Unbekannte Wege in Italien  -  Maratona del Custoza 2008

Wer weiß schon wo „Custoza“ liegt? - Ein winziges, im Grunde unbedeutendes Dorf ein paar Kilometer südöstlich des Gardasees und 20 Kilometer vor den Toren Veronas. Weinliebhaber kennen den Ort als Markenzeichen des Weißweines „Bianco del Custoza“, der rund um den Ort angebaut wird. Ein Großteil der Marathonkilometer berührt die zum Weinanbau genutzten Hügel nördlich von „Custoza“, wodurch sich die Namensgebung erklärt. Start und Ziel des „Maratona del Custoza“ findet man allerdings in der übergeordneten Kommune „Sommacampagna“.

Prag stand lange Zeit auf meinem Laufprogramm an Pfingsten, weil der Veranstalter mich letztes Jahr eingeladen hatte (Als Reaktion auf die harsche Kritik im Jahr 2006; man habe inzwischen einiges verändert, wovon ich mich selbst überzeugen könne …). Nachdem meine Zusage ohne Antwort blieb, suchte ich nach einer Alternative. „Auf den letzten Drücker“ und per Mail fragte ich beim OrgTeam in Italien an, unter welchen Bedingungen ein Start noch möglich sei. Ich kenne Italiener als grenzenlos flexible Menschen und fand meine Überzeugung auch in diesem Fall bestätigt. Man akzeptierte eine „vorsorgliche“ Anmeldung per Mail. Wenn ich tatsächlich anreisen sollte, könne ich die 20 Euro Startgebühr auch noch vor Ort bezahlen. Wenn nicht, dann solle ich mir keine weiteren Gedanken machen …

Bei 26°C treffen Ines und ich am Samstagnachmittag in „Sommacampagna“ ein. Auf dem Start-/Zielgelände der alten „Villa Venier“ laufen die Vorbereitungen unter Hochdruck. Ein bisschen Durchfragen, dann finden wir das Meldebüro. In „Nullkommanix“ halte ich meine Startnummer und den Champion Chip in Händen. Aha, der ist also schon mal im Preis enthalten und Pfand muss auch nicht hinterlegt werden! In der Tüte steckt noch ein Zettel, darauf nur ein Satz. Ines spricht ein bisschen Italienisch und ich noch weniger. Die Übersetzung bereitet uns zwar keine Probleme, dennoch trauen wir unseren Sprachkenntnissen nicht über den Weg. Denn da steht, man habe nach dem Lauf ein gemeinsames Essen vorgesehen, an dem nicht nur Läufer, sondern auch deren Angehörige bzw. Freunde (amici) kostenfrei teilnehmen können. Und das für 20 Euro?? Na ja, mal sehen wie sich das dann morgen darstellt …

Gegend und Klima malen in meinen Vorstellungen ein großes Fragezeichen. 42 Kilometer über leicht hügeliges Land, Mitte Mai in Norditalien, mehr weiß ich nicht. Meine Erwartungen an die Strecke sind minimal, denn zwischen „Sommacampagna“ und unserem Hotel in einem Nachbarort konnten unsere Augen keine erwähnenswerten Naturschönheiten ausmachen: Ländliche Gegend beidseits der sechsspurigen Autobahn A4, relativ flach, immerhin wunderbar grün. Die Vegetation im Norden von „Bella Italia“ hat gegenüber unserer etwa sechs Wochen Vorsprung. Das Klima schreckt mich nicht. Der Startschuss erfolgt schon um 8:30 Uhr und ich laufe gerne bei hohen Temperaturen. Zudem steht nach der „Dummheit von Windhagen“ mein „öffentlicher“ Schwur eine Zielzeit von 3:5x:xx nicht zu unterschreiten.

Lauftag: Ines hat’s gut! Als ich um 6:30 Uhr aufstehe, dreht sie sich um und schläft weiter. Sie wird nachher in Ruhe frühstücken und die fünf Kilometer bis zur „Villa Venier“ als Morgenspaziergang absolvieren. Erst zwei Stunden vor dem Startschuss aufstehen und das Frühstück gut eine Stunde vorher beenden ist nicht gerade leistungsfördernd. Allerdings wird mich das beabsichtigte Tempo anfänglich kaum fordern, weshalb ich mir das „Schlafplus“ einfach gönne.

