforst wacht ein Offizieller mit Schreibkladde. Anscheinend notiert er alle Startnummern. „Platz 86!“ ruft er mir zu. Zunächst weiß ich mit der Info nichts anzufangen. Doch dann überhole ich einen Läufer und automatisch denkt’s in mir: ‚Jetzt Platz 85’. Zugleich orientiert sich mein Läufer-Radar nach vorne, um weitere, potenzielle „Opfer“ zu orten. Die wird es geben, weil ich über ausreichend Reserven verfüge, mein Tempo ins Ziel zu retten. Diesem speziellen Countdown – 84, 83, 82, … – ist ein gewisser Unterhaltungswert nicht abzusprechen, auch wenn mir die Platzierung am Ende von Herzen „schnuppe“ ist. Dann und wann „ziert“ sich einer, muss letztlich aber doch kapitulieren und bleibt zurück: … 81, 80, 79 – Hurra!

Die Steigungen fordern im zweiten Durchlauf stärker. Dennoch bereiten sie mir bislang keine große Mühe. Ich fühle mich sogar frischer als vor zwei Wochen beim Bienwald Marathon in derselben Phase des Wettkampfs. … 78, 77, 76 … Nur zwei Fotos schieße ich auf der zweiten Runde. Ich finde einfach kein Motiv mehr, das den Kraftaufwand „Arm heben – anvisieren – konzentrieren – auslösen“ rechtfertigen würde. Läuferkontakte werden ähnlich spärlich, wie bei Trainingseinheiten im heimischen Wald.

Noch 5 Kilometer. Ungefähr jetzt fällt mich Erschöpfung an und kriecht wie Gift in meine Beine. Die permanente Steigung auf dem finalen Streckenteil trägt ihren Teil zum Kräfteverfall bei. Überholte Läufer zähle ich nun nicht mehr. Binnen weniger Minuten fühle ich mich völlig ausgelaugt und weiß nicht wieso. Erst zu Hause ergeben Addition und Schätzung insgesamt über 300 Höhenmeter für diesen Kurs – auf heimtückisch flache Weise verteilt.

Alles Sehnen richtet sich auf das Finish. Doch vorher muss ich noch diese Steigung rauf … ‚Wann kommt denn endlich die Schikane?’ … Noch eine Wegbiegung, noch eine und immer weiter rauf. Dann endlich wetze ich auf die Schikane zu und werde mit Beifall und Hinweis begrüßt: „Bravo! Nur noch 2 km!“ Und auch am Ende der Schikane wird uns aus demselben Mund Aufmunterung zuteil: „Super! Nur noch 1,8 km bis zum Ziel!“ Der mentale Schubser trägt zwar nur bis um die nächste Ecke, aber nun ist es nicht mehr weit. Schon rauscht die Autobahn und in meinen Ohren rauscht es auch. Ich muss beißen, wie immer auf den letzten Metern. Und immer noch rauf … viel steiler als vorhin … boaaah, wie weit denn noch … endlich nach links … der Tunnel … rechts auf die Zielgerade … Blick zur Uhr: ‚Das wird irgendwas mit 3:45 h’ … die letzten 200 Meter … noch ein Stück rauf … noch 50 Meter, 20 … endlich im Ziel!

 

Ergebnis: 3:45:06 h, Platz 72 von 241 Teilnehmern, Platz 7 von 25 in M55

 

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