Gleichung mit Unbekannten  –  Zeiler Waldmarathon 2010

y = x1 + x2 + x3 + … + xn

x1: Marathon-Weltweit-Frühstücksrunde

Zwischen Aufstehen und erstem Kaffee leidet mein Sprachzentrum oft an einer ausgeprägten Lähmung. Darum bin ich ganz froh beim Hotelfrühstück nicht am Nebentisch zu sitzen, wo wortgewaltig Marathonschauplätze durchgehechelt und mit Noten für den Erlebniswert versehen werden. Eine kleine, ältere Dame – sie hat über 250 Marathons auf dem Kerbholz – trabt gerade verbal durch Kopenhagen und Stockholm, wo sie schon war und im kommenden Jahr neuerlich im Doppelpack finishen möchte. An sich träume ich mich gerne in Marathonfernen, aber weiß Gott nicht so kurz nach dem Aufstehen. Um ehrlich zu sein: Bei Tagesanbruch lebt mein Bewusstsein von Automatismen. Deshalb sitze ich auch am falschen Tisch. Das Reservierungskärtchen nehme ich erst wahr, als ein hungriger Marathoni, vorsichtig äugend wie ein scheuer Rehbock, von Tafel zu Tafel schleicht, um schließlich am Single-Tisch nebenan in die Marathon-Weltweit-Runde einzusteigen.

Marathon. Das sind nicht nur 42.195 überwundene Meter. Ein Marathon nimmt irgendwann im Kopf Gestalt an, als Idee, als Läufertraum oder aufbauende Notwendigkeit vor härteren Aufgaben. Schon die Anreise im Flieger nach Madrid, im Zug nach Husum oder im Auto nach Rom kann dir interessante Eindrücke bescheren. Und im Hotel, auf dem Läuferparkplatz, beim Abholen der Startunterlagen, ja sogar in der Warteschlange vor Mobiltoiletten erlebst du Szenen, die sich unauslöschlich einprägen. Denke ich an den Marathon in XYZ, dann fallen sie mir wieder ein, als wunderbare, lustige, aufregende, peinliche oder unangenehme Randnotizen. Vor dem Marathon weißt du nicht, was dich erwartet. Nicht einmal, wenn du dieselbe Strecke zum zweiten oder dritten Mal abmisst. In der Vielfältigkeit und Unberechenbarkeit des Erlebens liegt für mich einer der Reize des Hobbys Marathonlauf.

x2: Höhenmeter

Marathon bleibt auf ewig eine Gleichung mit vielen Unbekannten. Ich hoffe, sie wird auch heute wieder im glücklichen Finish für mich aufgehen. Mit Ines und Roxi weile ich in Zeil am Main, einer Kleinstadt in Unterfranken (Bayern) zwischen Schweinfurt und Bamberg. Südlich des historischen, aus Fachwerkbauten bestehenden Ortskerns fließt in grober West-Ost-Ausrichtung der Main. Unmittelbar nördlich des Städtchens erheben sich die dicht bewaldeten Höhen des Naturparks Haßberge, Austragungsort des Zeiler Waldmarathons. Auf zwei HM-Runden erwarten mich 840 Höhenmeter. Die große Höhendifferenz wähle ich bewusst als Trainingslauf, in Vorbereitung auf den noch härteren Untertagemarathon Sondershausen. Nur wenige meiner bisherigen Marathons und Ultras wiesen ein vergleichbar forderndes Profil auf. Etwa die 50 km auf der Schwäbischen Alb und der Supermarathon über den Rennsteig. Dort lief ich 2008 und in der Form meines Lebens, in der absolut nichts unmöglich schien. Belastbare Erfahrungen resultierten daraus kaum oder sind nach langer Zeit verblasst.

x3: Roxis zweiter Marathon

Das ficht mich allerdings nicht an. Seit ein paar Wochen trainiere ich vermehrt in stark profiliertem Gelände. Außerdem plane ich ein bedächtiges Tempo und zum zweiten Mal unsere Hündin Roxi mitzunehmen*. Die ihr zu widmende Aufmerksamkeit wird als zusätzliche Bremse wirken.

