Ein Gang nach Canossa?   -

       Maratona d'Italia memorial Enzo Ferrari

Maranello, Italien, am 10.10.10, um 8:30 Uhr: Eigentlich ein guter Tag, um einen Marathon zu laufen! Diese Einschätzung hebt nicht aufs merk-würdige Datum ab, an dem auch hier in Bella Italia Standesbeamte Segen im Akkord erteilen. Mein Blick richtet sich gen Himmel: Endlich einmal traumhaftes Marathonwetter! Seit eben lugt die Sonne über die Dächer von Maranello, kein Lüftchen regt sich und die Quecksilbersäule hat die zweistelligen Werte noch vor sich. Sogar die gewohnte Dunstglocke über der Poebene fehlt, also darf ich mit hierzulande ungewöhnlich niedriger Luftfeuchtigkeit rechnen.

Eigentlich ein guter Tag …“ Der Vorbehalt ist rasch erklärt: Mein Leib hat zwei Wochen Urlaubs-Völlerei zu verkraften, die leider nicht folgenlos blieben. Gefühlt wiege ich inzwischen einen Zentner mehr. Während zusätzlicher Ballast das Marathon-Geschehen nur ungünstig beeinflusst, kann sich die akute, vom Vielfraß verursachte Empfindlichkeit meines Magens durchaus zur totalen Spaßbremse auswachsen. Nach dem Marathon in Güssing fehlte es mir nicht an gutem Willen Maß zu halten. Doch vortreffliche Weine und schmackhafte, kroatische Spezialitäten torpedierten allabendlich meine hehren Vorsätze. Eine weitere Strophe im alten Lied: Der Geist ist willig, aber das Fleisch entsetzlich schwach.

Der macht nach langer Abstinenz* binnen zweier Wochen schon wieder Jagd auf den Marathon-Lorbeer? Klarer Fall von Suchtverhalten!? Ganz falsch liegst du mit dieser Bewertung sicher nicht, landest aber auch keinen Volltreffer. Die Gelegenheit im Urlaub einen der von mir so begehrten Italien-Marathons quasi en passant mitzunehmen wollte ich nicht ungenutzt lassen. Außerdem nötigt mich das für einen Wiedereinsteiger anspruchsvolle Saisonziel (Untertage Marathon Sondershausen) mein Stehvermögen auf der Langstrecke bis Anfang Dezember zu stabilisieren.

Deswegen stehe ich jetzt hier in Maranello. Maranello? Millionen Menschen auf der ganzen Welt, seien sie ansonsten in Italiens Geographie auch wenig bewandert, horchen bei dieser Ortsbezeichnung auf. Irgendwo, ein paar Straßen weiter, schrauben sie Ferraris zusammen. Damit ist schon mal erklärt, wie der Maratona d’Italia zu seinem „memorial Enzo Ferrari“ gekommen ist. Obzwar Ferraris, insbesondere solche, die zur Volksbelustigung im Kreis herum fahren, in meinem Interessensspektrum üblicherweise keine Rolle spielen, vermag ich mich der Exklusivität des Schauplatzes Maranello nicht zu völlig entziehen. Einen Steinwurf von hier sichern mannshohe Tore die Einfahrt zur Ferrari-Teststrecke „Pista di Fiorano“ und die Startaufstellung formiert sich unmittelbar vor dem Eingang zur „Galeria Ferrari“, einem bei Einheimischen und Touris gleichermaßen beliebten Museum, in dem sich thematisch alles um die roten Flitzer dreht. Mit Ines streife ich ein klein wenig umher, lasse mich von Atmosphäre und Umgebung anstecken. In Anfällen kindlicher Begeisterung knipse ich alles, was mit Marathon und Ferrari zu tun hat. Auch wenn der Abstand zu meinen wilden Jahren, in denen schnelle, wunderschöne Autos spontanen Achselschweiß verursachten, bereits einige Dekaden beträgt, erhöht sich just bei DIESEM Anblick mein Augeninnendruck um wenigstens ein Atü. Vor den Büros des so genannten „Warm-Up Maranello“ parken drei knallrote Edelboliden – bereit zur Probefahrt. Kein Scherz! Nach Voranmeldung – bezüglich Wartezeiten möchte ich lieber nicht spekulieren – kann hier jedermann die vor Erregung zitternden Hände um den Ledervolant (s)eines Traumautos schließen. Diese Kuriositäten und der azurblaue, nur mit ein paar Wolkenschleiern dekorierte Himmel drehen mein Stimmungsbarometer auf sehr sonnige Werte.

Mit punktuellem Durcheinander muss man bei Laufveranstaltungen, zumal in Italien, immer rechnen. Heute verursacht es einer der Busse, die zunächst Läufer vom Ziel in Carpi hierher karrten und nun als „Lumpensammler“ dienen (Transport der Kleiderbeutel). Ein energisch auftretender Ordner hat erkannt, dass noch ein Bus fehlt und auf dem engen Areal neben der Galeria Ferrari keinen Platz mehr finden wird. Also muss besagter Wagen weichen, wobei ihm die Warteschlange vor drei Mobiltoiletten – darin auch Ines und ich – im Wege steht. Nach Gestikulieren, Scherzen oder mindestens dem Lächeln der Beteiligten hat das rollende Ungetüm die zwanzig Meter Versatz überwunden ohne Schaden an Läufern, herum stehenden Taschen oder dem Fäkalkabinett anzurichten. Um keine falsche Vorstellung zu hinterlassen: Italienische Organisation bei Laufveranstaltungen funktioniert mit hoher Präzision, was ich oft genug erleben durfte. Und die pragmatische, entspannte Bereinigung kleiner Pannen, wie der gerade überstandenen, macht mir das Laufen unter südlicher Sonne noch liebenswerter.

Eine dieser hassenswerten Mobiltoiletten zu nutzen verursacht mir Anfälle von Waschzwang. Auf der Suche nach Waschbecken und Seife gerate ich unversehens in jene Gruppe von Frauen und Männern, die den „Maratona D’Italia am 10.10.10“ gewinnen wird. Ihren Sieg zu prophezeien erfordert keine hellseherischen Kräfte, eine kurze Musterung der dunkelhäutigen Athleten beiderlei Geschlechts genügt: Drahtig austrainiert, alle einen Kopf kleiner als ich und auch nur halb so breit. Während mein Windwiderstand dem eines Lkw ähnelt, begeistern sie mit den cw-Werten der Ferraris dort drüben… (Siegerzeit von Paul Kosgei, Kenia: 2:09:00 h).

