Ich laufe, also bin ich.  -  Rom Marathon 2008

Diesen Bericht widme ich Richard Whitehead, Läufer auf Prothesen, einem Rollstuhl-Duo (mir unbekannt) sowie einem Athleten auf Krücken (dessen Name ich gleichfalls nicht kenne).

Prolog: Zum zweiten Mal Rom, die Stadt und den Lauf. Viele sprechen von der „ewigen Stadt“. Für mich ist Rom vor allem die Stadt der Widersprüche. Auf über zweitausend Jahre alten Ruinen, auf Niedergang und Zerstörung erbaut, sprüht sie vor Leben - quirlig bunt, jung, lebendig. Inmitten von Schönheiten, die ihresgleichen suchen, auch Abstoßendes, mitunter Hässliches. Hier glänzt unermesslicher Reichtum in üppiger Auslage, dort kniet die Bettlerin im Strom der Passanten. Rom ist laut, zuweilen schrill, ertrinkt im Licht der Mittelmeersonne. Eine Gasse weiter, hallen einsam deine Schritte, umfängt dich abends mild romantisches Licht aus trüber Laterne. Römer schröpfen die Börse des Fremden auf jede erdenkliche Weise und doch gibt es Lächeln und Freundlichkeit vielerorts umsonst.

Schlaglichter, grob skizzierte Umrisse - mehr nicht. Die Stadt der Städte ist zu vielschichtig, zu mysteriös und in vielen Einzelheiten unerreichbar für ein normales Leben. Sätze, treffend, lebendig, kraftvoll im Ausdruck, wie viele auch immer, werden ihr nicht gerecht. Reiseführer zerteilen nüchtern, zählen auf, loben, tadeln, weisen hin. Wiedergeben können sie den Moloch nicht. Ich hasse Rom. Ich liebe Rom. Da muss ich nicht noch mal hin. Aber ich will wieder hin.

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Zuletzt 2004 lief ich Marathon in Rom. Meinen dritten. Der Mund stand mir über viele Kilometer offen - beileibe nicht nur zum Atmen. Marathon als Sightseeing-Tour. Abgesehen vom Kolosseum, begegnete ich den Postkartenmotiven seinerzeit zum ersten Mal laufend. Als Dreingabe (beinahe) das sportliche Wunschergebnis - ein unvergessliches Erlebnis. Nun sind wir wieder hier, verbringen vier Tage Kurzurlaub und selbstredend laufe ich. Auf der Marathonmesse muss ich eine herbe Enttäuschung wegstecken. Die Strecke wurde geändert. Erhalten blieben alle unattraktiven Teile. Schon klar: Die muss es geben, Länge sammeln; keine Stadt der Welt kann 42 km am Stück mit Attraktionen aufwarten, zumindest nicht als Marathon aneinander gereiht. Nur leider fehlt einer der beeindruckendsten Abschnitte. 2004 lief man über die „Via di Conciliazione“ direkt auf den Petersplatz mit der dahinter aufragenden Basilika zu. Fünfhundert absolut unersetzliche Meter. Dabei ist es völlig unerheblich, ob du gläubig bist oder nicht. Dieser Anblick haut dich um, lässt dich für Augenblicke den Grund deines Hierseins vergessen. Und ausgerechnet dieses Juwel sollte nun fehlen? Es fehlte tatsächlich. Allerdings ist damit auch schon vom einzigen Wermutstropfen bis zum Finish erzählt. Nimm dies als Warnung: Oft marterten mich Läufe über viele Kilometer, entsprechend ließ ich Leser unter qualvollen Sätzen „mitleiden“. Dieser Marathon vermittelt pure Lebenslust und Staunen. Und schwelgen, das kann ich wohl auch …

Am Vortag muss man unmittelbar die Stätten des späteren Geschehens aufsuchen, um etwas von dem nahenden Großereignis zu bemerken. Sonntagmorgen brauchen Ines und ich nur den Fuß auf die Straße zu setzen, um sie, aus allen Gassen kommend, in eine Richtung strömen zu sehen. LäuferInnen. Nach zwanzig Minuten Fußmarsch, zuletzt im Halbkreis um das Kolosseum, erreichen wir das Spalier aus Bekleidungs-LKW und Toilettenhäuschen auf der „Via di San Gregorio“. Dazwischen wimmelt es in allen Farben des Regenbogens. Überschwängliche, italienische Hallos tönen aus allen Richtungen. Man kennt sich, begrüßt sich, umarmt sich, sehr italienisch eben. Leiser dazwischen, ob der Häufigkeit allerdings nicht zu überhören, deutsche, französische, englische, amerikanische, spanische, asiatische und wer weiß was sonst noch für Sätze. Rom ist beides: Total lokal und grenzenlos international. Wir schlendern ein paar hundert Meter weiter bis zum „Circo Massimo“ (Zirkus Maximus). Vor zweitausend Jahren eine Arena für Wettfahrten mit Kampfwagen, heute freie Fläche und ideal für ein paar Joggingrunden (eine Runde ca. 1000 m). Ines will einen Teil ihres Trainings hier absolvieren, nachher, wenn ich unterwegs bin.