*) Auf eine Vorstellung von Roxi verzichte ich in diesem Laufbericht. Wenn du mehr über unser vierbeiniges Laufwunder wissen willst, dann findest du zu Beginn des letzten Laufberichts (Schlaubetal Marathon 2010) eine ausführliche „Vita“.

x4: Mitten im Wald

Vom Hotel spazieren Ines, Roxi und ich die anderthalb Kilometer in Richtung Start. Wir hätten einen der bereit stehenden Pendelbusse nehmen können, aber zum weiteren Aufwachen ist der kleine Fußmarsch willkommen. Pendelbus? Fußmarsch? Der Start des Waldmarathons liegt mitten im Wald. Das hatte ich so auch noch nicht.

x5: Warmer November

Sturm war gestern. Heute bläst es leicht bis mittelstark mit eingelagerten Böen. Als Windhasser erfreut mich der Umstand doppelt, dass ein Waldmarathon eben zum größten Teil im Wald stattfindet. Noch mehr Grund zur Freude: Wir schreiben den 13. November und ich werde nachher in sommerlich kurzen Klamotten auf die Strecke gehen. Das für die Jahreszeit ungewöhnlich warme Wetter – schon jetzt gegen 9 Uhr herrschen zweistellige Temperaturen – „zwingt“ mich dazu.

Auf dem letzten halben Kilometer steigt der Waldweg an. Entschlossen reiße ich mir die Fleece-Jacke vom Leib, um den beginnenden Schweißausbruch zu stoppen. Schon bemerkenswert: Da „lustwandeln“ wir nun mitten im November kurzärmlig in herbstlich kahlem Wald.

x6: Die lebende Lauflegende

Und dann erreichen wir den Ort des Geschehens auf einer Waldkreuzung. Nach links aufwärts erfolgt der Start und von rechts oben mündet der Zielkanal ein. Ein paar Fahrzeuge vom Roten Kreuz und zur Versorgung, dazwischen Zelte für die Kleiderbeutel und zur Bereitstellung der Zielverpflegung, komplettieren das Arrangement. Ich stehe gerade abseits zwischen Bäumen und hake einen wichtigen Punkt meiner Vorstart-Checkliste ab, als der Sprecher den wohl bekanntesten deutschen Marathonläufer ankündigt. Horst Preisler ist hier, worauf ich hätte vorbereitet sein müssen, weil Mitte November das Marathonangebot hierzulande recht mager ausfällt. Und Horst Preisler spult nun Mal jeden Marathon ab, dessen er habhaft werden kann. Der 75jährige hat bereits über 1.700 (!!!) Marathons erfolgreich beendet. Ein Weltrekord, vielleicht nicht für die Ewigkeit, dennoch kann es lange dauern bis ein ähnlich Verrückter diese Bestleistung übertreffen wird.

x7: Einlaufen am Berg

Roxi ist aufgeregt. Instinkt? Witterung? Hündische Intelligenz? Zuletzt wurde ihr dieses dünne Seil ums Halsband geschlungen, als wir zum ersten gemeinsamen Marathon aufbrachen. Die Läufermeute strebt in Richtung Starttransparent. Zeit zum Abschiednehmen. Ines’ Kuss und gute Wünsche begleiten mich, für Roxi gibt’s eine Streicheleinheit. Wir bahnen uns den Weg durch die enge Startaufstellung. Keiner rechnet mit Konkurrenten auf vier Beinen. So grenzt es fast an ein Wunder, dass ihr niemand auf die Pfoten tritt. Schließlich finden wir ein Plätzchen links außen und haben etwa ein Drittel des Feldes vor uns. „Roxi sitz!“ Roxi sitzt und wartet geduldig. „Läuft der denn mit???“ Hinter der Frage höre ich viele Fragezeichen. „Vorhin musste einer seinen Hund abgegeben. Der durfte nicht mitlaufen! Aber, na ja, der war ja auch viel größer!“ Hund darf nicht mitlaufen? Das halte ich für eine glatte Falschmeldung. Aber der Zweifel ist gesät und fortan kann ich einen Rest beunruhigender Skepsis nicht abschütteln. Erst einmal unterwegs können und werden sie uns nicht mehr stoppen. Das ist ein freies Land (obschon ich auch diese Tatsache angesichts abertausender Verordnungen und bürokratischer Hürden gelegentlich in Zweifel ziehe). Aber zum Ende der ersten Runde muss ich hier am Ziel vorbei. Also werde ich Roxi auf alle Fälle vorm Zielbereich an die Leine nehmen! Sicher ist sicher.