9 Uhr. Skater und Handbiker – die wahren Helden – sind bereits unterwegs. HM- und Marathonstart wurden auf 9:20 Uhr verschoben. Warum weiß ich nicht, so steht es jedenfalls auf dem gestern erhaltenen Handzettel. Die niedrigen Temperaturen lassen mich zögern den Kälteschutz auszuziehen, um die Wettkampfvorbereitungen abzuschließen. Erst einmal unten herum entblößen. Schuhe wieder anziehen, sorgfältig schnüren, Doppelknoten. Innere Checkliste weiter abarbeiten: Klettband durch den Chip ziehen. Sicheren Sitz oberhalb des rechten Fußknöchels überprüfen. Drei Gelbeutelchen in die Gesäßtasche stecken. Reißverschluss nur halb schließen, das erleichtert später die Handhabung und raus fällt da ohnehin nichts. Die Kälte kommt über die Beine nicht an und deshalb ziehe ich wagemutig die Trainingsjacke aus. Rasch geselle ich mich wieder zu Ines, nachdem mein Laufrucksack in einem der Busse verschwunden ist. Den Gedanken an einen Kunststoff-Poncho habe ich verworfen. Seltsamerweise überkommt mich auch im luftigen Träger-Shirt kein Frösteln. Das Abschiedsritual: Kuss und gute Wünsche von Ines, dann wende ich mich der vorgesehenen Startbox zu. Der Kontrollposten am Eingang nimmt seine Aufgabe ernst, wie in Italien üblich. Ich betrete den mittleren von drei Blöcken. Er ist LäuferInnen mit den schwarzen Startnummern – Pettorali Neri – vorbehalten, die bei der Anmeldung Zeiten zwischen 2:45 bis 3:30 h innerhalb der letzten zwei Jahre nachweisen konnten.

9:10 Uhr. Ich mag diese letzten Minuten vor dem Start, wenn Erwartung von Vorfreude bestimmt und kaum mehr von Bedenken belästigt wird. Dann bin ich zugleich aufgekratzt und völlig ruhig. Meine Digicam fängt Szenen „kurz vor dem Marathon“ ein: Läuferfront des letzten Startblocks hinter brusthoch gespanntem Trassenband. Mehrere Pacemaker bei Startvorbereitungen, darunter – sensationell! – eine Frau. Dann einen Kämpen, dessen dicht mit flüssiger und fester Energie bepackter Hüftgürtel unwillkürlich an einen Pistolero in amerikanischen Western erinnert. Oh! Dieses Bild brauche ich! Jagdfieber schlägt eine erste Welle in meiner Herzfrequenz, während ich die Kamera auf eine greise Frau richte. Sie sammelt alte T-Shirts ein. Kälteschutz, den Läufer nach dem Ausziehen achtlos über die seitliche Barriere warfen. Du begreifst nicht, weshalb mich diese Randnotiz in Erregung versetzt? Sicher hast du noch nie versucht einen Marathon-Ratgeber zu schreiben und zu bebildern, der eben diese Szene erwähnt.

Die Welt ist ein Dorf, die Marathon-Welt erst recht. Und doch mag ich kaum glauben, wer da plötzlich hinter mir im freien Raum des Startblocks auftaucht! Ein Indianer hinter lauftauglichem Kinderwagen „fährt vor“ und grüßt Bekannte. Den Häuptling im Federschmuck kenne ich. Schon im Mai 2008, beim Custoza Marathon, lief mir die schrille Gestalt vor die Linse (Siehe Bild im Laufbericht). Kein Zweifel. Seine gedrungene Gestalt und das markante Profil haben sich mir verwechslungsfrei eingeprägt. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen kann: Die „Rothaut“ finished den Maratona D’Italia 2010 in 3:32 h. Keine üble Leistung, wenn man zugleich ein etwa dreijähriges Mädchen auf Rädern vor sich her schiebt.

9:15 Uhr. Die Busse rangieren auf dem Parkplatz und fahren davon. Ich fühle mich leicht, fast schon unbeschwert. Alles heiter: Die vielen italienischen Mitstreiter in ihren bunten Trikots, der Himmel, die unablässig und impulsiv kommentierende Stimme aus den Lautsprechern. Nach leichtem Frühstück kooperieren sogar Magen und Unterbauch. Also bleibe ich bei der Entscheidung für die gnadenlose Variante. Alles an Leistung abrufen, was in den Beinen steckt. Meine Lauftaktik zielt grob auf die in Güssing erreichte Zeit von 3:27:44 h (~ 4:55 min/km). Wenn möglich, will ich darunter bleiben.

Die letzten zwei Minuten verstreichen. Ich blicke umher, kann mich nicht satt sehen, habe Hunger. Marathon-Erlebnis-Hunger! Fraglos steht die sportliche Leistung im Mittelpunkt. Aber Marathon ist mehr. Marathon ist Leben. Nur noch Sekunden. Bin in mir versammelt, konzentriert. Startschuss. Nach kurzer Verzögerung setzen wir erste, kollektive Trippelschritte. Der zufällige Laufkamerad zu meiner Linken schlägt ein dreifaches Kreuzzeichen. Mit Respekt würdige ich das rituelle Hilfeersuchen des Mannes. Vor dem Starttor das übliche Auflaufen, Stauen und Wieder-Antraben. Hektisches Dauerpfeifen der Zeitnahme, Uhr abdrücken, Startlinie überlaufen und nun gilt’s… Carpi ich komme!

Die dicht gestaffelte Meute verschleppt das Tempo. Einerlei, ich habe es nicht eilig, will mich stattdessen in Position bringen. Ines wartet mit schussbereiter Kamera irgendwo am rechten Streckenrand. Trotz meiner Randposition drängeln Ungeduldige rempelnd beidseits vorbei. Eine nicht ungefährliche, aber lässliche Sünde. Mit dem Ehrgeiz einer persönlichen Bestzeit im Kopf ließ ich mich auch schon zu gewagten Überholmanövern hinreißen. Ines zielt mit dem Objektiv auf mich. Ohne sicher zu sein, ob sie mich überhaupt wahrnimmt, bin ich auch schon vorbei. Macht nichts. Den Auftakt bildet eine Schleife durch Maranello, so dass wir uns in ein paar Minuten, eine Straße weiter, wiedersehen.