Ideales Laufwetter. Nicht zu kalt und nicht zu warm, vielleicht 15°C, der Himmel leicht bedeckt, aber mit freundlichen Wolken, die bisweilen auch ein paar Sonnenstrahlen passieren lassen. Ich fühle mich ausgesprochen gut, nach etlichen Stunden tiefen Schlafes. Na ja, meine Aufwachphase dauert an, zumal ich heute Morgen erst einen Cappuccino intus habe. Aber was soll’s, eine Dreiviertelstunde bleibt mir noch und spätestens nach ein paar Laufmetern werde ich voll da sein.

Anstehen vor einem der zahllosen Toilettenhäuschen in der „Via di San Gregorio“. Ines hat sich mit guten Wünschen verabschiedet. Warten vor einer Toilette ist nicht wirklich aufregend, in den Startkäfig kann sie mich ohnehin nicht begleiten und einen der wenigen Zuschauerplätze am Start zu ergattern erscheint schon jetzt aussichtslos. Warten vor der Toilette. Man sollte das trainieren. Das Aushalten der Ungeduld, das Wachsen der Aufregung mit jeder Minute, die der Start näher rückt. Vielfach der Blick zur Uhr: ‚Wird’s eng werden?’ Wahrscheinlich nicht, trotzdem steigt die Herzfrequenz. Läuferfüße wollen laufen, nicht stehen. ‚Schon mal die Trainingshose ausziehen und im Beutel verstauen’. Zwei Minuten sinnvoll verbraucht, danach zwei Schritte vorrücken. „Toi, Toi“ steht auf den Plastikklos. Meint das nun die Zeit, die man innerhalb des Plastikverlieses verbringt, oder den Lauf?

Prozeduren unfallfrei erledigt. Nun schnell den Klamottenbeutel abgeben und dann zum Start. Ich strebe Richtung Kolosseum und Triumphbogen des Konstantin. Das alte Rom war voller Gladiatoren, das neue ist es auch. Der Gegner gibt sich auch in diesen Tagen erbarmungslos, trachtet einem jedoch nicht nach dem Leben, will einfach nur überwunden werden. Entsprechend gut gelaunt geht es zu. Manche, besonders der italienischen Läufer, sind außer Rand und Band. Emotional aufgeladene Lautsprecheransagen heizen die Atmosphäre weiter an. Dem kann ich mich nicht entziehen und warum sollte ich auch. Hier ein Bild, dort ein Bild, ich schieße mich ein. Massenaufwärmgymnastik unter alten Pinien. Dahinter Spinningräder, selbstverständlich alle besetzt. Was soll das bringen? Schon mal ein paar Kohlenhydrate beim Pedalieren umsetzen, damit sie dann bei Kilometer 41 fehlen? Italiener sind für jeden Spaß zu haben. - Ein Erinnerungsfoto mit römischem Legionär gefällig? Für ein paar aktuelle Sesterzen im Schatten des Kolosseums jederzeit zu haben. Dann erreiche ich die Käfigwelt. Läufer werden wie Vieh getrennt. Ich darf in Startblock B zu den „orange“ gekennzeichneten Schafen. Zum Glück gibt’s gedruckte Startnummern, sonst hätten sie uns gestern Brandzeichen verpasst … In zwei weiteren, eingezäunten Gängen, rechts neben mir, die „grünen“ und „weißen“ Schafe. Wie ein Tiger im Zirkus trotte ich nach hundert vergitterten Metern in die Manege. Soll ich fauchen? Eine Sperrkette aus Soldaten in Kampfanzügen schützt mich vor den andrängenden Bestien im Startblock C (sh. erstes Bild oben). Mein Befremden hält sich in Grenzen. Ich kenn das schon. Die Sicherheit der Massenveranstaltung fordert es wohl. Individualisten bleiben wir Läufer dennoch.

Zwanzig vor neun. Langsam füllt sich der Startblock. Ich „ballere“ mit der Digicam ein wenig um mich. Viertel vor neun. Zeit noch etwas zu trinken. Flasche am Straßenrand deponieren, damit niemand drüber fällt. Einige Verzweifelte mit entsprechend niedriger Schamgrenze, darunter eine Lady, demonstrieren, wie ich den neuerlich anschwellenden Druck in der Blase mit leidlich Taktgefühl loswerden kann. Große Laufveranstaltungen schulen auch in diesem Segment menschlichen Miteinanders die Toleranz ... Hinter mir hat sich die Menge geschlossen. Eine Gruppe Franzosen stimmt lauthals die Marseillaise an. Vor mir reißen Italiener jubelnd die Hände in die Höhe, klatschen. Leider verstehe ich den Sprecher nicht. Freudige Erwartung in hundert Gesichtern um mich her. - Aufrücken. Das Vieh aus „Corral C“ prescht heran. Wenig später geht ein Ruck durch die vereinigten Herden, gemeinsam schließen wir nach vorne auf. Die Uhr zählt auf Neun, ein Jubelschrei eröffnet die Hatz. Augenblicke später traben wir los. Einstweilen behalte ich die Kamera in der Hand. Schmissige Rockklänge geleiten mich über die Startlinie - Gänsehautgefühl, Gruppenerlebnis. Eine betörende, gnadenlos erotische Frauenstimme schickt tausende LäuferInnen auf die Strecke. Wenig verstehe ich, aber das Wenige ist genug: Von einem „fiume colorato“, einem „farbigen Fluss“, schwärmt sie, der an ihr vorüber zieht. Und sie findet uns „bello“. Inmitten dicht an dicht trabender Läufer, auf dem Kopfsteinpflaster der breiten Prachtstraße „Via dei Fori Imperiali“, gilt es vor allem nicht zu stolpern. Individuelles Lauftempo bleibt zunächst Wunschvorstellung.

