42 x 42,195 oder weiter -
Marathon Deutsche Weinstraße 2008

Jener legendäre Bote auf dem Weg von Marathon nach Athen hätte ein Orakel im antiken Griechenland bemühen können. Den vier Läufern vor dem Festzelt in Bockenheim, 2.500 Jahre später, fehlt solch göttliche Offenbarung. Wie wird das Wetter, was ziehen wir an? Eine Dreiviertelstunde vor dem Ereignis scheint die Sonne. Aber diesem „Frieden traue ich nicht“ und werfe diesen Gedanken in die Runde. Vor Stundenfrist steuerte ich mein Auto durch dichtes Schneetreiben im Nordschwarzwald. Und Richtung Westen, über den Höhen des Pfälzer Waldes, stehen gewaltige Wolkentürme. Ich hoffe auf ein paar Stunden Trockenheit, will mich dennoch gegen Kälte und Nässe wappnen. Handschlag und gute Wünsche für die Laufkameraden aus dem Forum, man trennt sich. Ab zum Auto, Startnummer montieren, langes Unterhemd anziehen, Laufshirt drüber - auch langärmlig, sicher ist sicher - Handschuhe an, Mütze auf. Immerhin wage ich den Auftritt in Lauftight „kurz“. Darin läuft es sich einfach freier, lockerer. Und an den Beinen fror ich ohnehin noch nie.

Raum-Zeit-Bestimmung: Viertel vor Zehn, zwanzig Meter hinter der Startlinie, mitten auf der „Deutschen Weinstraße“. Hinter mir schlägt der massive Betonbau des „Hauses der Deutschen Weinstraße“ eine Art Brücke über die Ortsdurchfahrt. Originell und repräsentativ soll das wohl wirken. Originell ja, repräsentativ vielleicht, aber klotzig plump ganz bestimmt. Keine Spur von Leichtigkeit oder Eleganz, woran auch die teilweise Holzverkleidung nichts ändert. Wer baut so was?

Merkwürdig: Allen Teilnehmern ist bewusst, dass es hier keine Nettozeitnahme gibt. Und doch drängt man sich weiter hinten im Feld auf engstem Raum und hier vorne gibt’s noch reichlich Platz. Ohne Transponder bzw.Chip? Das hatte ich bei einer Veranstaltung dieser Größenordnung (über 3.000 Läufer) auch noch nie; bin gespannt auf die Drängelei nach dem Start!

Zehn vor Zehn. Die Stimme des Moderators - irgendwie klingen die alle gleich routiniert und haben dieselbe Tonlage - appelliert an einige Offizielle und Würdenträger, sich doch nun endlich am Start einzufinden. Nachgerade unmöglich, dass wir uns auf den langen Weg von „Marathon nach Athen“ begeben, ohne vorher die „Weihen“ von einem lokalen Spitzenpolitiker empfangen zu haben. Wer spricht da noch gleich? Landrat? Bürgermeister? Jedenfalls schmeichelt er ein wenig der guten Organisation und unterstreicht die Bedeutung des Laufes für die Sportszene der Gegend. ‚Ach so!? Winzer, Gaststätten, Beherbergungsbetriebe und sonstige Gewerbetreibende werden sicher auch nicht böse sein, am Marathonwochenende ein sattes Umsatzplus einzufahren’ denke ich mir. Sicher geht es nicht ohne Sportenthusiasten, um so eine Veranstaltung alljährlich auf die Beine zu stellen. Dennoch sei die Frage erlaubt, ob die Überlebensfähigkeit mancher Marathonläufe nicht unmittelbar von deren Rolle als „Werbeträger“ abhängt. Die meisten kommen, laufen und verschwinden wieder. Aber ein paar bleiben immer am „Leim der Sponsoren kleben“, was aus meiner Sicht auch völlig in Ordnung ist.

Der Aufmarsch örtlicher Berühmtheiten geht weiter, nun spricht „blaues Blut“ ins Mikro. Man huldigt der „Weinprinzessin“ und nach ihr der „Weingräfin“. Und als würde das tatsächlich einen der 3.000 angespannt mit den Füßen Scharrenden interessieren, geben die beiden Aufschluss über Inhalte ihrer Regentschaft. Ja genau! Auch das muss ich unbedingt noch vier Minuten vor dem Start wissen: „Worin besteht eigentlich der Unterschied zwischen „Weingräfin“ und „Weinprinzessin“? Hierarchieebenen stecken dahinter, wie im richtigen Leben. „Prinzessin“ steht für die ganze Region und damit über der „Gräfin“, die nur lokal auftritt. Super! Jetzt brauche ich nicht dumm sterben, was für ein Glück!