Aufpassen! Abbiegen kurz nach dem Start ist eine haarige Angelegenheit. Jeder sucht den kurzen, inneren Weg und dort wird’s eng. Tempo runter, Tempo rauf. Nicht nur an der Ecke. Diese folgende Straße ist schmäler als die Startallee und zur Verkehrsberuhigung mit Pflanzbuchten gespickt. Hektische Ausweichmanöver der Vorderleute warnen rechtzeitig. Obwohl in verhaltenem Trab absolviert, kostet der Auftaktslalom Kraft. Und minimal aufwärts geht es auch. Meine Beine fühlen sich müde an, eingerostet, im Grunde nicht Marathon tauglich. Dafür gibt es nur eine Erklärung: Das Dolce Vita zweier Urlaubswochen. In den Hügeln der Istrischen Halbinsel habe ausreichend trainiert, mich einmal sogar mit mörderischem Intervalltraining am Berg gegeißelt. Doch mehrere, im kulinarischen Überfluss verbrachte Tage machen mürbe. Voilà! Hier bekommst du die Quittung. Nach links, vorbei an der ersten Kilometertafel. 5:10 min sind um, der erwartet langsame Beginn.

An sich kein Beinbruch, zum Einlaufen sehr willkommen. Dass aber der Pacemaker 3:30 h und seine Gefolgschaft gerade vor mir einschwenken, passt mir gar nicht. Ein solcher Schwarm verstopft früher oder später die Straße und fällt wie Heuschrecken über Verpflegungsstände her. Nun durch einen Kreisverkehr und wieder in Gegenrichtung zurück. Es geht leichter jetzt. Ich beschleunige und ziehe wieder am 3:30h-Tross vorbei. Zu diesem frühen Zeitpunkt, noch nicht warmgelaufen, ist das taktisch unklug; doch Ines liefe Gefahr mich hinter der breiten Walze aus Läufern zu übersehen. Stattdessen laufe ich nun frei auf sie zu und wir grüßen uns zum letzen Mal bis…

„Bis…“ ist heute ungewiss. Vor des Rätsels Lösung ein wenig Strecken-Geographie: Der Start erfolgte unmittelbar am Rand der brettflachen Poebene. Am südlichen Ortsrand von Maranello erheben sich die ersten Hügel des Appenins. Jenes Gebirgszuges also, der sich über den kompletten italienischen Stiefel bis zur Südspitze erstreckt. Wir laufen in Nordrichtung, überbrücken Luftlinie etwa 30 km, bis zum Finish im Städtchen Carpi (nicht „Capri!“). Die vielen als Herkunftsort für Balsamico-Essig** bekannte und mit über 180.000 Einwohnern weit größere Industriemetropole Modena erleben wir etwa zur Mitte des Laufes. Und nun wieder zum „bis…“: Bislang war Ines froh, wenn ich in Italien chauffiere. Sie sitzt lieber daneben und krampft die Hände ins Sitzpolster, während ich mich vergnügt der zuweilen offensiven Fahrweise im fettesten Großstadtverkehr anpasse. Sie verfügt also über Null Fahrpraxis im Land südlich des Alpenhauptkamms… Und nun verlangt die Situation von ihr mutterseelenalleine 50 Straßenkilometer nach Carpi zu fahren. Mehr noch: Wenn möglich, will sie mich zwischen Modena und Carpi an der Strecke anfeuern. Zugegeben: Sie hat ein aktuelles Navi zur Verfügung, Karten ebenso und Italiener sind hilfsbereite Menschen. Sicher besonders, wenn sie auf eine verirrte Signora Tedesca treffen. Dennoch verursachte ihr das Projekt Maratona D’Italia wohl mehr Herzklopfen als mir. Wann und wo werde ich meine Frau wiedersehen?

Neue Eindrücke verscheuchen solche Gedanken rasch. Das Kapitel „Ferrari“ schien schon abgeschlossen, da taucht linker Hand der „Ferrari Store“ auf. Wie es scheint eine Devotionalien-Handlung rund um das Thema Edelkarosse. Im Eifer des Schnappschusses hätte ich fast die Einfahrt zum eigentlichen Zentrum des Ferrari-Imperiums verpasst, wo die sündhaft teuren Autos tatsächlich entstehen. Nur ein flüchtiger Eindruck im Augenwinkel und vorbei.

Vier Kilometer liegen hinter mir. Nach dem allzu forschen zweiten Kilometer (4:37 min) zwinge ich mich defensiver zu laufen. Meine Sensoren melden verwirrende „innere Widersprüche“. Das durchaus anspruchsvolle Tempo fordert meinen Herzmuskel lediglich mit gemütlichen 75% vom Maximum. „Normal“ wären im derzeitigen Ausdauerzustand knapp 80% für die Frühphase des Wettkampfs. Ein gutes Zeichen? Meine anfangs müden Beine sind dagegen immer noch müde. Die Muskulatur verhärtet zusehends. Wieso? Folge des Urlaubsschlendrians? Jedenfalls ein schlechtes Zeichen! Den niedrigen Puls kann ich mir erklären. Carpi liegt etwa 30 Meter tiefer als Maranello. Ich vermute das Gefälle auf der ersten Teilstrecke, was mir später von der GPS-Aufzeichnung bestätigt wird. Wie dem auch sei, die einmal angefachte Begeisterung lässt ernsthafte Bedenken nicht zu. Außerdem: Ich laufe das „Ding“ sowieso zu Ende. Warum sich also jetzt schon graue Haare wegen des möglichen Siechtums in der Finalphase wachsen lassen?