Die Besichtigungstour nimmt ihren Fortgang. Ja, Fortgang, denn begonnen hat sie eigentlich vor dem Start. Links „Forum Romanum“, auf der rechten Seite die Reste der Foren der Kaiser Augustus und Trajan. In weit geschwungener Linkskurve tangieren Läuferfüße die „Piazza Venezia“, zirkeln dabei im Halbkreis um das klotzig, stufig und bombastisch aufragende Nationaldenkmal „Vittorio Emanuele II“. Davor tönt Blech, spielt Schmissiges. Mir bedeutet es wenig, der italienischen Frohnatur schon mehr. Läuferhände applaudieren - en passant. Die bleiben dann gleich oben. Denn auch der bunt verrückte Kopfschmuck einer Zuschauergruppe, gewunden, gebunden und gedreht aus schlangenlangen Luftballons, weckt südländische Lebensfreude. Jetzt der merkliche Anstieg in Richtung Kapitolshügel. Da spielt es erst einmal keine Rolle, dass Gedränge schnelleres Laufen weiterhin verwehrt.

Laufen. Fast scheint es Nebensache. Dabeisein, Erleben, spielt die erste Geige. Einbeziehen der Zuschauer, Reagieren auf den Nebenmann, die Nebenfrau. Ich hab die Rolle des Beobachters, mach’ mir im Kopf Notizen. Wieder bergab, vorbei an der nächsten hochkarätigen Ruine, einer bewohnten allerdings, dem „Theater des Marcellus“. 14.000 Zuschauer fassten einst die Ränge des von Julius Cäsar begonnenen Baus. Damit war es das kleinste (!) Theater der Stadt. - Renne irgendwo zwischen Kilometer 1 und 2, weiterhin römisches Pflaster unter den Füßen. Das hat Tücken, wirft sich zuweilen auf oder senkt sich, fordert Läuferfüße. - Unmöglich all die Bögen, Tempel, die Geschichte erzählenden Ruinen beidseits des Kurses aufzuzählen. Zum einen kenne ich sie gar nicht alle, zum anderen will ich nicht langweilen.

Hundert Meter Pflasteranstieg sind zu bewältigen. Dann öffnet sich rechter Hand die weite, unbebaute Fläche des „Circo Massimo“. „Zirkus Maximus“: 500 Meter misst die antike Wagenrennbahn der Länge nach, was fehlt sind die Tribünen. Bilder aus Sandalenfilmen flimmern vorbei: Üppig mit Gold beplankte Kampfwagen, gezogen von sechs nebeneinander gespannten, muskulösen Hengsten, kämpfen um die Spitze. Wütend beharken sich die Fahrer. Messerscharf auslaufende Radnaben bohren sich ins Holz des Konkurrenten, Splitter wirbeln durch die Luft. Spannung lässt die Luft erzittern. Grausame Peitschenhiebe verletzten schweißfeuchte Flanken. Schaumige Nüstern, trommelnde Hufe, aufspritzender Sand, Kampf bis aufs Blut, an Stelle sportlichen Sich-Messens. Aufschreie der sensationshungrigen Menge begleiten jede kritische Situation. Über allem thront huldvoll Nero in seiner Loge, Wahnsinn irrlichtert aus seinem Blick. „Panem et Circenses“ (Brot und Spiele) gibt der Kaiser seinem Volk. Ich sehe und ich höre es …

Zwei Kilometer gelaufen und eine gute Viertelminute über Sollzeit. Da wären wir also in der Jetztzeit, bei meinen persönlichen „Circenses“ angekommen. „3:30h sollen’s werden, drunter geht nicht und drüber will ich nicht.“ So beschrieb ich Ines mein heutiges Trainingsziel, um sie rechtzeitig am Ziel zu wissen. Bedenkt man die lahmen ersten tausend Meter, dann muss ich inzwischen ganz flott unterwegs sein. Ebenso flott wie meine Mitläufer, denn die relative Enge hat sich nur wenig entzerrt. Natürlich könnte ich die Pace von meinem neuen GPS-Dingsbums ablesen. Aber erstens hab ich Fesselnderes zu schauen und zweitens will ich mich von der Maschine nicht abhängig machen.