‚Die haben das im Griff!’ ist mein erster Eindruck, als der endlose Strom von Autos am Ortseingang staufrei auf einen der provisorischen Parkplätze geleitet wird. Nur Minuten später stehe ich im Garten der „Villa Venier“ und versuche zweierlei: Atmosphäre genießen und wach werden. Die „Villa Venier“ aus dem 17. Jahrhundert umfasst mehrere nicht mehr zu Wohnzwecken genutzte Gebäude in einem wunderbar schattigen Garten. Am Tor der Einfahrt liegen jetzt die Matten der Zeitnahme und am anderen Ende, kurz vor dem Haus, spannt sich das Zielportal über den Weg. Ich „lustwandele“ ein wenig im Garten, mische mich unter das Gewimmel der schon Wachen, versuche Sinn und Auftrag diverser Stände zu enträtseln, schaue ein wenig bei der Ausgabe von Startnummern zu und trolle mich eine Viertelstunde vor dem Start auch mal in den hinteren, verschwiegenen Bereich des Gartens, der sich über einen Hang erstreckt …

Ich bin nicht der einzige Deutsche hier: „Schau mal, einer aus Augsburg!“ bemerkt eine Frau halblaut hinter meinem Rücken von dem sie die Vereinsbezeichnung las. Dann bin ich sicher auch nicht der einzige Deutsche, den das Wetter heute Morgen ein wenig enttäuscht: 17°C unter bedecktem Himmel, Windstille. Sicher sind das ideale Laufbedingungen, aber ich giere nach Sonne! Ein paar Sekunden nach diesem Wetter-Selbstmitleid durchfährt mich ein kleiner Schreck, gefolgt von vorsichtigem Aufatmen: Ich Heini hab das Sonnenschutzmittel im Hotel vergessen. Also hoffe ich inständig, dass mich die Wolken wenigstens während der nächsten zwei Stunden nicht im Stich lassen. Alle freien Hautpartien sind zwar von Madrid, Windhagen und den letzten heimischen Trainingsläufen einigermaßen gebräunt, mehr als eine Stunde italienische Maisonne traue ich mir aber nicht ungestraft zu …

Dieses Prozedere erklär mir mal einer!? Über dem Eingang zum Startbereich hängen vier Schilder, darauf stehen die Bereiche der Startnummern. Ich reihe mich mit meiner „316“ in die dritte Warteschlange, rücke langsam vor und dann notiert man meine Nummer in einer Liste - wozu auch immer … 8:23 Uhr: Sicher erst ein Drittel der Läufer hat die handschriftliche Registrierung über sich ergehen lassen, die Startzone füllt sich zögerlich. Für Paare gibt es eine Sonderwertung an der die Dame im bodenlangen Brautkleid und ihr Galan mit Zylinder und angedeutetem Frack bestimmt teilnehmen. Wie immer in solchen Fällen hab ich ein Schmunzeln für die Kostümparade und ein Aufatmen für mich, nicht in solcherlei Mummenschanz fast vier Stunden „entsaftet“ zu werden.

Eine mehrköpfige Läufergruppe der „Runners Bergamo“ steht ein paar Schritte vor mir. Wieso zieht ausgerechnet der kleine „Fausto“ mit dem kahl rasierten Schädel meine Blicke auf sich? - Er hat so was typisch Italienisches in Haltung, Aussehen und vor allem Gestik. Mit lebhaften, nimmermüden Händen und doch unaufgeregt plaudert er auf sein Gegenüber ein. Italiener müssen die Gebärdensprache für Taubstumme erfunden haben. „Unaufgeregtheit“ beherrscht im Übrigen die gesamte Szene. Liegt es vielleicht am späten Aufstehen, schläft mein Marathonvirus noch? Nehme ich deshalb nicht das übliche Lechzen der Meute wahr? Absolut kein Gedränge, keine Hektik, weder in den Warteschlangen beim Aufschreiben, noch hier im Pulk. Alles vollzieht sich gemessen und völlig unspektakulär.

8:28 Uhr: Vielleicht ein-, zweihundert Köpfe stehen inzwischen hinter mir, sicher etliche noch vor den vier Männern mit den Kladden. Was soll’s, der Chip, die Nettozeitmessung wird’s richten. Aber wieso das aufwändige Notieren, wenn doch der Transponder klipp und klar sagt, wer über die Startlinie rannte und wer nicht? Fehlt der Organisation Vertrauen in die Technik? Setzen die erstmalig den Champion Chip ein? - Ein lauter Knall beendet mein Grübeln. Ohne übliche Zutaten wie beschwörende Sprecherstimmen, einpeitschende Musik und spannungsgeladenes Runterzählen, geht’s einfach so los. Alle Faustos, Brunos, Francescos und ein paar Ausländer setzen sich in Bewegung. Die Eingangspforte zum Garten der Villa rückt schrittweise näher, dann bin ich durch und laufe, verabschiedet vom Dauerpfeifen der Zeitnahme und ein paar klatschenden Händen.