Die erste Verpflegungsstation. Wie in Italien Usus, wird nur Wasser angeboten. Frank und frei: Knausern ist meinen Sinnen eher fremd. Dennoch hasse ich Verschwendung in jeder Form und hier zwingt man mich dazu: In vollem Lauf lange ich nach einer Halbliter(!)flasche „San Benedetto naturale“ und presse ein paar Schlucke davon in den Mund. Den Rest schleudere ich widerwillig in Richtung Straßenrand, wo bereits einige hundert Plastikflaschen langsam „ausbluten“. Ein trauriges Bild. Noch ärger die Gewissheit, dass sich das nun alle 5 Kilometer wiederholen wird… Die kurze „Druckbetankung“ lenkt meine Wahrnehmung vorübergehend in Richtung Körpermitte. Fast hatte ich vergessen wie malträtiert sich der Magen-Darmbereich während der ersten fünf Minuten anfühlte. So erneuert sich mein strenger Vorsatz heute mit Bedacht zu trinken. Die drei Beutelchen Gel sind vor den Wasserstellen der Kilometer 10, 20 und 30 vorgesehen.

Wo hört Maranello auf, wo fängt Formigine an? Minute um Minute ziehen sonntäglich verlassene Betriebsansiedlungen verschiedener Größen vorbei. Dem folgt eine vergleichsweise winzige Lücke, die beidseits den Blick auf flaches Umland frei gibt, bevor weitere Gewerbegebiete die nächste Gemeinde ankündigen. Weit und breit kein Mensch. Das ändert sich im Ortskern von Formigine, wo entlang der Absperrung mehrere hundert Menschen dem Spektakel beiwohnen. Applaus und vereinzelte Anfeuerungsrufe sind zu hören. Unter „Bravi! Bravi!“ oder „Forza ragazzi!“ passieren wir das beeindruckend wehrhafte „Castello“ und die schmucke Piazza des Ortes. Wieder einmal Wasser auf meine Mühlen. Unglaublich viele, vor allem auch kleine Gemeinden, erfreuen in Italien mit einem liebevoll restaurierten, historischen Kern.

Ich habe das vorgesehene Tempo justiert und halte es mit nur sekündlicher Varianz. Trotz harter Beine (‚Es wird enden wie vor zwei Wochen! Ach egal. Jetzt macht es Spaß!’) vergeht die Zeit wie im Flug. Für deutsche Augen gibt’s hier immer Ungewohntes zu sehen. Der Geist bleibt beschäftigt und sei es nur durch Entschlüsseln der Bedeutung einer bunten Reklametafel. Angenehmes, ereignisloses Traben. Kilometer 9 liegt ein paar Minuten zurück, die nächste Tränke naht. Gerade schiebt sich leichtfüßig eine Amazone an mir vorbei. Ihr schwarzer Zopf pendelt im Takt der langen Beine. Nicht ablenken lassen. Es wird Zeit für das erste Gel. Gleich gibt’s „Acqua naturale“ zum Nachspülen und um verkleckerten „Klebstoff“ von den Händen zu waschen. Nach kurzem Nesteln in der Gesäßtasche halte ich das feuchte Beutelchen in der Hand. Kurzer Aufreißversuch mit den Zähnen und … mit einem Flutsch sausen die Kalorien zu Boden. Unwillkürlich und nicht druckreif entfährt mir der passende teutonische Fluch. Widerstreitende Impulse der Art ‚Stehenbleiben! Beutel aufheben! Weiter! Kannst nicht plötzlich abstoppen, hinter dir laufen welche!’ zischen durch meine Hirnwindungen; begleitet von Gefühlen des Bedauerns und der Scham. Ein rascher Seitenblick enthüllt mir nicht, ob die Bezopfte Missgeschick und deutsche Unart wahrgenommen hat. Einerlei. Leider ist nun ein Drittel meines Kalorienvorrats perdu.

Dorf um Dorf bleibt hinter uns. Der nächste Schritt – die übereinander montierten Ortstafeln verkünden es – bringt mich von Casinalbo nach Baggiovara und vor das Pappschild mit der 10. Schon eine Weile folge ich Bruno. Bruno habe ich mir als Model ausgeguckt. Schlanke Gestalt, kahler Schädel, schickes gelb-blaues Outfit, mithin beste Eigenschaften, um im bevorstehenden Shooting gut zu performen. Einmal mehr kommt eines der mysteriösen Pappschilder in Sicht, „Maratona rallentare“ steht darauf. Bruno auf dem Catwalk daneben und ... klick. „Rallentare“ heißt „verlangsamen“. Wen meinen die? Uns Läufer wohl kaum und für Fahrzeuge ist die Strecke tutto completo gesperrt. Hübsch! Auch dieses Bild macht sich gut im Laufbericht. Ortstafel von „Saliceta San Giuliano“ (Wie das klingt!!), davor zwei Polizistinnen und nun noch einen Moment bis Bruno … Klick! Unschwer zu merken, dass die Freude heute mitläuft, wenngleich mir das erst hinterher, beim Schreiben so richtig bewusst wird. Endlich wieder richtigen Spaß haben beim Laufen! Und nun freue ich mich auf Modena.

Der Autor unseres Reiseführers mag Modena nicht. Seine Sätze klingen alles in allem eher abfällig. Ein bisschen düster und wenig freundlich habe man die Altstadt einst errichtet. Die Randbezirke und der mit hohen Bäumen begrünte Verkehrsring um die innere Stadt empfinde ich schon mal als überhaupt nicht abweisend. Im Gegenteil. Unter schattigen Bäumen, in langem Bogen leicht auf- und sofort wieder abwärts, überhole ich eine klapperdürre Läuferin. 60 Jahre alt? 65 oder schon 70? Womit bewegt sie die Beine? Ich kann keine Muskeln erkennen, nur Haut und Knochen. Ihr leichtfüßiger Laufstil mutet ein wenig sonderbar an, weil sie enorm mit den Armen rudert. Ganz am Anfang fiel sie mir schon einmal auf, als sie mit „Have a good run!“ eine jüngere Läuferin grüßte.

Wir biegen nach links ab und … Düster soll das ein? Unversehens traben die Füße über das Kopfsteinpflaster der Altstadt und hübsche, in warmen Ocker- und Rottönen gehaltene Häuserfluchten ziehen vorbei. Vielleicht war der Schreiber ausschließlich bei Regenwetter in Modena!? Heute wölbt sich blauer Himmel über allem und die Sonne bringt die Fassaden zum Leuchten. Voraus schiebt sich einer der in der Region so typischen Arkadengänge ins Blickfeld. Vorgestern, auf Besichtigungstour in Bologna, konnten Ines und ich uns daran nicht satt sehen. Herrliche, alte Architektur!