Die „Via dei Cerchi“ entlang des „Circo Massimo“ ist zu Ende, die Läufermasse schwenkt nach rechts, nach Süden. Die großen vorgeschichtlichen Sensationen sind einstweilen abgearbeitet, jetzt beginnt eines der weniger aufsehenerregenden Kapitel. Zeit die Kamera in ihrem Etui an der Hüfte zu verstauen und mich auf Laufwichtiges zu besinnen. Kräftig fühle ich mich, gut ausgeruht, leichtfüßig - kein Vergleich zur Müdigkeit beim Bienwald Marathon vor einer Woche. Also scheint meine Trainingstaktik einmal mehr aufgegangen. Schweißperlen bilden sich bereits auf der Stirn. An der Temperatur liegt das eher nicht, ich mache die mediterran hohe Luftfeuchtigkeit als Ursache aus - also reichlich trinken heute. Dann ist da noch etwas, das mir gar nicht gefällt. Im Bereich des rechten Gesäßmuskels, tief innen, zieht es unangenehm. Zu schwach, um zu behindern, nicht einmal intensiv genug für echte Sorge. Wie oft spürte ich schon während eines Wettkampfes ein Meckern oder Ziepen in einem der laufrelevanten „Bauteile“. Nach ein paar Kilometern löste es sich meist in nichts auf. Gottbefohlen nehm’ ich’s hin und warte ab …

Hier im südlichen Teil der Strecke stehen die Zuschauer spärlicher, verdichten sich an dieser oder jener Ecke aber auch zu lautstarken Kolonien. „Forza, forza, ragazze!“ schallt es herüber und unzählige „Bravi! Bravi!“ helfen vorwärts. Italiener sind nicht nur gute Zuschauer, viele tun sich auch als dankbare Athleten hervor. So lange die Kraft reicht, applaudiert man dem Applaus, grüßt mit Handzeichen, schickt ein entzücktes Lächeln hoch zu einem dicht besetzten Fenster, nicht selten gefolgt von einem Handkuss. Die gute Laune, der Spaß, in „Bella Italia“ laufen sie unentwegt mit.

Staunen Teil eins: Schwarze Sohlen traben vor mir her - nackte Fußsohlen! Ich schau da wirklich noch mal genauer hin, aber es bleibt dabei: Barfuß über 42195 Meter?! Kaum zu glauben und er bleibt nicht der Einzige. Irgendwann später überhole ich noch so einen Barfüßler, der jetzt wieder ein Jahr braucht, bis er sein unteres Ende sauber kriegt …

Die letzte Richtungsänderung ist schon eine Weile her. Die Strecke verliert sich Kilometer voraus zwischen Häusern und ein paar Bäumen. Abwechslung bringt der erste Verpflegungspunkt. Der verzweifelnde Wasservorposten kommt nicht mehr mit Einschenken nach und rollt das Nass gleich flaschenweise auf den Tisch. Obwohl da noch Becher stehen, greife ich mir eine Pulle „Aqua“. Und ab über ein nasses Schlachtfeld aus geleerten, umher kullernden Plastikbechern. Fünf, sechs Schlucke aus der Flasche. Mit Bedauern schmeiße ich das dreiviertel volle Behältnis zur Seite. Verschwendung gilt mir als Synonym für „Sünde“ - hier laufe ich und kann nicht anders … - Weiter gerade aus, fünf Kilometer gelaufen. Inzwischen liege ich deutlich unterm Fünfminutenschnitt. Aber joggen fällt mir leicht heute und für die letzten 195 Meter muss ich ohnehin rund eine Minute gut machen, um die 3:30h zu packen.

Zweimal bog ich rechts ab und lasse nun mit jedem Schritt den südlichsten Streckenteil hinter mir. Um mich herum nur „funktionelles“ Rom. Mehrstöckige Wohnhäuser, kleine Geschäfte, Restaurants, Bars. In Italien verliebte Augen finden dennoch genug, um sich die sportliche Zeit zu vertreiben. Auch wer mit Abneigung registriert braucht ausreichend Platz auf seiner Liste. Verfall und Schmutz sind so gegenwärtig wie Gedeihen und Schönheit. Rom als Parabel auf das Leben.

Ziemlich konstant 4:50 min schreibt der Computer an meinem Handgelenk für jeden der Kilometer 3 bis 9 in seinen Speicher. Ich laufe mit Pulsmesser. Knapp über 130 Schläge zählt der in jeder Minute, etwa 75% meiner maximalen Herzfrequenz. Zufriedenstellend. Beruhigend. In der Schlussphase des letztjährigen Biel-Trainings lag der Wert zwar etwas tiefer. Mir bleiben allerdings noch vier Monate, um diesen Ausdauerparameter weiter zu drücken (bis zum 24h-Lauf in Berlin). Erklärtes Ziel: Tiefer als ehedem vor Biel! - Eine Brücke führt uns über den reichlich Wasser führenden Tiber. Zweifel beschleichen mich. ‚Ist das wirklich der Tiber?’ Ungepflegte, scheinbar ohne jede Gestaltung und verlassen daliegende Ufer verursachen das Stirnrunzeln. Doch einen zweiten Fluss dieser Größe gibt es nicht in Rom … Hinter der Brücke rechts, die Route verläuft nun flussnah, jedoch nicht immer in Sichtweite. Zwei Brücken weiter: Die „Ponte Testaccio“ schenkt uns die zweite Tiberquerung. 10 Kilometer gelaufen.