Gleich zu Anfang viel Platz auf den nicht übermäßig breiten Straßen des Städtchens „Sommacampagna“. Ganz bewusst denke ich an „langsames Laufen“, zwinge mich zu verhaltenem Schritt. Auf den ersten Kilometern bersten die Muskeln fast vor Kohlenhydraten, wollen immer schneller als sie sollen. Nicht eingelaufen fehlt es mir an Gespür sie zu exakt zu steuern. ‚3:50h!!! Heute nicht schneller als 3:50h! Lauf langsam!’ In Gedanken befehle ich es mir wieder und wieder. Auf die erste halbe Stunde kommt es an. Was ich nach vier, fünf Kilometern an Durchschnittstempo justiert hatte, hielt ich meist bis zum Finish durch. Eine Ausnahme bildeten nur solche Wettkämpfe, bei denen ich bewusst ein Wagnis einging und dann einbrach.

Der Kirchturm von „Sommacampagna“, auf einem Hügel thronend und malerisch von Zypressen flankiert, bleibt zurück. Nach ein paar Minuten verlassen wir den Ort entlang eines schmalen Kanals, der die Bewässerung von Obst- und Weinkulturen sichert. Derzeit (ganzjährig?) ist das Betonbett randvoll. An dieser Stelle regen sich noch keine Überlegungen, woher das viele Wasser kommen könnte. Immerhin haben wir erst Mitte Mai und die Ausläufer der Alpen sind auch nicht weit weg. - Kilometer eins und zwei bescheinigen mir - wie erwartet - ein etwas zu hohes Tempo. Also bremse ich mich noch ein bisschen. Kurz zum Fotografieren stehen bleiben kann da auch nicht schaden …

Sein Bewegungsmuster erinnert intensiv an die watschelnden Schritte eines Gehers. Und doch läuft er. Immer wieder betrachte ich den kraftvoll fließenden Laufstil des Mannes und bin dann sicher: Er ist oder war Geher. Der recht unnatürlich wirkende Rhythmus sportlich schnellen Gehens hat sich seinem Bewegungsapparat so nachhaltig aufgeprägt, dass davon unbeeinflusstes Laufen nicht mehr möglich scheint.

Sattes Grün von Obstbäumen und Wiesen schmeichelt beidseits der Route den Augen - das kann gerne so bleiben! Im sanften Auf und Ab des Geländes kann man häufig mehrere hundert Meter der Läuferschlange überblicken. Ein Bild, das mich zum Stehenbleiben und Fotografieren animiert. Von hinten rast ein Indianer heran! Bunter Federkopfschmuck und gelb-roter Laufdress scheinen noch nicht auffällig genug. Zusätzlich schiebt er einen Kinderwagen samt lebendigem Inhalt vor sich her. Warum rennt der so und wie lange will er das durchhalten? Vielleicht hat er Angst, dass seine komplett in Rosa gehüllte „Prinzessin“ nicht ewig so duldsam und ruhig dem Geschehen huldigt. Und vermutlich übergibt er sie irgendwo unterwegs an Mama. Nach wenigen Sekunden wird er Teil der Läufermenge vor mir.

Wer hier in der Nähe Urlaub macht, kann den Kurs ganzjährig und beinahe vollständig auch ohne Anleitung laufen. Weiße Pfeile und ein großes „M“ auf dem Asphalt markieren jeden Abzweig zweifelsfrei. Lediglich auf zwei, drei noch zu erwähnenden unbefestigten Abschnitten entstünden Fragen. - Ich bin von der Strecke wirklich angenehm überrascht! Einzelne bäuerliche Anwesen im satten Grün von Busch- und Baumgruppen, akkurat gepflegte Obstkulturen und sorgsam bestelltes Land. Immer wieder auch scheinbar nutzlos und nur für’s Auge gepflanzte Bäume, wie diese Pappelreihen beidseits eines Feldes. Ihre dicken, knorrigen Stämme verraten das wahre Alter, wenngleich der jährliche Rückschnitt ihnen nur eine mäßig hohe, buschige Krone erlaubt. Langsam schiebt sich der Rücken eines Hügels ins Blickfeld, seinerseits vollkommen von landwirtschaftlichen Kulturen bedeckt. Darüber erfasst mein halb erfreuter, halb sorgenvoller Blick erste blaue „Löcher“ in ansonsten dichter Bewölkung. Wird es bald aufreißen?