Startschuss – ganz unfeierlich – und alles setzt sich in Bewegung. Roxi braucht kein Kommando, versucht in wilden Sätzen die Verfolgung unserer Vorderleute aufzunehmen. In längstens fünf Sekunden hätte sie die Spitze des Feldes hinter sich gelassen. Was für ein Spaß! Dummerweise hängt am anderen Ende des Seils eine Hand, verlängert um die restlichen deutlich über siebzig Kilo Herrchen. Es dauert eine Weile ihr die Bocksprünge auszutreiben und leider sind wir dann schon am fotografierenden Frauchen vorbei. Ihr Vorwärtsdrang passt nicht ins Konzept. Zu dicht gestaffelt läuft das Feld, außerdem geht es stetig aufwärts. Und das für fast 2,5 Kilo- und 150 Höhenmeter, was ich mir beim sorgfältigen Studium des Profils eingeprägt habe. Es gibt Umstände, die ich beim Laufen überhaupt nicht mag: Wind, wie bereits erwähnt, aber auch unaufgewärmt bergwärts zu traben. Zum Einlaufen wollte ich keine Kraft verschwenden, also lassen wir’s langsam angehen.

‚Gar nicht so schlimm, wie ich dachte!’ stelle ich nach ein paar Minuten erleichtert fest. Überdies sorgt der Start am Berg – auch das ein Novum im 65. Marathon – für eine rasche Auflockerung des Feldes. Schon nach einem Kilometer verführen große Lücken zur Tempoverschärfung. Zum Glück bin ich nicht verrückt genug diesem Impuls zu folgen. Nur dann und wann überholen wir einen der unbegreiflichen „Felsen in der Brandung“. Du kannst dir darunter nichts vorstellen? Felsen in der Brandung betrachte ich als eines der letzten Mysterien offizieller Läufe. Nahezu in jedem Marathonwettkampf und in jeder Phase überhole ich extrem langsam laufende Kontrahenten. Gegen Ende eines Marathons verständlich, falls ich mein Tempo einigermaßen konservieren konnte: Wer sich überschätzt, bricht auf den letzten Kilometern ein. Dasselbe widerfährt mir aber auch mittendrin, oder wie eben jetzt auf den ersten zwei Kilometern. Am Start standen diese Leute maximal 15 Meter vor mir. Stach sie auf den ersten 1.000 Metern der Hafer? Flitzten sie los, um nun ausgepumpt und schneckengleich den Rest der Schräge hoch zu kriechen? Das will mir nicht in den Kopf. Nicht bei Marathonläufern, die schon diverse Lauferfahrungen in den Beinen haben.

Schlechte Lichtverhältnisse bei bedecktem Himmel mitten im Wald. Zwar fegte der Sturm einen Großteil herbstlicher Blätterpracht von den Ästen, dennoch sorge ich mich um die Schärfe der in Bewegung geschossenen Bilder. Deshalb schere ich mehrmals zum Rand hin aus und fange zur Sicherheit ein paar Bilder stehend ein. Fester, nahezu ebener Untergrund, stetige, nicht allzu fordernde Steigung – ob das so bleibt? Roxi hat sich beruhigt, muss nur noch selten zur Ordnung gerufen werden. So langsam bekomme ich die „Sache“ in den Griff. „2 km“ meldet das kleine weiße Schild am Wegrand. Völlig selbstverständlich schwenken die Augen in Richtung Uhr und … ‚Nein! Stopp! Heute nicht! Jedenfalls nicht so früh!’ Eine Zwischenzeit am Berg hätte keine Aussagekraft. Und womöglich brächte sie mich dazu schneller zu laufen als mir gut tut. Stückweit voraus markieren ein paar schlanke, hoch gewachsene Buchen das vorläufige Ende des Waldes und der Steigung.

x8: Silberstreif am Horizont

Durch das Buchenportal erreichen wir eine Art Hochebene. Der Blick wird frei und streicht weit voraus über intensiv grüne Wiesen und Felder. Gras und Wintersaaten blieben im milden Herbst noch weitgehend unversehrt. Die hohe Wolkendecke verspricht Trockenheit für die nächsten Stunden und ein heller Streifen über dem Horizont lässt mich sogar auf ein paar Sonnenstrahlen hoffen. Leichter, zuweilen etwas böiger Wind auf schauernder, schweißnasser Haut stellt klar: Aufgeschoben, doch nicht aufgehoben – die kalte Jahreszeit hat sich nur ein wenig verspätet.