Zwei Empfindungen von innen kämpfen um die Vorherrschaft. Freude über die heute stetig und reichlich fließende Energie die eine. Die Freude verstärkt sich eingedenk des Umstandes, dass mein Laufbuch nach diesem Marathon stolze 120 Wochenkilometer ausweisen wird. Das seltsame Ziehen in der Hinterbacke schüttet allerdings Essig in wunderbaren Wein. Doch, doch. Das ist ganz und gar seltsam. Nein, nicht Stelle noch Art des linden Schmerzes. Vielmehr sein frühes Einsetzen (praktisch vom Start weg) und die unveränderliche Intensität. Es wird nicht schlimmer und nicht besser, bremst auf keine Weise. Nicht mal der Genuss ist merklich eingeschränkt. Abwarten. Beobachten.

Diverse Richtungswechsel haben meine Orientierung aufgehoben. Dann ist sie plötzlich wieder da, als vor mir die „Pyramide des Cestius“ über eine Mauer spitzt. Kurz vor der Zeitenwende und nach dem Besuch von Königin Cleopatra (44 v. Chr.) war in Rom alles Ägyptische „in“. Deshalb ließ sich „Ägypten-Fan“ und Volkstribun „Gaius Cestius“ in pyramidalem Grabmal beisetzen (12 v. Chr.). Damit schenkte er seiner Heimatstadt ein 37 Meter hohes, für Rom ungewöhnliches Baudenkmal. - Wieder Richtung Tiber, davor schwenkt die bunte Schar auf die Uferstraße ein. Nach wie vor wird dicht bei dicht gelaufen. Mehrfach kommt es zu Behinderungen, wenn langsamere Läufer den Weg verlegen. So kenne ich das nicht. Nicht bei einem Tempo von knapp 5 min/km. Die Straßen sind breit und rund 11.000 LäuferInnen können sie gut verkraften. Es muss an der Leistungsdichte liegen, mit meiner Pace liege ich einfach zu weit hinten im Feld. Schon bei früheren Starts in „Bella Italia“ fiel mir auf, dass die gelaufenen Zeiten im Schnitt deutlich unter jenen in Deutschland liegen. Italien ist - unter anderem - ein Läuferland. Wer daran zweifelt möge sich erinnern: Der amtierende Olympiasieger besitzt einen italienischen Pass.

Läuft mein Film auf einmal rückwärts? Ein bisschen um Fassung ringend nähere ich mich einem Rückwärtsläufer. Heftig, 42 Kilometer rückwärts! Ich will ehrlich sein: Ein bisschen „albern“ finde ich das schon und diese Gangart wäre die Letzte, sie mir als läuferisches Ziel vorzugeben. Aber warum sollte mich das hindern, diesem Athleten - und noch ein paar anderen, die ich später überholen werde - Bewunderung zu zollen? Hier geschieht es, indem ich mein Tempo drastisch reduziere, dabei die Kamera aus dem Halfter nestele und ein, zwei kuriose Fotos schieße …

Die Route tangiert jetzt wieder das alte Rom, über die „Piazza della Bocca Verità“ mit dem charakteristischen Kirchturm von „Santa Maria in Cosmedin“ aus dem sechsten Jahrhundert, dann zum Tiberufer kurz ansteigend und vorbei am leider eingerüsteten „Tempel der Vesta“. Alte Bäume säumen den Fluss. Noch ohne Laub verwehren sie kaum den Blick zur lang gestreckten Tiberinsel. Seit einiger Zeit hat sich die Zuschauerriege enger geschlossen. Viel Beifall begleitet uns. Von still applaudierend, über frenetisch, bis übergeschnappt kreischend. Eine Frau in mittleren Jahren und dünnem Sommermantel beugt sich in ihrer Begeisterung weit über ein Geländer, die klatschenden Hände weit vorgestreckt, lacht, schreit, feuert an - hoffentlich kippt sie nicht kopfüber …

Dieses Foto muss gelingen und so schere ich aus und stelle mich an den Straßenrand. Über die Rücken vorbei strömender Läufer visiere ich eins der bekanntesten Motive der Stadt an, die Engelsburg. Ein bisschen zoomen, dann noch eins. Unverwackelt und sicher im Kasten, also wieder anlaufen und einscheren. Die blauen Luftballons zogen in der Zwischenzeit ein Stück davon. Ich brauche die Pacemaker 3:30h nicht, finde es aber ganz unterhaltsam, von Kilometer zu Kilometer näher aufzulaufen. Wieder zur anderen Tiberseite, vorbei an der „Piazza Cavour“. Vor vier Jahren ging es von hier in Richtung Vatikan. Heute sehe ich nur manchmal die Kuppel des Petersdoms in der Ferne. Die Enttäuschung von gestern lebt wieder auf, als wir in entgegen gesetzte Richtung abbiegen. Auch auf diesem Teil des Kurses hat Rom viel fürs Auge zu bieten. Beeindruckende Palazzi, kleine Parks mit altem Palmenbestand, Alleen. Kilometer 16, 17, 18. Nur außen wandelt sich ständig das Bild, innen keine Veränderung: Reichlich Kraft fließt in stoischen Trott und hinten rechts dieses Ziehen. Gleich bleibend, mithin wenig besorgniserregend.