Der Blick nach Westen, gegen die Bockenheimer Weinberge, hinterlässt eine Sorgenfalte auf Läufers Stirn. Fast gewinnt man den Eindruck, die Wolkentürme stürzten in sich zusammen und sämtliche Fragmente des „Desasters“ polterten nun auf die Weinstraße herab. Die Sonne tut sich jedenfalls schon mächtig schwer, die Vorstartszenerie mit ein paar Strahlen zu erhellen.

Drei vor zehn. Nun hätte ich fast meine Dehnübung vergessen! Eilig bücke ich mich, führe die Hände zu den Fußspitzen und schließe dabei automatisch die Augen. Eine selbst für häufige Wettkämpfer befremdliche Perspektive lässt mich schmunzeln, als ich dann doch mal blinzele: Asphalt, dran hängend Laufschuhe, darin Läuferfüße in Laufstrümpfen, nach unten verlängert durch Schien- und Wadenbeine. Ja, nach unten, denn alles steht Kopf. Und wieder hoch und eine halbe Minute lockern. Mit Fotografierabsicht beuge ich mich zur Wiederholung und banne den kuriosen Einblick in die Lauf(unter-)welt in digitalen Kameraspeicher. Auch beim dritten Versuch hat die unangenehme Spannung auf der Rückseite des rechten Beines nicht vollständig nachgelassen. Also werd’ ich heute wieder mit der dämlichen Nervenreizung zu schaffen haben. Die Trainingswoche verlief in dieser Hinsicht mit Licht und Schatten. Nach verflogener Euphorie eines fast beschwerdefreien Cuxhaven Marathon war mir recht bald klar, dass der Nerv noch lange nicht aufgegeben hat. Mal zwickte es mehr, mal weniger, eher unabhängig von der Dauer des Trainings. Und höheres Tempo traue ich mich derzeit ohnehin nicht zu laufen. Also „schau’n mer ’mal“.

Bin soweit, der Sprecher auch: „Noch fünfzehn Sekunden und ich werde die letzten fünf mitzählen!“. Ah! Ein „Sparmarathon“! Man spart sich nicht nur die Nettozeitmessung mit Chip, sondern auch die Zahlen von 10 bis 6 beim Countdown. Aber wenigstens knallt es vehement, als der Starter den Abzug der Startpistole betätigt. Ich überlasse mich dem „Sog der Masse“, der zieht mich nach Sekunden über die Startlinie und sofort passe ich mein Tempo dem dicht gestaffelten Feld an. In der engen Ortsdurchfahrt von Bockenheim möchte ich keine Konflikte provozieren. So kooperativ und fair verhält sich manch anderer nicht: Frech oder gedankenlos einen der vorderen Startplätze einnehmen und dann „Fels in der Brandung“ spielen. Sollen halt sehen wie sie vorbei kommen! Vielfach „umfließt“ die zügig trabende „Flut“ derlei „Hindernisse“. Jedes Mal ein nicht ungefährlicher Akt, weil man dabei seitlich ausweichen und zwangsläufig dem Hintermann vor die Füße latschen muss. Nettozeitmessung hilft dieser Unsitte auch nicht völlig ab, reduziert aber die Versuchung sich zu weit vorne einzureihen.

Ich fühle mich ein bisschen schlapp. Fünf Stunden Schlaf, mehr schlecht als recht, waren zu wenig. Kurz nach halb sechs saß ich im Auto, um rechtzeitig hier zu sein. Kein richtiges Frühstück, nicht mal einen Kaffee. Der Geist ist schon willig, aber das Fleisch braucht eine verlängerte Einlaufphase. Am Ortsausgang von Bockenheim „weckt“ mich dann der erste, an sich völlig harmlose Anstieg. Wärme wallt unter den Klamotten auf, presst fühlbar Wasser aus allen Poren: ‚Hab ich mich vielleicht doch zu warm eingepackt?’ Einstweilen drückt die Sonne noch etwas durch die Wolken, wird aber von Minute zu Minute schwächer. Für Zuschauer am Straßenrand ist die Bekleidungsfrage bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt klar beantwortet. Das gilt auch für den „rastlosen Kuhglockenmann“, dessen Glockenmonstrum mit weithin hörbarem Radau einen Hauch von Allgäu über die mit Reben bepflanzten Hügel legt.