Nun nach rechts, geradeaus … nichts Spektakuläres … Weiter. Meine Spannung wächst. Ich warte auf die versprochene Attraktion. Im Vorwort zum Hochglanzmagazin des Maratona d’Italia lädt Signor Bernardini, der „Generale Commandante dell’Accademia Militare“ mit viel Pathos zum Durchlaufen seiner Offizierschule ein. Als pensionierter Soldat bin ich doppelt aufgeladen, wohl wissend, dass Italiener dergleichen mit ungebremstem Stolz zu zelebrieren wissen. Voraus überbrückt ein Quergang die Straße, verbindet zwei Gebäude miteinander. Kein Zweifel, das ist die Offizierschule. Warntafeln und stacheldrahtbewehrte Mauerbrüstungen zur Linken geben letzte Sicherheit. Dann ist es soweit: Vier Soldaten, an ihren Uniformen kann ich sie den verschiedenen Waffengattungen zuordnen, markieren den Eingang zum rückwärtigen Hof. Über uraltes Pflaster aus Kieselsteinen rennen wir auf ein gigantisches Portal zu und betreten das etwa 30 x 30 Meter große, von mehrstöckigen Säulengängen umschlossene Atrium. Wusste ich’s doch. Da hat der „Commandante“ noch eins drauf gesetzt: Mehrere Kadetten in Paradeuniform mit weißem Jäckchen und blauer Hose, paarweise einander zugewandt, stehen für uns Läufer Spalier. Das hat was, bestimmt auch für jene, die allem Militärischen reservierter begegnen. Und wenn dich militärisches Gepränge nicht beeindruckt, dann sicher die Prachtfassade, der Militärakademie, des Palazzo Ducale, von vorne. Um die zu bewundern und aus dem Portal hervor brechende Läufer mit der Digicam einzufangen, bleibe ich zweimal stehen.

Unfreundlich, düster? Mehrmals widerspreche ich diesem Urteil in Gedanken. Auch jetzt, da wir aus schmaler Gasse kommend über die „Piazza Grande“ mit (leider verhülltem) Dom und altehrwürdigem Rathaus rennen. Sportliche Ambition hin, Leistungsgedanke her – ein weiteres Mal drängt es mich zu verhalten und nachfolgende Marathonis vor der Kulisse einzufangen. Dermaßen im Bann urbaner Attraktionen habe ich meine schweren Beine völlig vergessen. Nicht einmal die holprigen Pflasterabschnitte, die mir auf ähnlichen Strecken durchaus zu schaffen machten, nehme ich negativ zur Kenntnis. Tolles Wetter, tolle Stadt, tolle Strecke – einfach ein herrlicher Lauf.

Der architektonische „Overload“ ist vorbei. Mit jedem Schritt entfernen wir uns vom historischen Stadtkern, messen dabei innerorts den letzten Kilometer des Halbmarathons ab. Auf dem Weg durch die Altstadt war die Uhr Nebensache. Dennoch habe ich meine Pace gehalten, trotz eifrigen Schauens und dreier Fotostopps. Alles automatisiert. Und nun? Binnen weniger hundert Meter wechselt mein Hauptaugenmerk von außen nach innen, vom Sehen zum Fühlen. Schuld ist eine ewig lange schnurgeradeaus führende Hauptstraße, die meine verwöhnten Sehnerven auf Entzug setzt. Schuld sind aber auch diverse Wahrnehmungen wirklich anstrengender Laufarbeit. Beinahe 21 für mich rasante Kilometer haben Spuren hinterlassen. In Güssing, vor Zweiwochenfrist, fühlte ich mich zur Halbzeit ähnlich angegriffen. Dort war ich sicher zum Ende hin einzubrechen, was dann auch so eintraf. Und heute? Ich fürchte eine Wiederholung des Finishs von Güssing, wage aber keine Prognose.

Stückweit voraus wölbt sich das luftpralle Halbmarathon-Tor über die Straße. Dran vorbei? Drunter durch? Eigentlich erwarte ich eine Weiche im Strom der Läufer, um auch den Halbmarathonis ein triumphales Finish zu bieten. Doch der komplette Tross hält darauf zu und wessen Wettkampf hier zu Ende, der schert hinterm Tor zur Seite aus – eher verschämt, klammheimlich, denn freudestrahlend und gefeiert. Nach 1:43:20 h quittiert die Zeitnehmung meinen Chip mit hellem Pfeifen. Die Kopfrechner-Automatik verdoppelt den Wert in Windeseile, doch ich setze auf Realismus: ‚Mach’ dir keine falschen Hoffnungen! Zum Ende hin wird’s kritisch!’

Wieder ein Faktum, das den Laufsport in Italien von deutschen Verhältnissen unterscheidet: Die Kette der Läufer hat sich zur Halbzeit kaum gelichtet. Woran mag das liegen? Am Leistungsniveau italienischer Läufer, das im Schnitt deutlich höher angesiedelt ist als bei uns? Trotz sprühender südländischer Laune im Feld, finden sich weit weniger Teilnehmer, die hauptsächlich den Erlebniswert des Laufens suchen – das „Event“. Oder geht es um eine Frage der Ehre? Gilt nur als Gladiator, wer bis zum (oft bitteren) 42,195 km-Ende durchhält? Mir blieben noch 20 Kilometer, um die grün-weiß-rote Läuferseele zu hinterfragen. Nur leider haben sich meine Italienschkenntnisse nicht entscheidend verbessert.

Wie kommt denn der hierher? Der Pacemaker 3:30 h – und diese Marke liegt zeitlich-räumlich definitiv hinter mir – lässt sich langsam zurück fallen und unter anderen von mir überholen. Es ist derselbe Mann – Aufmachung und Aussehen schließen jeden Irrtum aus – den ich kurz nach dem Start mit seinem Schwarm überholte. Jetzt kapiere ich gar nichts mehr. Musste er aussteigen und ließ sich hierher bringen, um wieder ins Zugläufer-Geschäft einzusteigen, wenn seine Truppe aufgeholt hat? Absolut rätselhaft.