Ein dicker Pfropf vorwärts drängender Menschen verstopft den Laufkanal. Ich hänge dicht hinter den blauen Ballons und will vorbei. Recht bald erkenne ich meine Chance, eine große Kreuzung, vielleicht dreißig Meter voraus. Leicht seitlich in die einmündende Straße versetzt umkurve und überhole ich den Pulk. ‚Wie leicht mir die nötige Tempoverschärfung fällt!’ - Tja, nun weiß ich die Verfolger in meinem Nacken, ein irgendwie „blödes“ Gefühl. Darum halte ich die höhere Geschwindigkeit eine Weile (‚Fühlt sich immer noch leicht an!’) und setze mich ab.

Relativ unangestrengtes Laufen in aufregender Umgebung. Resultat: Ich registriere die Kilometer kaum und weiß manchmal nicht, welche Marke die nächste sein wird. Aber auf den Halbmarathon bin ich dann doch vorbereitet: 1:43:46 werden für mich gestoppt. Heute hege ich zur Halbzeit nicht den Hauch eines Zweifels, im Ziel annähernd das Zweifache dieses Wertes in der Anzeige zu lesen.

Remmidemmi hundert Meter voraus. Stampfender Rhythmus aus gewaltigen Lautsprechern. Eine Weile brauche ich, um das Lied zu erkennen. Doch dann durchschauert es mich wie eine belebende Droge, zieht, schiebt, bricht sich Bahn. „Stayin’ Alive“ singen die Kopfstimmen der Bee Gees. Und in mir klingt der Refrain: ‚I’m stayin’ alive, stayin’ alive, stayin’ alive’, I, I, I, I'm stayin' alive’. Einer der glücklichsten Momente des Laufes nimmt mich vollkommen gefangen. Eins vor mir empfindet man(n) das ebenso: Beide Hände senkrecht nach oben und schon formen Mittel- und Zeigefinger vorausschauend den Sieg: „V“ für Victory. In Glückshormonen halb ersaufend, weit abseits üblicher Prozesse, sendet das Lustzentrum einen Impuls und schon signalisieren auch meine Finger den absolut sicheren Erfolg. „Bee Gees“ irgendwo in Höhe von Kilometer 23, 24. Mitten in einem Marathon. Was für ein Geschenk. „Stayin’ Alive, stayin’ alive, stayin’ alive …“ Nicht länger in stoischem Trott, für etliche Meter fliege ich, wippe dabei innerlich im Takt. Vorstellbar? Verrückt? Ist aber so. - Was singen die da eigentlich? „Stayin’ alive“ - überleben. Das isses doch, genau das. Das macht den Marathon aus. Du musst 42195 Meter laufend „überleben“. Das ist anstrengend, manchmal kämpfst du, zuweilen willst du aufhören. Und gegen Ende wird es immer schwieriger. Aber irgendwie schaffst du es doch ... Noch ein Sinnbild auf das Leben. Man sieht, Rom und Marathonlauf gehören zusammen.

Ein Drogenscreening (der Ausdruck ist mir als bekennender „ER“-Fan geläufig. Wie du kennst „ER“ nicht? „Emergency Room“! Jetzt klar oder?), also ein Drogenscreening erbrächte längst wieder normale Endorphinwerte. Trabe wieder ruhig, doch immer noch locker vor mich hin. Es geht Richtung Norden, inzwischen wieder unweit des Tiberufers. Rote Monumentalbauten schieben sich ins Blickfeld. Obwohl kein Zweifel daran besteht, frage ich mich, ob ich vor vier Jahren auch schon hier am Areal des Olympiastadions vorbei lief. Kann mich nicht erinnern. Schon heftig, was italienischen Architekten der ausgehenden 50iger Jahre als repräsentativ und geschmackvoll galt. Ich find’s einfach nur protzig und groß. Doch Olympia 1960 in Rom sah auch einen legendären Marathoni: Abebe Bikila gewann in neuer Weltrekordzeit von 2:15:16 die Goldmedaille im Marathonlauf. Abebe Bikila lief die Strecke barfuß!