Kilometer Fünf beschert mir die erfreuliche Feststellung das Tempo inzwischen relativ genau zu treffen und eine erste Tränke. Ein zweiter Becher Wasser muss her, nachdem der erste nicht mehr als einen Fingerhut voll enthielt. Noch schwanke ich, welche Wassermenge heute angemessen sein könnte. Dass die Blase etwas drückt hat nichts zu sagen, das liegt am verspäteten Frühstück. Schon eher die kühle Luft, wenngleich sich bereits Schweißtropfen auf Stirn und Schläfen bilden. Die hohe Luftfeuchtigkeit dürfte dafür verantwortlich sein.

Zu meiner Freude halten wir jetzt genau auf die hübschen Hügel zu, die sich vor uns aufbauen und verlassen damit den Bereich der Felder und Obstkulturen. Ihre Stelle nehmen Rebstöcke ein, die in schnurgeraden Linien gepflanzt sind. Hüfthoch arrangierte Drähte zum Ranken und schwarze Bewässerungsschläuche am Wurzelansatz der Pflanzen machen auch einem Laien den Sinn dieser Reihenpflanzung klar. Hier wächst er dann wohl, der „Bianco di Custoza“, und einen Kilometer weiter passieren wir auch die zugehörige Kellerei „Cantina di Custoza“, bei der viele Winzer ihr Lesegut anliefern.

Schon vor der Kellerei beschleunigte minimale Steigung den Puls, an lang gezogenem Hang setzt sich das einstweilen fort. Absolut undramatisch, einfach zu laufen, wie es die Ausschreibung versprach. „Custoza“ steht auf der Ortstafel, das Zentrum des Weinbaus ist erreicht. Linker Hand öffnet sich ein beeindruckender Blick nach Süden, Richtung Poebene. Schon nach zwei, drei Kilometern laufen die Weinfelder im brettflachen Gelände aus, Einzelheiten verschwimmen im Morgendunst. Die Straße vor mir haben Läufer mit bunten Schwämmen dekoriert, mir schien die kühlende Abreibung verzichtbar. Eine alte Kirche, nicht übermäßig viele Häuser am Hang, eine Bar und Pfingstsonntagsruhe, mehr hat „Custoza“ nicht zu bieten. Übrigens auch keine Zuschauer. In dieser Hinsicht vorgreifend: Der „Maratona del Custoza“ ist ein echter Landschaftslauf ohne jede Zuschauerresonanz. Ich hab mitgezählt. Exakt zweimal klatschten Hände Beifall, erhoben sich Stimmen - übrigens weibliche - zu anfeuernden Rufen: „Bravo! Brava! Forza! Bravissimi ragazze!“

Relativ steil und durch einen tiefgrünen, kühlen Hain senkt sich die Straße in ein Tal, neun Kilometer gelaufen. An der hübschen Umgebung ändert sich wenig. Hügelig, Weinfelder, bisweilen eine Wiese oder auch mal ein kleines Wäldchen. Gerade säumen blühende Akazien den Weg, danach verlangt die bisher markanteste Steigung ein wenig mehr Beineinsatz - kein Problem nach nur zehn gelaufenen Kilometern. Das Ende der Steigung bringt die „Deviazione“, den Abzweig für die Halbmarathonis. Nur wenige nutzen die kurze Variante und ein, zwei von ihnen bleiben sogar stehen, um ihre Freunde mit anspornenden Worten auf den längeren Weg zu schicken. Erst später begreife ich, warum weit weniger Teilnehmer die HM-Strecke wählten. Sie laufen ohne Startnummer und Zeitmessung …

Weiter geht’s auf der „Strada del Vino Bianco di Custoza“, sagen jedenfalls wiederkehrende Hinweisschilder (Schon die zweite „Weinstraße“ auf der ich dieses Jahr unterwegs bin.) Ein schöner roter Farbfleck von blühendem Mohn am Straßenrand reizt zum nächsten Foto. Am Rand einer Kuppe fällt der Blick über eine weite Ebene, in der Ferne von einer größeren Ansiedlung begrenzt und einer alten Burganlage überragt. Ich kann nicht anders, bleibe wieder mal stehen und nehme mir vergleichsweise viel Zeit für zwei Aufnahmen.

Die Ebene ist schnell durchmessen, bietet aber Zeit das Bewässerungssystem zu studieren. Von besagtem Kanal zweigt eine dicke, entlang der Straße verlegte Rohrleitung ab. Aus betonierten oder gemauerten Kästen, darin vermutlich Schieber, entspringen Ableitungen in Richtung der Felder. Das Plätschern des Wassers begleitet meinen Lauf … - Zur kurzen Etappe durch den nächsten Ort, das Städtchen „Valeggio sul Mincio“, gibt’s wenig zu berichten. Zweimal stinkende Autostaus beim Überqueren von Hauptstraßen behalte ich als einzigen gesicherten Eindruck zurück.