Die Empfindung wachsender Anstrengung drängt sich immer mehr in den Vordergrund. Dem widersprechen Pulsmesser und Tempoanzeige mit konstanten Anzeigen. Es wächst folglich nicht die Anstrengung, sondern meine Ermüdung. Um der Schwäche mental leichter zu wehren, ernenne ich kurzerhand das vor mir laufende, identisch dekorierte Trio zu Pacemakern. Die drei schwatzen bisweilen miteinander, verfügen also offensichtlich über genug Luft unser Tempo zu halten. Diese Unterstützung kann ich brauchen, denn Brücken über Schnellstraßen und Bahnunterführungen modulieren zwar ein wenig den Puls, sind ansonsten nicht wirklich aufregend. Mal links rum, mal rechts rum, hier ein Kreisverkehr, dann eine Flussbrücke. Erst stimmt das milchig grüne, träg zwischen Kiesbänken fließende Gewässer die Augen auf Natur ein, dann wird es hinter der jenseitigen Brückenauffahrt echt spannend. Aus hoffnungslos überdrehten Lautsprechern krächzt Opernmusik. Woher sie kommt vermag ich nicht auszumachen. Dafür ein riesiges, naiv bemaltes Transparent auf dem man die Logen eines Opernhauses und dessen Dirigenten erkennt. Ich brauche nicht lange zu überlegen, um wen es sich dabei handelt. Nicht weit von hier, im damaligen Herzogtum Parma, lebte und arbeitete Giuseppe Verdi, Italiens größtes Musikgenie. Was für Patrioten diese Italiener sind! Neben dem Plakat verweilt der stolze Maler höchstselbst, um heftig applaudierend die Parade der Marathonis abzunehmen. Zum Glück gelingt mir aus vollem Lauf ein hinreichend scharfer Schnappschuss, sonst wäre mir das volle Ausmaß seiner Heimatliebe entgangen. In der Mitte des Bildes verewigt er auch den Campanile (Glockenturm) des Doms zu Modena, weiht eine Ecke der Darstellung eines Ferraris und zollt gegenüber einem Ereignis der Laufgeschichte seinen Respekt: Strauchelnde Läufergestalt und Jahreszahl 1908 verweisen auf den legendären Lauf von Dorando Pietri, der wenige Meter vor dem Ziel des Olympiamarathons in London zusammenbrach.

Die von Verdi einst komponierte, von den Lautsprechern übel verhunzte Arie ist lange verklungen. Und meine Pacemaker konnte ich nach einer durch Trinken verursachten Verzögerung nicht mehr einholen. 26 Kilometer sind gelaufen. Wundersamerweise werde ich nicht langsamer. Alle tausend Meter lese ich Zeiten ab, die nur unwesentlich über oder unter der geplanten Pace von 4:55 h liegen. Kalter Gegenwind von schräg vorne, nicht stark aber stetig, verschärft inzwischen die Wettkampfbedingungen. Felder und Wiesen wechseln sich ab und nur selten gewähren ein paar Häuser oder Büsche Schutz vor dem Gebläse. Das bringt die seltenen Schweißtropfen nun völlig zum Versiegen. Dafür lasse ich eine neue Quelle der Motivation sprudeln. Es ist nicht mehr weit bis nach „Ganaceto“. An sich ein unbedeutender Weiler im Flickenteppich der Poebene. Doch wenn es die Umstände zulassen, dann wird Ines dort an der Strecke stehen. So ist es abgesprochen. Ich fühle mich ein bisschen gespalten. Der eine Teil müht sich eitel um Tempokonstanz bei „optisch guter Pose“ – wenn schon fotografiert dann mit Stil! – den anderen amüsiert dermaßen pfauenhaftes Getue. Kilometer 28, dann die Ortstafel von „Ganaceto“, meine Spannung steigt. Kilometer 29, hüben wie drüben verlieren sich ein paar Zuschauer, aber keine Spur von Ines und Roxi. Am Ortsausgang regt sich nach missglücktem Rendezvous nur gelinde Enttäuschung und um mich ernsthaft zu sorgen, habe ich weder Anlass, noch ausreichend Kraft.

Plötzlich steht sie da. Nein, nicht Ines. Die Kilometertafel mit der „30“ und eine mit weißer Farbe auf den Asphalt gepinselte Zahl bestätigt die Angabe. Zum Zieltor der 30 km-Läufer bin ich von hier hingegen noch gute 150 bis 200 Meter unterwegs. Was stimmt denn nun? Das lang anhaltende „Pfüüüüüüüüt“ der Zeitmessung unterbricht mein Grübeln. Ich beobachte vor mir nur einen Läufer, der hier seinen Wettkampf beendet. Verständlich. Kein halber und kein ganzer Marathon. Hier auszusteigen käme für mich nicht in Betracht. Da müsste ich schon vor Schwäche umfallen, wie weiland Dorando Pietri im Londoner Marathon Finish.

Ich hatte gehofft ausgangs Modena alle Brücken und Unterführungen abgearbeitet zu haben. Aber diese als weite Rechtskurve gestaltete Überführung der Bahnlinie fehlt noch. Es fühlt sich zum ersten Mal wirklich hart an. ‚Tempo halten!’ Jenseits hinab und bald links durch ein Gewerbegebiet. 32 Kilometer. Leider decken sich meine Empfindungen zu diesem Zeitpunkt mit jenen vor zwei Wochen in Güssing. Also werde ich vor den Toren von Carpi zu langsam sein, um dem Hammermann zu entkommen. Wird es wenigstens für eine Zeit unter 3:30 h reichen?