Ein 90°-Knick im Kurs eines Landschaftsmarathons – danach geht’s wieder in Richtung Waldrand – reizt immer zu Fotos. Um ein verwertbares zu erhaschen, unterbreche ich mehrfach den Lauf, was bei Roxi auf Unverständnis stößt. Ich würde sie gerne von der Leine lassen. Doch hier, nach etwa drei Kilometern, käme sie einfach noch zu vielen Läufern in die Quere. Die Fluren unter grauem Himmel gestalteten ein kurzes Intermezzo: Vorm Waldrand scharf rechts – Vorsicht nicht ausrutschen! – und danach über 200 Meter teils matschig tiefen, wenig benutzen Feldweg zurück in den Wald.

Ein, zwei Minuten zögere ich noch, peile auf dem weit einsehbaren Waldweg voraus, dann bleibe ich stehen und befehle „Roxi sitz!“. Rasch ist die Schnur vom Halsband gelöst und in der Gesäßtasche verstaut. Mit „Roxi langsam!“ nehmen wir den Wettkampf wieder auf. Fortan trottet Roxi mehr oder weniger nah neben meinem linken Bein dahin. Sobald ihr Abstand eine Hundekörperlänge erreicht, trete ich auf die Bremse: „Roxi langsam!“. Schon mehrmals passierten wir Absperrposten. So auch jetzt beim Überqueren der einzigen Straße. Doch keiner nahm auch nur ansatzweise Anstoß an der vierbeinigen Wettkampfteilnehmerin. Stattdessen blicke ich in lächelnde Gesichter und Roxi erntet aufmunternde Kommentare.

Und endlich, hinter der nächsten Kurve, erfüllt sich das Hundeglück: „Roxi lauf!“ Wie ein geölter Blitz schießt sie davon, was dem Laufkameraden neben mir ein verstehendes Lachen entlockt. Sie rast noch an einem weiblichen Lauftrio vorbei, legt dann unvermittelt im Laub am Wegrand eine Vollbremsung hin, um sofort in charakteristischer Weise den Rücken zu krümmen. Alle lachen herzhaft; abgesehen von mir, beweist mir ihr Verhalten doch, wie groß die „Not“ auf den letzten Kilometern gewesen sein muss.

x9: Hundehalter unter sich

Seit einigen Minuten rennen wir abwärts, verlieren Meter um Meter, holen Zeit auf. Roxi erkundet meist das Terrain weit voraus, kehrt zuweilen auf Sichtweite zurück, um sich zu versichern, dass Herrchen noch Kurs hält. Hinter jeder Wegbiegung erwarte ich das Ende der Kraft sparenden Talfahrt. Es kommt abrupt. Vor einem Streckenposten wartet Roxi und gemeinsam wenden wir uns nach links und … sofort steil bergan. Langsames Tippeln ist jetzt angesagt, denn ich bin entschlossen jeden Meter dieses Kurses laufend zu absolvieren. Wie immer. Das entspringt nicht falschem Ehrgeiz, sondern meinem Selbstverständnis als Läufer. Darin hat auch phasenweises Gehen keinen Platz. Ich wage mich nur auf Strecken oder Distanzen, für die meine Ausdauer vermutlich reicht, um komplett laufend durchzukommen. Ich sehe keinen Sinn in der Teilnahme an Laufveranstaltungen, die ich nur in Teilen gehend überstehen könnte. Läufer bin ich, nicht Geher. Nur wenn mich die Strecke besiegt, werde ich Gehschritte akzeptieren, was mir jedoch bisher erspart blieb.

Das Ende des Buckels ist nicht in Sicht, ebenso wenig wie Roxi. Ein, zwei Kontrahenten, an denen ich langsam vorbei steppe, haben am Berg kapituliert und gehen. Dann wird’s flacher und das Ende der Schinderei rückt ins Blickfeld. Roxi wartet auf mich, wieder mal vor einem Streckenposten. Der schickt uns nach rechts ins nächste Gefälle. Von einer Läuferkette kann man schon lange nicht mehr sprechen. Nur selten habe ich Gesellschaft, wie eben jetzt, durch den Mann neben mir. Er verwickelt mich in ein Gespräch über Roxi. Dann erzählt er von seinem Hund, der ihn regelmäßig begleitet, aber gerade irgendeine Operation hinter sich hat und heute nicht mitlaufen kann. „Deshalb haben wir ihn im Zielbereich gelassen.“ Wie kann man einen Hund im Zielbereich sich selbst überlassen? Darum brumme ich verwundert: „Allein im Ziel??“ „Na ja, wir haben ihn dort abgegeben. Die kümmern sich schon um ihn.“ Wie immer während Wettkämpfen nehmen meine Gedanken den Umweg über eine elend lange Leitung. So dauert es ein Weilchen – der Hundefreund bleibt derweil zurück – bis ich eins und eins zusammen gezählt habe: ‚Na klar doch! DAS hat die Frau vorm Start gesehen und daraus geschlussfolgert man habe ihm den Hund weggenommen!’ Jedenfalls löscht diese Erkenntnis den Rest meiner Bedenken. Jenseits der Erleichterung: Auf Aussagen nicht blindlings zu vertrauen, habe ich vor langer Zeit gelernt. Ein bisschen erschreckend ist die Tatsache, wie schnell man Bilder missdeutet, die gerade entstehen und die man mit eigenen Augen sieht …