Zum Glück schlagen wir bergab einen Haken in eine kleine am Hang liegende Parkanlage und in dieser geht’s steil hinunter. Am Fuß des Hanges betrete ich wieder die Straße und leite sofort einen „Alarmstart“ der Kamera ein. Was ist das? Gebäudereste? Überbleibsel eines römischen Viadukts oder der Pfeiler einer uralten Brücke? Jedenfalls rennen wir durch eine Art Portal, das sich über die Straße spannt und dabei erkenne ich in etwa zweihundert Meter Abstand eine zweite, ähnliche Ruine. Tatsächlich befinden wir uns AUF einer alten Brücke, der „Ponte Visconti“ aus dem 14. Jahrhundert, die ursprünglich als Staudamm geplant und von den beiden turmartigen, mit Durchgängen versehenen Wehranlagen aus verteidigt werden konnte. Das erste Portal habe ich hinter mir, dann fällt mein Blick über eine Brüstung und sofort obsiegt der Tourist über den Läufer. Spontan weckt eine miteinander verbackene, idyllisch von Bäumen eingerahmte Ansammlung alter Häuschen flussabwärts pures Entzücken. Ich lasse Marathon Marathon sein, schaue berauscht und fotografiere. Nun weiter, durch den zweiten Turm, dahinter zu meiner Freude in Richtung „Idyllischem“ abbiegend. Über ein undurchschaubares System zweier Kanäle geht es in die Gassen des kleinen Dorfes „Borghetto di Valeggio sul Mincio“. Ein Name, den ich zu diesem Zeitpunkt nirgendwo lesen kann. Wiewohl ich auch nicht wusste, dass wir das Flüsschen „Mincio“ sehen werden (Im Moment gehe ich jedenfalls noch davon aus, dass es sich um ein „Flüsschen“ handelt!).

Drei, vier Richtungsänderungen in den Gassen des alten Weilers, dann auf eine Holzbrücke und es haut mich glatt um! Nun bieten mir die pittoresken, ineinander verschachtelten Häuschen ihre Rückseite an. Und ganz offensichtlich ergießt sich ein Teil des Flusses unter ihnen durch vier tunnelartige Öffnungen. Über die Brücke, mitten hinein in die Vergangenheit. Altes Kirchlein, enge Gasse, rechts ein sich drehendes, eisernes Mühlrad, das ich aber gar nicht mitbekomme, weil mein Blick gleichzeitig von einer nach links abzweigenden, wahnsinnig hübschen Gasse eingefangen wird. ‚Hier müssen Ines und ich heute Nachmittag noch einmal hin!’ steht mein Entschluss sofort (Und bei dieser Gelegenheit entdecken wir außer dem ersten, noch vier weitere Mühlräder, verteilt auf mehrere Häuser, womit der Sinn der Häuseransammlung auch ohne Reiseführer klar wird.).

Ich hab nicht viel Sehenswertes von diesem Lauf erwartet und bin nun, nach 18 Km - He! Tatsächlich schon 18 Kilometer um? - platt wie eine Flunder. Allein für die letzten zwei Kilometer hätte sich die Anfahrt gelohnt! - Ein von Pinien gesäumtes Sträßchen bringt uns weg vom „Entzücken“, Richtung Höhenzug, von dem wir vor wenigen Minuten herunter kamen. Davor links und über die ersten nicht asphaltierten Meter eines Spazierweges unterqueren wir die Straße zur alten Brücke, vollenden damit eine kleine Schleife. Dahinter empfängt mich … Grün. Hohe, dicht gewachsene Büsche säumen den Pfad, der sich bald als asphaltierter Radweg zu erkennen gibt. Wir bleiben im Schatten, haben aber immer öfter Gelegenheit in jene Richtung zu blicken, wo der Fluss liegen muss. Und schließlich blinkt er zwischen üppig bewachsenen Ufern herüber. Mit dem Gedanken ‚Der scheint gar nicht mal so schmal zu sein!’ stufe ich den Fluss eine Größenordnung rauf.

Ein Schlenker des Radweges bringt uns dann direkt ans Ufer und mir bleibt wieder einmal sprichwörtlich der Mund offen stehen. Ich hätte ja viel erwartet, aber keinen so breiten und stark Wasser führenden Fluss in dieser Gegend! Dazu die - wirklich nicht übertrieben - grüne Orgie um mich her. Halbmeterhohes Gras, Bäume, Hecken voll im Saft - das strotzt alles vor Leben. Blühender Mohn setzt einige Meter noch eins drauf - einfach sensationell schön. Was für eine Laufstrecke!