Das Gewerbegebiet gehört zu Soliera, dem letzten größeren Ort vorm Ziel. Auch diese Tatsache setzt Kräfte frei, wenngleich noch neun Kilometer vor mir liegen. Im Übrigen will ich diese Ansiedlung einfach nur schnell hinter mir lassen. Da ist sie wieder, die Sehnsucht nach dem Ende aller Pein. Oh herrliches Italien! Einen solchen Blickfang habe ich unterwegs wahrlich nicht mehr erwartet. Prächtige Alleebäume geben lange nur den Blick auf ein großes Tor frei auf das wir geradewegs zuhalten. Dann volle Sicht und andächtiges Staunen: Vor mir erheben sich die pittoresken, ockerfarbenen Ziegelmauern des „Castello Soliera“. Zwei Türme und Reste des einstigen Wassergrabens vervollständigen das Ensemble. Die Burg hat ihren wehrhaften Charakter durch Umbau zu Wohn- oder Repräsentationszwecken vollständig eingebüßt. Mit wenigen Schritten überbrücke ich den Vorplatz, dahinter den überbauten Wassergraben und gelange in den Burghof. Tolle Eindrücke! Und das Wichtigste: Wieder ein paar hundert Meter geschafft, ohne etwas von schmerzenden Beinen zu wissen.

Raus aus Soliera, Wiesen, Felder, dann wieder ein paar Häuser. Noch sieben Kilometer. Rechts ’rum und sogleich wieder gegen den Wind. Herrje! Was für eine Qual. Wenn ich jetzt einbreche ist die Zeit im Eimer. Also verstärke ich meine Anstrengungen. Dennoch fühlt es sich langsamer an. Um wie viel? Nicht entscheidend! Noch immer trabe ich mit etwa 5 min/km durch die Landschaft. Ab und zu überhole ich Läufer, mir selbst passiert das höchst selten. Schade, dass ich es zwar als Faktum im Gedächtnis wiederfinde, hier vor Ort jedoch mit keiner Faser bedenke, was es bedeutet. Ich überhole. Also brechen andere ein! Diese Erkenntnis hätte mich ganz sicher beflügelt. Die spätere Auswertung sieht mich bei 30 km noch auf Platz 367, im Ziel dann auf Rang 314. Auf den letzten Kilometern ließ ich demnach rund 50 Mitstreiter hinter mir ohne mental davon zu profitieren. Dumm gelaufen…

In Güssing begann der Anfang vom Ende meiner Läuferherrlichkeit etwa fünf Kilometer vor dem Ziel. Jetzt liegen noch vier Kilometer vor mir. Meine Beine, nein eigentlich alle Körperteile, tun so weh, dass ich mich am liebsten in den Straßengraben schmeißen und heulen möchte. Zwangsläufig die Sinnfrage: Warum in aller Welt laufe ich Marathon? Bitte, bitte lass es bald vorbei sein!! Kilometer 39. Noch drei. Wieso breche ich nicht ein? Dort unten, wo die Schritte entstehen, kreischt und zetert es wie in Güssing. Aber die Schwäche der Güssinger Schlussphase fehlt! Mein Erstaunen könnte größer nicht sein. 40 Kilometer um und zwei halte ich das noch aus. Ganz sicher.

Ich denke nur noch fragmentarisch und in Befehlen, die an mich selbst gerichtet sind: ‚Halt durch! Weiter! So weh. Egal. Noch acht Minuten leiden. Bald geschafft!’ Sind das die ersten Häuser von Carpi? Ich will nur noch ins Ziel. Straße um Straße arbeite ich ab. Kilometer 41. Wird Ines da sein? In der Ferne ist schon das Nordende der Piazza dei Martiri zu erahnen. Platz ist gleich Ziel!! Gestern beim Abholen der Startnummer empfand ich die Piazza als eine der bezauberndsten und prächtigsten, die ich je in Italien zu Gesicht bekam. Das ist jetzt so egal. Nicht egal ist der Streckenplan in meinem Kopf. Leider habe ich im Sinn erst irgendwie um das Zentrum herum und dann von hinten auf die Piazza laufen zu müssen. Aber es sind doch höchstens noch 500 Meter!?? Verwirrung, Sehnsucht nach dem Finish, wehe Beine, eine Flut brutaler Empfindungen spült wie eine Monsterwelle durch meinen Kopf. Und dann doch noch die Gnade, die glückliche Schlussfolgerung eines kaum noch logisch denkenden Gehirns: Die Strecke wurde geändert! Hinter der Ecke da vorne wartet das Ziel!

Oh wie schön ist Marathon! Und was für herrliche alte Gebäude. Beifall hinter den Absperrungen. Ist meiner! ‚Gib Gas! Nur noch ein paar Meter! Nicht mehr überholen lassen!’ Rechts schiebt sich die freundlich helle Fassade des Doms zu Carpi ins Blickfeld und davor die wichtigste Tafel der ganzen Welt. Darauf steht „42“. Ich wetze links um die Ecke des Festzeltes und dann liegt sie vor mir, die Piazza dei Martiri. „Platz der Märtyrer“! Irgendwie passend. Ziemlich grobes Kopfsteinpflaster lässt mich „eiern“, was hoffentlich niemand merkt. Ich lege alles in die letzten 200 Meter, werde schneller, fliege auf das Ziel zu. Verdammt! Hast du eine Ahnung wie weit 200 Meter sind? Zu gern würde ich den Kopf drehen und Ines suchen. Aber das geht nicht. Der sitzt fest, wie verriegelt. Das schönste Marathontor der Welt steht hier in Carpi und ich renne drauf zu. Farbrausch, alles verschwimmt: Blauer Himmel, rot und ocker die Gebäude, gelb das Tor. Rascher Blick zur Uhr. Jaaa! Mitten in eine wahre Hölle von Empfindungen drängt schon schon jetzt Befriedigung… Der Zielsprecher schreit voller Leidenschaft ins Mikro. Sicher spurten da noch andere, aber im Moment gehört er mir allein. Jubelnd reiße ich die Arme hoch und werfe mich ins Marathontor.