Ich kenne diese Ecke Deutschlands überhaupt nicht, bin also gespannt auf Landschaften und Begebenheiten an der Strecke. Mehr Reiz kann ein Marathon nicht bieten: Nicht zu wissen, was auf einen zu kommt und wie der eigene Körper auf die Herausforderung reagieren wird. Laufend wartet hinter jeder Kuppe, jeder Biegung Neuland und je nach Belastungszustand empfindet man es anders. - Rebstöcke beidseits der Straße habe ich erwartet, die vielen rosa und weiß blühenden Bäume dagegen nicht. Hier hat der Frühling Einzug gehalten, auch wenn es sich bei 4°C nicht so anfühlt. Frage an die Botaniker: Können Bäume frieren?

In voller Breite wälzt sich die Läuferschar über die gesperrte Bundesstraße 271, vorbei die anfängliche Enge. Voraus kommt eine Fußgängerbrücke in Sicht, von der uns lebhafter Beifall entgegen schlägt. Manche grüßen gut gelaunt zurück. Zu solchen Gesten bin ich auch fähig, wenn sich der Wettkampf gut entwickelt und ich nicht gerade so schlafmützig einher renne wie heute. Hinter der Brücke zweigen wir von der „271“ Richtung „Asselheim“ ab. Ein paar Höhenmeter sind noch zu erkämpfen, um dann auf rasanter Talfahrt zu beschleunigen. Wesentlich für Wohl und Wehe des Langstrecklers ist der wirtschaftliche Umgang mit seinen Energievorräten. Ökonomisches Laufen verlangt eine möglichst gleichmäßige Belastung über die gesamte Distanz. Danach richtet sich meine Lauftaktik auf Strecken mit merklichem Höhenprofil. Aufwärts Tempo raus nehmen, den Puls nach Möglichkeit unten halten und es abwärts „rollen“ lassen, verlorenen Boden gut machen. So auch jetzt: Mit verlängertem Schritt, flott ausgreifend, lasse ich Läufer um Läuferin hinter mir. Bereits auf halber Höhe sieht man „Asselheim“ vor sich, in dessen Straßen sich der Gegenhang bereits abzeichnet. Ein, zwei weitere Minuten, dann liegt die Talsohle hinter mir und die Szene wandelt sich. In sanftem Anstieg gegen den Ortseingang schone ich meine Energiedepots und die zuletzt Überholten gehen wieder in Führung. Malerisch duckt sich ein altes, aus beigefarbenen Steinen erbautes Kirchlein hinter Weinstöcken an den Hang. Das dunkelgraue, spitzkegelige Kirchturmdach reckt sich keck zwischen blühenden und mit frühem Grün geschmückten Bäumen.

Schöne Ansichten verlieren an Bedeutung, wenn dich minutenlange Anstiege fordern. Erst hinter „Asselheim“ flacht das Gelände ab und ehe die Augen genug „Landschaft“ gesehen, nimmt uns die nächste Ansiedlung auf. „Grünstadt“ steht auf gelbem Schild. „Stadt“ kann in unseren Tagen nur sein, wer diesen Status mit einer Fußgängerzone rechtfertigt. Und die dürfen wir jetzt in voller Ausdehnung besichtigen. Mir fällt sofort die ungewöhnliche Pflasterung auf: Sie besteht aus roten, in schrägen Wechselmustern verlegten Steinen (oder sind das Ziegel?). Unter den Sohlen der Laufschuhe fühlt sich das, nach Kilometern gleichmäßigen Asphalts, irgendwie seltsam an und eine Spur von Unsicherheit begleitet meine Bewegungen. Ein, zwei Minuten dauert das Intermezzo in der Shopping-Meile, dann normalisiert sich meine „Bodenhaftung“ auf „Grünstädter“ Wohnstraßen. Sechs Kilometer geschafft und mein Tempo liegt knapp über 5 min/km. Inzwischen ist auch der elende Störenfried in der Hinterbacke wieder aktiv. Okay, nicht zu ändern, also hinnehmen und auf anderes konzentrieren.