Durch die Bäume schimmert ein Weiher. Während ich mich um ein Foto in Bewegung mühe, hat Roxi den an der Ecke des Gewässers postierten Verpflegungsstand schon erreicht und forscht nach Krümeln am Boden. Typisch Hund! Ich kann das Geschnüffele nicht leiden. Typisch Mensch! „Roxi sitz!“ befiehlt der Spielverderber. Roxi sitzt und ich trinke zwei Becher Iso (sogar angewärmt!). Dabei lasse ich den Blick über das restliche Angebot schweifen und bewerte es als üppig: Wasser, Cola, Bier alk-frei, Malzbier, Tee, Iso und diverse feste Leckereien, die ich zum Wohle meines Magens alle verschmähe.

Entlang des Weihers beginnt beinahe unmerklich die dritte Steigung. Alles halb so schlimm. Bisher nichts Brachiales und überdies auf festem, glattem Geläuf. Genügend Muße, um alle Naturschönheiten beidseits mitnehmen zu können. Zum Beispiel der malerisch zwischen Bäumen mäandernde Bach zu meiner Linken, oder die grüne Aue ein paar Minuten weiter. Einfach herrlich, auch wenn sich die Sonne weiter hinter verschwommenem Grau versteckt. Diese Meinung vertritt auch einer der „üblichen Verdächtigen“. Sie begegnen mir zwar nicht bei jedem Marathon, vor allem nicht in Vollversammlung. Aber einige der unverwechselbaren Charakterköpfe trifft man doch immer wieder. „Von so viel Schönheit kann man gar nicht genug bekommen!“ meint der dünne Herr in Blau. Von ihm weiß ich, dass er Laufberichte für „marathon4you“ verfasst. Gleich mir trägt er bei jedem seiner Läufe eine Digicam durch die Gegend. Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, kommt mir eine Szene beim Immenstadt Marathon 2008 in den Sinn, wo er, vor einem Weidezaun stehend, mit seiner Kamera ein besonders attraktives Exemplar der Spezies Allgäuer Kuh mit Kuhglocke anvisierte …

x10: Motivationslyrik

Es folgen zwei Abzweige, kurz nacheinander, an jedem ein Wegweiser und doch bin ich etwas irrtitiert, zumal mir am zweiten ein Läufer mit hohem Tempo aus der „falschen“ Richtung entgegen stürmt. Eine halbe Stunde später werde ich wissen, dass sich Hin- und Rückweg an dieser Stelle für einige Meter decken, die Verwirrung folglich meinem schlechten Streckenstudium geschuldet ist. Wir verschwinden jenseits des Baches im Buchenwald und traben weiter aufwärts. Die x-te von zahllosen Motivationstafeln übermittelt mir ihre weise Botschaft: „Wenn es hinauf geht, geht es auch wieder runter.“ Tröstlich zu wissen. Während meine Blutpumpe sich eifrig müht den erhöhten Sauerstoffbedarf zu decken, überdenke ich die möglichen Reaktionen angesichts solcher Spruchweisheiten. Von Gleichgültigkeit über Schmunzeln bis hin zu Stirnrunzeln oder sich-veräppelt-fühlen scheint mir alles möglich.

Und hier weitere Kostproben der Durchhalteparolen:

x11: Foto-Shooting

Wald, Wald, Wald: Anstieg Nummer drei endet in weiter Linkskurve. Über einen Teppich aus rotbraunen Buchenblättern geht es schnurgeradeaus weiter. Und wieder: Wald, Wald, Wald. Die Veranstaltung trägt ihren Namen zu Recht! Manche werden das als langweilig empfinden. Ein Waldverrückter wie ich fühlt sich hier wohl. Der Wald endet schließlich oberhalb des Dörfchens Bischofsheim, das sich mit Feldern und Wiesen umgibt. Auf asphaltiertem Weg erreichen wir die Senke und biegen zu einem Weiher hin ab. Am Ufer verhalte ich für einen Moment, um einen attraktiven Schnappschuss quer über die Wasserfläche einzufangen. Gerade wieder auf Laufkurs holt mich eine Stimme von hinten ein: „Soll ich mal ein Foto von dir machen?“ „Roxi zu mir!“ Dann sitzt sie neben mir und das angebotene Bild entsteht. Es kostet Zeit und wirkt gestellt, trotzdem gefällt es mir.