Der Fluss hält mich in seinem Bann. Kilometerweit traben wir am Ufer entlang und ein Ende des herrlichen Weges scheint nicht in Sicht. Dann zeigt sich in der Ferne ein Ort, überragt von einer Wehranlage, kommt näher, versteckt sich hinter stattlichem Bewuchs, ist erreicht und bedeutet doch nicht den Abschluss des Joggens am Fluss. Eine Fabrikanlage mit Schornstein setzt am anderen Ufer einen unschönen, zivilisatorischen Akzent. Derweil frage ich mich endlich woher diese Wassermengen wohl kommen mögen und finde recht schnell die einleuchtende Erklärung: ‚Es muss sich um den Abfluss des Gardasees handeln!’ Zu diesem Zeitpunkt weiß ich dem Gewässer mangels gut entzifferbarer Streckenkarte nicht einmal einen Namen zu geben. Der „Mincio“ entspringt aus dem „Gardasee“ und vereinigt sich gar nicht mal so viele Kilometer weiter mit dem weit mächtigeren „Po“.

Der Asphalt des Uferweges wird schlechter, löchriger, zerrissener. Bald ziehen alle vor auf dem sandigen Randstreifen zu laufen. Es schneit! Eine Pappelreihe macht sich den Wind zum Verbündeten und schickt massenweise dicke Flocken aus aufgeplatzten Fruchtständen auf die Reise. Das feine Gespinst klebt mir nach kurzer Zeit am Mund, kitzelt an der Halspartie und will auch aus den Augen gewischt werden. Ganz schön lästig, zumal man unwillkürlich den Eindruck hat die Watte auch noch einzuatmen. - Eine schon lange vorher beobachtete, lange Reihe am Flussufer parkender Autos ist jetzt erreicht. Davor, am Fluss, Angler! Hunderte! Und jeder hält gleich mehrere, unglaublich lange Stöcke übers ufernahe Wasser. Da gibt’s sogar „geschützartige“ Lafetten, auf denen man drei solcher Ruten parallel, dicht nebeneinander montieren kann. Wie wenn ein Jäger eine ganze Breitseite auf seinen Hirsch abfeuern würde. Veranstalten die hier ein Wettangeln? Alle paar Meter ein Angelstock, oder zwei oder noch mehr. Kommen die sich nicht ins Gehege? Von wenigen, eigenen, spätpubertären Versuchen weiß ich, dass der Umgang mit Rute und Angelschnur gar nicht mal so einfach ist …

Kilometer 27: Nach wunderbaren neun Flusskilometern sehe ich zwar kein Ende der Phalanx aus Autos und Anglern, dafür aber einen Abzweig der uns Richtung Ziel bringen wird. Zu diesem Zeitpunkt sind wir keine fünf Kilometer mehr vom Südufer des Gardasees entfernt, was mir allerdings erst am Nachmittag beim Ausflug mit Ines klar werden wird. Über eine extra für uns gemähte Schneise in hüfthohem Gras und eine Böschung erreichen wir die Straße und queren durch eine von Polizei frei gehaltene „Furt“ zwischen teilweise ungeduldig hupenden Autofahren. Ich finde mich an einer ersten Steigung wieder und erwarte ähnlich viele Prozente wie vorhin bei der Schussfahrt runter zum Fluss. Einige, offensichtlich schon ausgelaugte Läufer ziehen es zwar vor zu gehen, doch dafür sehe ich keinen Grund. Nach zweihundert Metern ist der erste nicht allzu heftige Anstieg Geschichte. Und dieser kurze Übergang genügte, um uns von der Fluss- zurück in die Agrarlandschaft zu versetzen. Ab jetzt dominieren wieder Rebstöcke …

Übrigens hielt ich die nötige Pace von ca. 5:30 min/km auf all diesen Kilometern konsequent. Wie schon nach fünf Kilometern liege ich etwa eine Minute unter einer Zielzeit von 3:50h, aber ein paar Anstiege kommen ja noch. Ach ja, das wollte ich auch noch loswerden: Obwohl deutlich langsamer unterwegs, kneift’s im „Gebein“ wie bei höherem Tempo. Wieso? Ganz einfach: Ein Marathon ist ein Marathon, egal ob du dafür zwei oder vier Stunden oder noch länger brauchst!