Voraus scheint die Welt mit „Brettern vernagelt“. Braune Schallschutzwände der Autobahn A6, begrenzen den Blick, aber nicht den Marathon, der setzt sich per Unterführung fort. Hallende Akustik im kurzen Tunnel nutzen einzelne, um ihrer Freude mit Jauchzern Ausdruck zu verleihen. Wenn die „Jauchzerrate“ in Unterführungen einen Maßstab für die Lebenslust eines Volkes begründet, dann haben uns Italiener viel voraus. In Rom oder Florenz wirft das Trommelfell Falten vom Jubelgeschrei im Halbdunkel. Apropos Halbdunkel: Der Himmel bewölkt sich zusehends, verheißt nichts Gutes. Lediglich im Osten, wo die Hügel zur Rheinebene und der Doppelmetropole Ludwigshafen-Mannheim hin flach auslaufen, hält sich ein heller Streifen. Über uns und verstärkt in Richtung „Pfälzer Wald“ dominiert Grau bis Schwarz. So bleiben die Farben blass, als sich der bunte Läufertross durch weitläufige Rebfluren arbeitet. Betonierte Feldwege durchziehen das überwiegend ebene Gelände, das bei Kaiserwetter sicher anziehender wirkt.

Dieser Abschnitt endet abrupt und nach zweihundert Metern Schussfahrt vor dem nächsten Dorf. „Gleich wird es ruhiger!“ informiert eine Plaudertasche hinter mir ihren Nebenmann. „Plaudertasche“, weil ich ihn schon einige Zeit referieren höre. Und Ruhe soll die Marathonweiche bringen, die eine Tafel hundert Meter vorher ankündigt. Absperrband und Pylone zerteilen die Flut. Ein Halbmarathoni „rettet“ sich mit elegantem Sprung auf die andere Seite des Bandes. Grad noch zur rechten Zeit, bevor ihn die hektisch hin und her zuckenden Augen eines Ordners erwischen. Der selektiert nach Startnummerfarbe und hilft Unaufmerksamen mit lauter Stimme auf die Sprünge … „Halbmarathon nach links, Marathon nach rechts!“ - Wirklich ruhig wurde es nicht, weil das starke Marathonfeld nach neun Kilometern weiterhin dicht gestaffelt läuft. Den Halbmarathonis entgeht eine seltene Darbietung: Ein freundlich lächelnder Leierkastenmann entlockt seiner Drehorgel unter gleichmäßigem Kurbeln eine allseits bekannte Melodie. Fünf, sechs Takte, nehme ich mit und schon wird die Begegnung zur Episode - aus den Augen, (fast) aus dem Sinn.

Was ist das? Ich kenne nur Weichen die Läufer trennen. Dort vorne werden sie vereint. Von links mündet der Halbmarathon ein und für ein paar Minuten suchen wir den Weg wieder gemeinsam, bis eine weitere Tafel die endgültige Trennung der Routen anzeigt. Diesmal schickt sie mich nach links. Nach links und auf ansehnliche Steigung. Zwei Gänge runter, dann geht’s mit wenig Mühe. Trotzdem legt der Pulsmesser ein paar Schläge zu. Steigung und Puls werden Nebensache, als ein erster Graupelschauer einsetzt. Nun gratuliere ich mir zu Mütze und Handschuhen. Umso mehr, als ein eisiger Seitenwind die gefühlte Temperatur weiter senkt. Unter solchen Bedingungen - Anstrengung und schlechtes Wetter - sinkt mein Kopf automatisch gegen die Brust. Wahrnehmung auf den Asphalt ein paar Meter vor mir eingeschränkt; die Gegend ist mir nun „Wurscht“. Mit gelegentlicher „Vorwärtspeilung“ halte ich Kurs, trabe beharrlich vor mich hin.