x12: Gegenverkehr

Wenn du unten bist, geht es wieder rauf! Nein, das ist keine der offiziell am Wegrand gepflanzten Spruchweisheiten, sie entstammt meiner Feder. Seit Minuten trabe ich aufwärts in Steigung Nummer vier. Natürlich anstrengend, doch wie schon ihre Vorgänger gut zu laufen. Sie mündet nach knapp zwei Kilometern in die bereits überquerte Straße. Auch an dieser Stelle wurde eine Einheit des Roten Kreuzes postiert, diesmal sogar mit ausgefahrenem Funkmast. Vorbildlich häufig treffe ich entlang des Rundkurses auf Sanitäter. Mit Roxi am Fuß überwinde ich 200 Meter am Straßenrand und tauche wieder im Wald ab. Roxi muss trotzdem bei mir bleiben. Halbmarathonläufer – sie starteten mit einer Stunde Versatz – strömen uns entgegen. Für einen knappen Kilometer decken sich an dieser Stelle Hin- und Rückweg der Schleife. Ich will mir lieber nicht vorstellen, welche Wirkung eine unkontrolliert zwischen vielen Läuferbeinen hin und her wieselnde Roxi auf das Wettkampfgeschehen hätte …

Noch zwei Kilometer, dann haben wir Runde eins hinter uns. Wie schon mehrmals, fühle ich in mich hinein und versuche meinen „Zustand“ zu ergründen. Doch auch diesmal beende ich den Versuch ohne verlässliches Ergebnis. Seit einigen Minuten streben wir abwärts. Das bedeutet für die Beine weite, schnelle und nach 19 Kilometern schon etwas schmerzhafte Schritte. Mein Treibstofftank scheint dagegen noch mehr als halbvoll. Beiden Empfindungen traue ich nicht über den Laufweg.

x13: Die Dame in Rosa

Schon seit dem kurzen Stück Straße verfolge ich eine recht auffällig gekleidete Amazone. ‚Frauen haben’s gut. Die können anziehen, was sie wollen. Wird alles toleriert.’ war mein erster, spontaner Gedanke. Sie trägt ein rosa Miniröckchen, dazu rosa Kniestrümpfe mit einem Herz im oberen Wadenbereich. Eigentlich hätte es angesichts des „Röckchens“ in meinem Kopf schon „Klick!“ machen müssen. In meinem ganzen Wettkampfdasein ist mir nur einmal eine Läuferin mit Röckchen über den Weg gelaufen. Etwa zehn Meter schräg versetzt hinter ihr her trabend, springt mich dann schlagartig die Erinnerung an: ‚Ist das etwa … ? Ja, klar, das ist sie!’ Vor mir läuft Marika Heinlein, eine der führenden deutschen Ultraläuferinnen. Jedenfalls war sie das 2008, als sie in Berlin überlegen die Deutsche Meisterschaft im 24-Stunden-Lauf der Damen abräumte. Als ich sie einhole meint sie feixend: „Du hast dir einen Schrittmacher mitgenommen!“ Ich gebe ihr recht und erinnere sie an die gemeinsame Erfahrung in Berlin: „Wir kennen uns aus Berlin 2008, vom 24-Stunden-Lauf! Du warst die Frau mit dem fürchterlich zerschundenen Gesicht!“ Damals stürzte sie in der Dunkelheit auf einem unzureichend ausgeleuchteten Streckenabschnitt und schürfte sich eine Gesichtshälfte auf. Schließlich sprechen wir über den aktuellen Lauf. Dabei sagt sie einen Satz, der den meisten Läufern überheblich, zumindest aber großspurig, in den Ohren klänge: „Normalerweise laufe ich solche kurzen Dinger nicht so gern, da muss man sich so beeilen!“ Einen Marathon als „kurzes Ding“ zu bezeichnen löst bei mir ganz andere Gefühle aus. Für einen kurzen Moment durchziehen mich Neid und heftiges Bedauern; denn für mich sind Marathonstrecken, nach mehrmonatiger Verletzungspause und mitten im Wiederaufbau, leider noch ziemlich „lange Dinger“.