Zwei Ortschaften hab ich gerade „abgearbeitet“ und trabe ein weiteres Mal aufwärts. Wieder schien es, als wüsste keiner der Bewohner, dass sich heute Marathonläufer auf den Straßen vorwärts kämpfen. Ca. 1,5 Zuschauer entpuppten sich als rein zufällig anwesende Passanten. Also keine Änderung des Zuschauerzuspruchs, dafür aber des Wetters. Vor ein paar Minuten riss der Himmel endlich auf, verspricht auf den letzten 12 Kilometern mehr Schweißentwicklung. Die leichte Steigung erreicht eine Kuppe und geht verzugslos in ebenso sachtes Gefälle über. Nach wie vor begeistert mich diese Hügellandschaft, freue ich mich über ausgedehnte Weinfelder oder anderes Grün. Das wird einfach nicht langweilig. Gerade ziehen wieder ein paar blühende Akazienbäume vorüber. Bilde ich mir das ein oder verströmen die Blüten tatsächlich einen leicht süßlichen Duft? Egal was nun noch kommt, diese Marathonstrecke lohnt jede Mühe. Automatisch stelle ich einen Vergleich mit dem „Marathon Deutsche Weinstraße“ an. Um nicht ungerecht zu sein, gebe ich dem einen Bonus für das … äh … „bescheidene“ Aprilwetter unlängst. Dafür kann niemand was. Unter dem Strich empfinde ich die Route durch die Hügel um „Custoza“ und das Tal des „Mincio“ dennoch als deutlich reizvoller - wenn solche Vergleiche überhaupt sinnvoll und zulässig sind …

Anstieg Nummer Drei seit dem Fluss: Oh, oh, da haben einige ihr Limit schon erreicht! Sie passieren die Kilometertafel 34 gehend, mit gesenktem Kopf. Auf den hundert steileren Metern kämpfe ich auch, keine Frage, aber nicht grenzwertig. Der Puls steigt, Wasser schießt aus allen Poren, dann bin ich oben. Vorbei an einem Kontrahenten, der sich mit dargebotenem Wasserschlauch Linderung verschafft. Den Magen voller Wasser und pudelnass reiht er sich wieder ein.

Dort vorne holt man uns von der Hauptstraße! Ab auf einen staubig steinigen Feldweg, rechts von Rebstöcken und links von hohen Pappeln gesäumt. Die Pappeln spenden Schatten, inzwischen durchaus willkommen. Weit voraus erspähe ich jene steinerne Säule (oder Denkmal?) auf dem Hügel über „Custoza“, die zu Anfang eine Weile den Weg zu weisen schien. Also rückt das Ziel näher! In der Schlussphase sind es solche Wahrnehmungen, die einem das Durchhalten erleichtern. Jetzt links abbiegen, auf einen alten Gutshof (?) zu, in dem jetzt ein Golfclub zu residieren scheint. Vorhin konnte ich hinter den Pappeln charakteristisch kurz geschnittene Wiesen ausmachen. Und jetzt? Tatsächlich da durch? Zum Glück verschwinden gerade ein paar Vorausläufer im großen Eingangstor der Anlage, so kommen Zweifel gar nicht erst auf. Dann bin ich durch und blitzartig weiten sich meine Augen. Wahnsinn! Ich laufe durch einen weiten, rechteckigen Innenhof, umstanden von wunderbar restaurierten Gebäuden. Vor der Front des Herrenhauses kann ich nicht anders, bleibe stehen und schieße ein paar Fotos.

Dem Eingangsportal liegt ein ebensolches gegenüber, durch das ich das Anwesen wieder verlasse. Unter schattigen Bäumen gibt’s zwei Becher Wasser und dann weiter durch eine Allee aus gigantisch hohen, sicher steinalten Pappeln. Weit voraus die winzigen Läufergestalten, darüber die hohe „Pappelschlucht“ - was für ein Bild. Selbstverständlich fange ich das laufend ein. Den perspektivisch denkenden Fotografen stellt das Ergebnis allerdings nicht zufrieden: ‚Auf dem Bild wird man die Männlein kaum erkennen. Und wenn du das Bild dann auch noch auf Internet-verwertbare Größe schrumpfst, sind sie verschwunden!’ Udo bremst, stellt sich an den Wegrand und wartet. Blöderweise dauert es bald eine halbe Minute, bis eine Verfolgergruppe heran, vorbei und auf Schussweite entfernt ist. ‚Egal, ich hab’ doch eh noch eine Minute gut!’ Und weiter. Auf der Allee verbleibend überqueren wir eine abgesperrte Kreuzung. Der von den Pappeln gewährte Sonnenschutz bleibt erhalten, das Knirschen unter den Füßen weicht dagegen wieder dem „Tapp, tapp!“ auf asphaltiertem Grund. 37 Kilometer gepackt.