Irgendwann endet der erste Schauer, ihm folgen andere. Keine Ahnung wie viele, jedenfalls kommt einstweilen keine rechte Freude mehr auf. Rechts überholen mich zwei, von denen einer auf den anderen einredet. Keinen Schimmer worum es geht, hab mich mental ein bisschen in mein Schneckenhaus verkrochen. Doch dann fällt ein Satz, der mich augenblicklich den Kopf heben lässt: „Letztes Wochenende bin ich in Cuxhaven gelaufen!“ Eigentlich will ich den Menschen, der vor Wochenfrist gleich mir seine Runden im hohen Norden drehte, nur mal ansehen. Jähes Erkennen haut mich dann fast aus den Laufsocken! Kräftige Statur, stramme Waden und oben 'rum einmal mehr im blauen „Outfit“. Vor einer Woche tauschten wir uns noch 500 Km weiter nördlich aus. „He! Hallo! Das gibt’s doch nicht!“ bricht es lauthals aus mir heraus. Prompt wendet er den Kopf, braucht aber einige Sekunden, um mich einzuordnen. Das ist nicht einfach, denn statt Orange trage ich heute Weiß und verberge zudem mein Haupthaar unter schwarzer Mütze. Ein paar Minuten tauschen wir uns über Cuxhavener und heutige Befindlichkeiten aus, bis jeder wieder seiner Wege geht, oder genauer gesagt, in der ihm angemessenen Geschwindigkeit läuft. Langsam zieht er davon. Wie wahrscheinlich ist so was? Dass zwei Marathonis an zwei aufeinander folgenden Wochenenden denselben Lauf absolvieren, auch wenn dazwischen halb Deutschland liegt, mag ja noch einigermaßen angehen. Dass die beiden sich im ersten Marathon unter tausend anderen kennen lernen und sich im zweiten erneut in die Arme laufen, gilt mir dann doch als hübsche Anekdote. Und das im 42. Wettkampf, der mich über die 42,195 Kilometer oder weiter schickt.

Nass isses, windig isses, kalt isses, einfach unangenehm. Zudem geht es tendenziell von Weindörfchen zu Weindörfchen weiter rauf. Bei Kilometer 15 blicke ich nach längerer Zeit mal wieder auf die Uhr und hab einen Verlust von drei Minuten gegenüber den ersten 10 Kilometern zu beklagen. Zunächst keimt der Verdacht, durch unkonzentriertes Laufen die Zeiteinbuße mit verschuldet zu haben. Hinter „Leistadt“ wundert mich dann nichts mehr. Der weit über die Ebene und tief nach unten reichende Blick verdeutlicht, welche Höhe wir uns inzwischen erkämpft haben. Jetzt weiß ich auch, wieso manche Ortsbezeichnung mit dem Anhängsel „am Berg“ endete.

Auf den nächsten drei Kilometern geben wir diese Höhe komplett auf. Mit einer Pace von etwa 4:30 min/km gleiche ich mein Zeitbudget wieder einigermaßen aus. Dutzendweise überhole ich Konkurrenten, die sich auf diesem Abschnitt ein bisschen Erholung gönnen. Auch mein „blauer“ Bekannter aus der Kölner Gegend muss dran glauben, während ich mit langen Sätzen die Tafeln 16, 17, 18 Km abarbeite und Bad Dürkheim ansteuere. Das muss Bad Dürkheim sein. Die Richtungsumkehr ist bald fällig und die sieht der Streckenplan in Bad Dürkheim vor. Unattraktive Randbezirke - jede Stadt hat sie - sind schnell Vergangenheit. Die Sonne hat sich zurück gemeldet, als ich das ansehnliche Zentrum des Kurortes, mit einer für Wetter und Stunde beachtlichen Zuschauerkulisse, besichtige. Vom Kopfsteinpflaster der Fußgängerzone wechseln wir auf Plattenwege des Kurparks. Die Sonne bringt zartes Grün, Baumblüten und frische Stiefmütterchen-Rabatte zum Leuchten. Schneller als ich es aufschreiben kann, bin ich durch und trabe auf einem Radweg stadtauswärts.

Halbzeit: Die Verdopplung der angezeigten Zeit verspricht mir ein Finish mit etwa 3:38h. Mit Skepsis begleite ich dieses Kalkül. Wer weiß was noch an Steigungen kommt (ein „dickes Ei“ soll bei Km 27 warten). Außerdem hab ich ständig das Gefühl ein bisschen schneller zu laufen, als ich sollte. Der Rad- und Fußweg schwingt sich auf Brückenniveau, wechselt die Straßenseite und nimmt mich wieder mit in Richtung Bad Dürkheim. Die kilometerlange Schleife diente also vor allem dem Überqueren dieser Schnellstraße. Ein Verpflegungsstand. Zwei Schluck Wasser reichen. Bei dieser Kälte brauche ich wenig Flüssigkeit. Letzte Sonnenstrahlen kitzeln, als sich die Route von Dürkheim abwendet. Wieder droht ein sich rapide verfinsternder Himmel mit Niederschlag. ‚Aber vielleicht kriegen das andere ab und wir kommen trocken davon?’