x14: Halbzeit

Mit flotten, weiträumigen Schritten nähere ich mich dem Zielbereich und versuche nicht daran zu denken, wie die harten Erschütterungen meinem anfälligen Lendenwirbelbereich zusetzen könnten. Aktuell spüre ich dort nichts Besorgniserregendes. Aber dieser Frieden ist trügerisch. Was wird morgen sein? Runter, runter, runter. Das Tal scheint gar keinen Grund zu haben. Dann eine scharfe Rechtskurve, die ich hochkonzentriert nehme und nach einer weiteren Minute blinken die Aufbauten des Zielbereichs durch den herbstkahlen Wald. „Roxi zu mir!“ Wir wollen doch eine möglichst diszipliniert aussehende Figur beim Zieldurchlauf abgeben. Eine Tafel am Eingang des Zielkanals sortiert: 2. Runde links, Zieleinlauf rechts. Mit Roxi am Fuß renne ich auf die Wegkreuzung mit den Zelten zu. Der Sprecher nennt meinen Namen, entlässt uns aber nicht ohne die alles entscheidende Frage: „Und wer sieht jetzt noch frischer aus? Mann oder Hund?“ Ein paar applaudierenden Zuschauern schenke ich ein Lächeln und stelle mit Fingerzeig auf Roxi die Kräfteverhältnisse klar …

x15: Waldeseinsamkeit

Auf ein Neues: Zwei und einen halben Kilometer bergauf. Das fühlt sich unerwartet anstrengend an. Folglich bedarf ich keiner Ermahnung zu verhaltenem Trab. Vielleicht wäre mehr drin und ganz sicher nehme ich in Kauf für die zweite Runde mehr Zeit zu brauchen. Aber ich möchte mich hier nicht völlig verausgaben. Zeitweise joggen Roxi und ich ganz alleine durch den Naturpark Haßberge. Immer wieder erschnuppert und verfolgt die sensible Hundenase verführerische Spuren. Eichhörnchen? Rehe? Wildschweine? Mich erfreuen eher optische Eindrücke. Ohne Witz: Nach über 20 Kilometern im Wald machen mich tatsächlich noch einzelne Bäume an. Solche wie der dort drüben am Hang; Obwohl schon alt, kräftig und mit mächtig ausladender Krone kann er sommers niemanden beeindrucken, weil dicht belaubte jüngere Exemplare ihn verdecken. Ich nehme sein entlaubtes Porträt mit heim und unterbreche dafür sogar den Lauf für einen Augenblick.

x16: Paradoxon

Obschon Sichtkontakte zu Mitstreitern nun immer seltener werden, empfinde ich die zweite Runde keineswegs als langweilig. Von Mal zu Mal springen Details oder Besonderheiten ins Auge, die mir im ersten Durchlauf entgingen. Im Grunde weiß ich nicht, wieso mir Marathonläufe mit zwei Runden im ersten Moment als weniger attraktiv erscheinen. Erst einmal unterwegs fand ich ausnahmslos Gefallen an der Möglichkeit die schönsten Abschnitte ein zweites Mal zu erleben.

Ein gutes Stück der zweiten Runde liegt hinter mir. Zum Beispiel der zweite, mit Abstand steilste Berg der Strecke. Und wie erwartet schreitet die Auszehrung voran. Es wird von Kilometer zu Kilometer härter. Völlig normal wirst du denken und ich stimme dir zu. Eine zweite Empfindung passt dagegen überhaupt nicht in dieses Bild. „Gefühlt“ tickt der Kilometerzähler schneller als beim ersten Mal und angeachtet wachsender Anstrengung kommt mir die Runde kürzer vor!???

x17: Selbstbetrug?

Unter vier Stunden zu laufen ist Pflicht. Selbst in einem Marathon, der mich für einen noch härteren konditionieren soll. Alles andere ist mir egal. Das sage ich jedem der mich fragt. Und wahrscheinlich glaube ich sogar selbst daran. In Wahrheit hatte ich gar keine Vorstellung davon, welches Tempo ich den Beinen auf dieser Berg- und Talfahrt abverlangen kann. Und seit sich ein verträgliches Tempo nach 10, 15, 20 Kilometern abzuzeichnen begann, achtet mein ehrgeiziges Selbst sehr wohl darauf in diesem Rahmen zu bleiben. 3:50 h lautet die magische Marke für heute. Der letzte von insgesamt acht Anstiegen spielt mir einigermaßen übel mit. Meine Schrittfolge kommt mir extrem langsam vor. Ich verliere Zeit, das ist sicher. Aber dann bin ich „oben“ und nur die abschließende „Schussfahrt“ trennt mich noch vom Finish. Mehrfach kalkuliere ich die mutmaßliche Ankunftszeit und erhalte die gewünschten 3:50 h. Aber sind die denn in Stein gemeißelt? Wäre doch schön darunter zu bleiben. Mit solchen Gedanken leite ich etwa bei Kilometer 39 die Schlussoffensive ein …