Mein Gott geschafft! Schnell die Uhr gestoppt, ein paar Sekunden zu spät. Das gibt’s doch nicht: 3:27:49 h zeigt sie und damit fast auf die Sekunde genau dieselbe Zeit wie vor zwei Wochen. Vornüber gebeugt stütze mich auf die Knie, atme schnell und schwer. Wie immer nach dem Endspurt. Das kann der Rotkreuz-Mann natürlich nicht wissen. Er redet auf mich ein. Das Wort „mano – Hand“ kommt in seinen Sätzen vor. Nein, nein, ich brauche keine helfende Hand und gebe das mit einem deutlichen „No, no! Grazie!“ zu verstehen. „Are you o.k.?“ „Si, si, grazie!“ Dann zeigt er mir noch, wo ich ein erstes „Acqua“ bekommen kann… Wo ist Ines? Langsam schweift mein Blick über die Absperrungen des Zielraums. Keine Ines, keine Roxi. Nach zwei, drei Minuten und aus Furcht vor Unterkühlung entscheide ich mich in Richtung Verpflegung und Ausgang zu gehen. Ich gehe und das nicht mal schmerzerfüllt mit nahezu runden Schritten. Und keinerlei Schwäche. Super! Ein paar Orangenstücke verleibe ich mir sofort ein, raffe mehrere Flaschen Wasser, Kekse, Karamelpudding und einen Apfel zusammen und wende mich zum Ausgang. Da steht SIE und strahlt heller als die Nachmittagssonne von Carpi. Ines! Der schönste Anblick des Tages: Ines (und schwanzwedelnd daneben Roxi). Meine Frau freut sich mehr über den Erfolg, als ich. Sich freuen kostet Kraft und die kehrt nur langsam zurück. Aber meine Befriedigung wächst mit jeder Minute…

Kein Gang nach Canossa!

Nicht pure Effekthascherei ließ mich das geflügelte Wort im Titel verwenden. Am Tag nach dem Marathon besuchten wir jenen geschichtsträchtigen Ort, hoch über der Poebene, am Nordrand des Appennin, Luftlinie nur gut 30 km westlich von Maranello gelegen. Anders als im Jahre 1076 der deutsche König Heinrich IV. vor Papst Gregor VII., musste ich auf meinem 63. Marathon nicht zu Kreuze kriechen. Die Freude ist wieder da und die Angst vor Verletzung einstweilen verscheucht. Dieses Geschenk bedeutet mir mehr, als die Medaille für einen unglaublich attraktiven Lauf und die Bestätigung guter Ausdauer zusammen. Natürlich sind zwei Wochen Urlaub, in denen ich zwar trainierte, mich aber auch in Sachen Ernährung gehen ließ, keine gute Vorbereitung. Dennoch halte ich es für müßig und sinnlos über eine anderenfalls noch bessere Zeit zu spekulieren. Es war nicht der Schluss- aber sicher er Höhepunkt meines Urlaubs.


Zeit: Brutto 3:28:15 h
(Obschon per Championchip ermittelt, war die Zeitmessfirma bisher nicht in der Lage eine Nettozeit anzugeben; Selbst gestoppt ~ 3:27:49 h)
Platzierung: Rang 304 von 880
Platzierung M55: Rang 10 von 57


Fazit zum Maratona d’Italia

„Tutto bene!“ Diese Veranstaltung hat in allen Details Klasse und Charme! Über die in vielen Abschnitten schöne, exklusive oder wenigstens interessante Strecke steht alles im Laufbericht. Sie ist flach und bei nicht zu warmem Wetter absolut bestzeitenfähig. Marathons in Italien haben mich noch nie enttäuscht. Das begann in diesem Fall mit dem Service bei der Anmeldung. E-Mail-Anfragen (in Englisch) bezüglich des Anmeldeverfahrens wurden samt und sonders „subito“ am selben, spätestens am nächsten Tag beantwortet. Und in der letzten, bereits klaren Antwort fehlte nicht der Hinweis „gerne und jederzeit für weitere Anfragen zur Verfügung zu stehen“.

Bekanntermaßen ist der Gegenwert für die Startgebühr in Italien um einiges höher als in Deutschland. Sicher liegt das nicht am Engagement der Beteiligten, schon eher am großzügigeren Sponsoring südlich der Alpen. In 35 Euro Stargeld war alles enthalten: Selbstverständlichkeiten ebenso, wie der Leihchip (kein Pfand) ein Markenfunktions-Shirt, Medaille, zwei Pasta-Gutscheine (einen vor, einen nach dem Lauf) und Massage. Es fehlte an absolut nichts und manches gab’s im Überfluss.

Die Bemühungen wirklich alle Belange der Läufer abzudecken erkennt man an einem für Allergiker nicht unwichtigen Detail. Sowohl bei den Pasta-Partys als auch auf der Strecke wurden nur glutenfreie Lebensmittel verwendet. Obwohl bereits online und in den Laufunterlagen erwähnt, wurde nochmals per Anschlag am Pasta-Zelt und vor den Verpflegungsständen darauf hingewiesen.

Die Zuschauer skandierten nicht ganz so enthusiastisch, wie ich das bei anderen Italien-Läufen erlebte, aber immer noch „überdurchschnittlich motivierend“. Sport hat im gesellschaftlichen Leben Italiens einen deutlich höheren Stellenwert. Das wird in vielen Situationen spürbar. Selbst als Ausländer, der die Sprache kaum versteht, wird man davon getragen. Ein Beispiel: Nach Duschen, Cappuccino und Leckereien wanderten wir zum Abschied noch einmal am Zielbereich vorbei. Da ging der Marathon schon in die sechste Stunde und nur noch vereinzelt tröpfelten Läufer und Läuferinnen ins Ziel. Derselbe Sprecher, der vor zwei Stunden schon mich und davor die wirklich Schnellen ins Ziel gepeitscht hatte, holte auch noch die Nachzügler ins Boot. Derselbe Mann, mit derselben nicht versiegenden Leidenschaft und mit einem Spaß, den man ihm am Gesicht ablesen konnte (siehe Bild). Gibt es dergleichen in Deutschland?

Wer es zeitlich und finanziell stemmen kann, sollte sich einen Marathon in Italien gönnen. Und warum dann nicht den Maratona d’Italia, wenn der Urlaubsort nicht weit entfernt liegt?







































*) Erläuterung siehe Laufbericht Güssing

































































































































































Darstellung der Strecke in Google Earth:
GPS-Aufzeichnung mit Klick auf die Karte runterladen. Dann Goggle Earth starten und Datei öffnen.








**) Tatsächlich ist „Balsamico“ eine Bezeichnung hinter der sich ein traditionelles Herstellungsverfahren für Essig aus Weintrauben verbirgt, das in der Region um Modena zu Hause ist.






















































































































































































































































































































 

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