Zwischen Weinstöcken taucht die 25 Km-Tafel auf, ein Stück dahinter zeichnen sich die ersten Häuser eines Dorfes ab. Ich liege gut in der Zeit. Dafür spüre ich die Abnutzung bereits sehr deutlich in den Beinen. Vor zwei Jahren hätte mich dergleichen noch beunruhigt. Inzwischen hab ich mehrfach erfahren, dass solche Signale zwar mehr Qual auf dem Schlussteil, jedoch keinen Tempoeinbruch prophezeien. Kaum den Ortsrand überschritten, fordert schon wieder eine Steigung. Dazu setzen neue Graupelschauer ein, ihnen folgt Regen. ‚Mist!!!’ Hinter dem Ort und scheinbar „oben“ angekommen, bildet ein kleines Plateau den Auftakt zum nächsten Berg, jenem vor „Kallstadt“. Zwischen Km 26 und 27 hält er die härteste Prüfung auf dem Rückweg bereit: Elend lang und im oberen Teil auch steil. So gut ich kann, halte ich Tempo. Kraft dafür fließt stetig, allerdings in schmerzende Beine.

Immer wieder mal platsche ich durch Wasser, das in Spurrillen abläuft und im Zwielicht des grauen Tages schlecht auszumachen ist. Meine zwischenzeitlich nassen Füße geben leicht schmatzende Geräusche von sich. Außerdem fühlt sich das ekelhaft kalt an. ‚Blödes Wetter!’ Die Hoffnung auf Besserung erfüllt sich nicht, es tröpfelt munter weiter, begleitet von anschwellendem Wind. Der bremst und lässt mich zunehmend frösteln. ‚Mein Gott! Wenn ich auf Mütze und Handschuhe verzichtet hätte …“

Ortschaft reiht sich an Ortschaft und vielfach lese ich die freundliche Einladung zur Weinprobe: Kallstadt, Herxheim am Berg, Dackenheim. Um Dackenheim „vorzustellen“, holt man uns von der B 271. Nach mittelprächtig interessantem Schlenker kehren wir wieder dorthin zurück. 32 km gelaufen.

Von einer Stafette der skurrilen Art ist noch zu berichten. Ihre Läufer tragen samt und sonders einen mit feinen, blauen Längsstreifen gemusterten, hüftlangen Kittel (sh. vorletztes Bild). Insgesamt hinterlassen die an jeder Kilometermarke wartenden Staffelmitglieder nicht den sportlichsten Eindruck. Der übergebene Staffelstab ist mit Trauben und Weinlaub aus Plastik geschmückt und mehrfach höre ich den Ausruf „Da kommt die Winzerstaffel!“. Bei Kilometer 12 holte mich die Stafette ein und seither liefere ich mir ein „Wettrennen“ mit ihr.

Noch’n Dorf, dem ich mich auf minimal abfallender Straße nähere. Laute Ansagen aus großvolumigen Lautsprechern steigern ein wenig die Spannung. Bei dem Sch…wetter bin ich für ein bisschen Unterhaltung dankbar. Jeder Läufer wird vorgestellt. Nach drei, vier anderen bin ich an der Reihe. Meine Herkunft korrigiert er rasch, wähnt mich zunächst aus „Aschaffenburg“, lässt mich letztlich weiter in „Augsburg“ wohnen. Als Dreingabe gibt er mir noch den Tipp, dass hinter der nächsten Ecke Verpflegung wartet, die man auch für mich bereithält. Elementar wichtig der Hinweis, weil man Versorgungsstände ja so leicht übersieht … Zu blöd, dass ich mich vorhin entschloss nun nicht mehr zu trinken. Halb eingefroren hab’ ich einfach keinen „Bock“ auf kaltes Wasser, brauch’ es auch nicht. Schnell weg hier, bevor sie mich einfangen und ob der Missachtung des Sprechers „zwangsernähren“.