Leicht bergauf und - muss das wirklich noch Mal sein? - wieder nach rechts in einen holprigen Feldweg. Grobe Steine, geradezu eine Marter für meine jetzt barbarisch schmerzenden Füße. Einerlei, denn ich begreife rasch, welcher Teufel den Streckenplaner ritt, uns kurz vor dem Ziel noch diesen Weg zuzumuten. Malerisch duckt sich ein alter Bauerhof zwischen Weinfeldern, den wir im Zickzack und bergwärts passieren. Unablässig speichert meine DigiCam neue Bilder. Ein paar schnellere Schritte, vorbei an kraftlosen „Gehern“, bringen mich dicht hinter mein „Fotomodell“. Der Mann in roter Hose und auffälligem, blau-weiß-rotem Trägershirt kommt mir als Kontrast vor grünen Reben gerade recht. Der hält durch, greift mit seinen überaus muskulösen Waden noch energiegeladen aus! Kilometer 38 gehört jetzt uns, was ich unbedingt im Stehen festhalten muss. Kurzer Zwischenspurt und schon bin ich wieder auf Schussentfernung hinter ihm. Als wären’s Slalomstangen umkurven wir müde Krieger, folgen dem sich durch sorgsam bearbeitete Weinfelder schlängelnden Weg. Unfähig mich für eine von zig berauschenden Ansichten zu entscheiden, schieße ich Bild um Bild. Boaahh! Jetzt auch noch diese Ansicht: Zwischen zwei von Reben bestandenen Hügelkuppen eine Senke. Ein großes Kornfeld scheint nach Süden abzufließen und nur ein hoher Baum, mittendrin, wehrt der grünen Flut der Ähren. Zu allem Überfluss erhebt sich darüber ein pittoresker, alter Bauernhof, flankiert von schlanken Zypressen - ein geradezu toskanisch anmutendes Bild!

Zurück auf der Straße, Kilometertafel 39 fliegt vorbei und der Ortseingang von „Sommacampagna“ kommt in Sicht. Den Fleckenteppich der Dächer überragt - weithin sichtbar, wenngleich noch ein gut’ Stück entfernt - der hübsche Kirchturm, den Ines und ich gestern umrundeten. Wie von der Streckenkarte versprochen senkt sich der Weg dem Ziel entgegen. Ich kalkuliere meine Ankunftszeit und erwarte 3:51:xx. Die diversen „Fotosessions“ haben doch einiges an Zeit gekostet. Kilometer 40 und 41 sehen mich schon freudestrahlend - sicher nicht äußerlich, aber aus „vollem Läuferherzen“. Alle Knochen von der Hüfte abwärts tun weh, unbeschadet der vorsichtigen Zielzeit. Aber ihr wisst ja: Ein Marathon ist ein Marathon … Noch 500 Meter. Auf der Straße kauert ein Mann, richtet sein Objektiv nacheinander auf zwei Läufer vor mir, schließlich auf mich. Eine letzte Kurve, dann sehe ich das Ziel im Garten der „Villa Venier“. Und endlich auch Beifall, von den Händen jener, die auf die Ankunft ihrer Helden noch warten. Links erkenne ich Ines, winke ihr zu, bin vorbei und genieße mein Finish Nummer 47.

Ich bin im Ziel, hab eine Medaille um meinen Hals, der Streckenrausch klingt ab, doch die schönen Überraschungen setzen sich fort. Beim Abgeben des Chips erhält jeder Läufer einen Sechser-Karton „Bianco di Custoza“ und eine Tüte, in der wir neben dem Finisher Shirt zu unserer Überraschung Käse und halbmeterlange Bandnudeln finden … Nach diesem „Mini-Weihnachten“ folgen wir der Einladung und essen erst einmal ausgiebig: Brot, Pasta und Fleisch, dazu ein Getränk und wer möchte sicher auch noch mehr … Ganz recht: Die Angehörigen und Freunde der Läufer nehmen ebenfalls kostenlos an diesem Festmahl teil. Und das alles für sage und schreibe 20 Euro. Sicher geht das nur unter potenter Mithilfe von Sponsoren. Überaus sympathische Sponsoren, denn weder in der Tüte noch sonst wie aufdringlich finden sich Werbehinweise. Wann es sich realiseiren lässt, weiß ich nicht, aber der „Maratona del Custoza“ bleibt für immer auf meiner Wunschliste …


Hinweis: Lauf findet nicht mehr statt!


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