Jetzt isses ein bisschen langweilig. An diesen Teil der Route erinnere ich mich gut. Was soll’s, andere Stadtmarathons bestehen manchmal zu mehr als der Hälfte aus läuferischem „Nowhere“. Über eine Einfädelspur hoch auf Brückenniveau und ein letztes Mal über den Fluss. 26 km gelaufen. Der Blick rechts querab spendiert ein bisschen „Tausendundeine Nacht“. Kuppel und Minarett der römischen Moschee überragen unverkennbar die umliegende Bebauung. Unwillkürlich kommen mir heißblütige Diskussionen in meinem Heimatland in den Sinn, wenn es um die Errichtung von Moscheen geht, insbesondere ihrer weithin sichtbaren Minarette. Anscheinend bleiben Italiener in solchen Fragen eher nordisch „cool“. Man mache sich bewusst: Da steht eine große Moschee in der katholischsten aller Städte, nur wenige Kilometer von einem der Zentren der Christenheit entfernt …

27 Kilometer. Hier musste halt auch vorbei, zu sehen gibt’s nix. Unterschwellig existiert dieser Gedanke, schon längere Zeit. Und von einem Moment zum anderen fallen mir dann fast die Augen aus dem Kopf. Das gibt’s doch nicht! Das ist einfach nicht zu fassen, unglaublich, unvorstellbar. Nach hinten abgeschirmt von einem Helfer, läuft dieser Mann mit Prothesen! Aber keine, wie man sie kennt. An den Oberschenkelstümpfen sind Metallrohre fixiert, die in eine gebogene, sehr elastische Blattfeder auslaufen. Ich bin einfach platt. Der Himmel über Rom ist mein Zeuge: Nicht Sensationslust lässt mich diese Szene fotografieren. Alle Welt soll von diesem Beispiel unbeugsamen Überlebenswillens Kenntnis nehmen. „Stayin’ Alive!“ - Ich muss mein Tempo nicht mal wesentlich reduzieren, um mich in Schussposition zu bringen. Richard Whitehead heißt der Mann und ihm widme ich diesen Laufbericht. Das hilft ihm aber nicht ins Ziel (das er mit 3:39:00 !!! erreichen wird). Vielleicht das: Kamera schnell verstauen, er soll sich nicht wie ein „Tier im Zoo“ vorkommen, das am allerwenigsten. Dann beschleunigen, vorbei ziehen, ihn anschauen, kurz registriere ich den Union Jack, der seine komplette Brust bedeckt und die Sonnenbrille. Blickverbindung aufnehmen. Richard dreht den Kopf, schaut mir in die Augen. Ich sage nur ein Wort, das aber unüberhörbar: „Bravo!“. Er lächelt, antwortet „Thank you“, dann wende ich mich ab …

Das Staunen will nicht enden. Umgeben von mehreren Helfern überhole ich ein Duo. Einer sitzt im dreirädrigen Rollstuhl, der andere schiebt und läuft. Kenn’ nicht Schicksal noch Motivation der beiden, empfinde aber einmal mehr die geringe Bedeutung meines eigenen sportlichen Beitrages und gelegentlicher Blessuren. Richard muss ein wenig der Widmung abgeben ... 30 Kilometer geschafft, am jenseitigen Ufer zieht das Olympiastadion vorbei: Kraft reichlich, die Beine beginnen leicht zu schmerzen, das Ziehen in der Pobacke ist unverändert. Wie unwichtig.

Die wollen mich hier fertig machen! Lazarus läuft (?) Marathon. Unverkennbar ein Teilnehmer und doch auf Krücken! Wie kann das sein? Zwei Krücken vor, Füße halb nachschleifend, Krücken vor, Füße hinterher; Krücken vor, nachziehend die Beine … 42195 Meter weit??? Das ist der Hammer! Was für ein Willen in siechem Körper. Hätte ich es doch fotografiert, ihr glaubt mir das bestimmt nicht … Auch vor ihm beuge ich tief mein Knie.

Kilometer um Kilometer spule ich am Tiberufer ab. Die Distanz zur Innenstadt schwindet, das Zuschauerinteresse wächst. Dann biegen wir in die Gassen der Altstadt ab und erreichen nach wenigen Minuten eine Piazza. DIE Piazza. „Piazza Navone“ - einer der schönsten Plätze ganz Italiens. Daran können sogar prallvolle Straßencafés, fliegende Händler und Ströme von Touristen nichts ändern. Zweihundertfünfzig Meter, dann verlassen wir das Oval in südlicher Richtung. - Eine Frau mit halb welkem Palmzweig in der Hand läuft auf dem Bürgersteig. Ach ja, die kommt sicher aus einer der vielen Kirchen. Heute ist Palmsonntag. Das katholische Rom feiert den Einzug Jesu in Jerusalem. - Jeder Schreiber wäre überfordert, Fülle und Pracht der nächsten Kilometer zu vermitteln. Ein endloser Strom bedeutender Bauwerke zieht vorbei. Palazzo reiht sich an Palazzo, dazwischen Kirchen, immer wieder Kirchen. Rom, die Stadt der Kirchen. „Rom ist ein einziges Freilichtmuseum!“ So wird es Ines morgen formulieren, mit schmerzenden Füßen nach stundenlangem Rundgang …