y: Das Duell

Es geht. Es geht sogar noch recht gut. Der forsche Parforceritt verursacht mir weder Probleme mit der Kraft, noch schreien die Beine wie sonst Zeter und Mordio. Für Zwicken und Zwacken hatten meine Knochen 40 Kilometer Zeit. Jetzt ist Vorfreude angesagt und ein bisschen Zielzeitkosmetik. Die Gedanken pendeln überflüssigerweise zwischen Bedauern und Genugtuung: Schade, heute wäre mehr drin gewesen, wenn ich mich an den Bergen nicht so zurückgehalten hätte. Oder: Letztlich zählt doch nur das Finish und die erfolgreich umgesetzte Vorgabe: Nicht voll verausgaben!

Noch einmal die scharfe Rechtskurve. Ich nehme das Tempo etwas zurück, um nun keinen Sturz mehr zu riskieren. Und dann passiert es: Zum ersten Mal seit etlichen Minuten vernehme ich hinter mir Schritte! Und die kommen rasend schnell näher. Schon kann ich das Getrappel zweier Verfolger ausmachen. Noch etwa 300 Meter bis zum Ziel. Wenn ich denn glaubte, er schlummere friedlich vor sich hin, dann belehrt mich mein Ehrgeiz nun eines besseren. ‚So kurz vor dem Ziel lasse ich mich nicht mehr überholen!’ Gedacht, getan und beschleunigt renne ich dem Ziel entgegen. Allein einer der Verfolger gibt nicht auf. Im Gegenteil. Ich kann hören, wie er schneller und schneller den Boden stampft. Also erhöhe auch ich mein Tempo ein weiteres Mal. Das gerät jetzt zu einer Art Steigerungslauf mit stufenloser Beschleunigung. Der Zielkanal! „Roxi Fuß!“ bringe ich mühsam, halb gezischt, halb gekeucht, hervor. Mit Roxi am Fuß erreiche ich den Zielkanal und habe damit das Duell eigentlich gewonnen. Wie jeder weiß, oder wenigstens wissen sollte, überholt man im Zielkanal nicht mehr. Für mich stellt sich augenblicklich eine neue Aufgabe. Ines wartet mit schussbereiter Kamera vor dem Ziel. „Roxi Fuß!“ wiederhole ich nun mehrfach. Und dann gibt es ein kleines Kuddelmuddel: Roxi entdeckt Ines und dreht ruckartig den Kopf herum. Ich konzentriere mich auf den Hund, zische einmal mehr „Roxi Fuß!“ und werde ein wenig langsamer. Diesen Moment nutzt mein Verfolger, rempelt mich rüde an und zischt vorbei. Durch den Rempler entgleitet mir kurz die Kontrolle über Roxi und … weg ist sie. Natürlich bei Ines, um die sie nun mit wilden Freudensprüngen herum wieselt. Also lege ich die letzten fünf Meter alleine zurück und vollende meinen 65. Marathon.

Zeit: 3:50:43 h
Platzierung Gesamt: 61. von 158
Platzierung M55: 8. von 17

Fazit zur Veranstaltung

Ein Landschaftsmarathon der besonderen Art, beherrscht von wunderschönen Mischwäldern und langen Auf- und Abstiegen. Wer beides mag, wird sich auf diesem zweifachen Halbmarathonkurs wohl fühlen. Dazu trägt auch die sehr reichhaltige und aufmerksame Versorgung auf der Strecke bei. Als vorbildlich empfand ich das hohe Aufgebot an Sanitätern, die notfalls in wenigen Minuten jeden Punkt der Strecke hätten erreichen können. Die Organisation verlief völlig reibungs- und verzugslos.

Ein wenig Befremden löste der Umstand aus, dass Nachmeldungen nicht möglich waren. Und noch mehr die Begründung, man habe nicht ausreichend Transponder zur Verfügung. Wenn dem so ist, gibt es sicher eine Zeitmessfirma, die unbegrenzt Transponder bereitstellt. Wo ist das Problem?

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