Bisschen links, bisschen rechts und auf freies Feld, schon haben mich die Rebgärten der Region wieder. Rauf geht’s auch noch mal, unter anderem über die fünfzig steilsten Meter des gesamten Kurses. Einsame Tafel, „34 Km“, neben nassem Betonsträßchen, kurz dahinter, einsatzbereit geparkt, ein Kombi der Feuerwehr, darin ein paar verfrorene Nasen, Wache schiebend, für den unwahrscheinlichen Fall, dass einer nach steiler Kuppe umfällt. Anhaltender Regen, mehr kalter Wind und schon eine Weile keine Lust mehr …

Alsbald sind die Rebfluren Erinnerung. Als ich die A6 just durch den Tunnel des Herwegs unterquere, darf sich die Digicam zum ersten Mal seit fast drei Stunden in ihrer Tasche ausruhen. Nun kommt nichts Neues mehr und neben der Lauflust ist mir auch die Lust zum Fotografieren abhanden gekommen. - Zum zweiten Mal in Grünstadt, Fußgängerzone in entgegengesetzter Richtung; Zuschauer: Fehlanzeige. Die kennen bei diesem Wetter alle einen schöneren Ort, um den Sonntag zu verbringen. Der Regen hat zugenommen. Zurück über Asselheim, dessen nettes Kirchlein mich jetzt, im wahrsten Sinne des Wortes, kalt lässt. Dafür erschreckt mich der Blick auf den weiteren Routenverlauf. Optische Täuschung gaukelt eine sich steil aus tiefem Talgrund aufschwingende Straße vor. Meinte da nicht eben ein Zuschauer: „Nur noch ein kleiner Hügel, dann habt ihr’s geschafft!“

Erstmal wieder flotter, bergab, durch den Ort, vorbei an einem Alleinunterhalter, der auf seiner Orgel standhaft gegen Regen und Wind anspielt. Zuhörer hat er keine. Uns Läufer natürlich, für jeweils zehn Sekunden vor- und nachher. ‚Oh Mann! Bei dem ätzenden Lied kann er von mir aus auch gleich aufhören.’ So wie ich gleich aufhöre! Schon eine Weile triefen meine Klamotten und was mir noch nie widerfuhr, der Frühling an der „Deutschen Weinstraße“ bringt es zu Wege: Ich friere an den Beinen! Dem hilft auch die letzte Steigung nicht ab, die Muskeln entwickeln einfach zu wenig Wärme. ‚Sch… egal! 39 Km um, gleich ist Feierabend, nur noch zwei lächerliche Kilometer!’ Die Lauflust hat nicht überlebt, dafür der Ehrgeiz! Unter 3:40h verlange ich von mir. Nichts Unmögliches, die letzten Hochrechnungen erbrachten einheitlich knapp 3:39h. Aber da ist noch dieser Anstieg und ich versuche nicht langsamer zu werden, kämpfe eisern. Dass es bergauf gelang annähernd Tempo zu halten, kann ich bei Km 40 nur auf der Uhr ablesen. Mein Laufgefühl ist vollkommen eingefroren und die Beine stampfen mechanisch.

Danke Magen, dass du mir auf dem letzten Kilometer auch noch dieses leichte Unwohlsein angedeihen lässt. Hätte mir echt gefehlt. Die ersten Häuser von Bockenheim. Alles in mir schreit ‚Aufhören!’ und ich stimme lautlos ein. Gar nicht lautlos von hinten: „Hallo!“ Der „Blaue“ ist wieder da: „Ich hätte nicht gedacht, dass das heute für mich so gut läuft!“ Drauf ich: „Und ich bin ganz schön am Ende!“ Damit mein ich nicht allein die Kraft. Bin halt mit der „Gesamtsituation unzufrieden“ … Meint er: „Ich bleib jetzt bis zum Schluss bei dir!“. Die Absicht anerkenn’ ich wohl. Doch die Begeisterung des Marathoni im Finish, und dass ich mich nicht mal ansatzweise zum Endspurt aufraffe, lässt ihn dann doch um gut fünfzig Meter enteilen. Vorm Zielkanal drückt er mit Luftsprüngen seine Freude aus, fordert mit eindeutigen Gesten Jubel für sich ein. Dann bin ich an der Reihe und … wenn ich euch's sage: Da erwische ich mich doch tatsächlich in Siegerpose und tief drin, in noch nicht aufgeweichter oder vereister Körperregion, lodert ein wärmendes Gefühl: Freude!


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