Schmerzende Laufwerkzeuge hab ich auch. Normal. Kenn ich. Positiver Nebeneffekt: In der Polyphonie des allgemeinen „Wundseins“ kann ich die Hinterbacke rechts nicht mehr ausmachen. Ihr stundenlanges Solo ist beendet und damit auch die dazu gehörenden Bedenken. Kaum hab ich die „Piazza Venezia“ gestreift, geht’s auch schon nach links in die „Via del Corso“ und damit mehr als 1,5 Kilometer geradeaus. Anderthalb römische Shoppingkilometer gehören heute den Marathonis. Kilometer 36: Noch sechs! Aber was für sechs! Schon die „Via del Corso“ beherbergt jede Menge touristisches „You must see!“. Zum Beispiel die Triumphsäule des „Marc Aurel“ (193 n. Chr., gefertigt aus 28 Marmorblöcken, 42 m hoch) auf der „Piazza Colonna“. Dahinter der Ort der berühmtesten Faustkämpfe ganz Italiens, das Parlament.

Ich erreiche die „Piazza del Popolo“ (Platz des Volkes) mit dem ägyptischen Obelisken in der Mitte. Der Platz ist in kleinem Radius fast vollständig zu umrunden, bevor wir ihn in spitzem Winkel zur Ankunftsrichtung wieder verlassen. Doch vorher will ich ein garantiert verwacklungsfreies Foto dieses spektakulären Ortes und quetsche mich in eine von Absperrgittern gebildete tote Ecke. Ein, zwei Bilder im Kasten und weiter. Das Anlaufen fällt mir immer noch nicht schwer. Kilometer 38, die Kamera klemmt schussbereit zwischen Daumen und Zeigefinger. Links, hinter einer Häuserecke, kommt die spanische Treppe in Sicht, wie wahrscheinlich die meiste Zeit des Jahres, auch heute von vielen als Sitzgelegenheit missbraucht. Trotzdem fange ich die Postkartenansicht ein, natürlich mit Läufern davor.

Die Kamera kriegt keine Ruhe mehr. Bild um Bild wandert in den Speicher. Natürlich bleibe ich dazu nicht jedes Mal stehen. Kühles Kalkül lässt mich ein paar hoffnungslos verwackelte Aufnahmen hinnehmen. Die Mehrzahl wird das Gesehene scharf genug abbilden, um in wenig mehr als Daumennagelgröße den Laufbericht mit ausreichender Deutlichkeit zu illustrieren. Aber dort vorne werde ich stehen bleiben! Eines der meist fotografierten und von einer Filmschönheit als Badegelegenheit missbrauchten Motive der Stadt fordert es einfach - die „Fontana di Trevi“. Sicher einer der schönsten Brunnen der Welt, bestimmt aber der meist besuchte. Heute ist der Platz noch voller, hinter Absperrungen drängen sich mehrere Zuschauerreihen. Mit dem Rücken presse ich mich gegen das Gitter, Rücksicht gegenüber meinen Mitläufern übend, rücksichtslos - muss ausnahmsweise sein - gegenüber den dahinter stehenden Menschen. Ein bisschen dauert es, bis mir eine „geeignete“ Läufergruppe zwischen Brunnen und Linse rennt. Seltsamerweise stehe ich diesmal den verloren Sekunden gleichgültig gegenüber. Vielleicht liegt es an der Gewissheit auch so eine Zeit unter 3:30h zu packen. Außerdem ist es piepegal, ob ich als Nummer 1684 oder 1751 im Marathontor auftauche. Ganz sicher spielen aber auch die einzigartige Atmosphäre des Laufes und die zahllosen Kulturdenkmäler eine Rolle.

Und weiter geht’s, hinter der „Fontana di Trevi“ leicht bergauf über das miserabelste Pflaster des ganzen Kurses. Da jubeln die Füße. Liefst du bis zu dieser Stelle am Limit, so klopft dir jetzt der Puls heftig unter der Schädeldecke. Für mich fühlt es sich anstrengend an - immerhin redet der Forerunner von 39 absolvierten Tageskilometern - ansonsten recht erträglich. Vor vier Jahren setzten kurz vor dieser Stelle heftige Unterleibsschmerzen ein, Folge eines gewaltigen, strategischen Fehlers. Bereits mehrere Tage weilten wir vor dem Lauf in Italien und ich stopfte Unmengen leckerer Pasta, nebst wagenradgroßer, knuspriger Pizzen in mich hinein. Unerfahren wie ich war, geschah das mit bestem Wissen und Gewissen - Carboloading!!! You know? Heute nichts dergleichen, nur Friede, Freude, Endorphin - und ein bisschen Schmerzen der Marke „Marathonendphase“. Was mich aber nicht hindert, über die abschüssige Straße, hinunter zur „Piazza di Venezia“, in einem Affenzahn zu flitzen. Die Beine spielen mit und die Stimmung steigt, mitten auf der prächtigen Piazza. Noch ein Bild und noch eins, wenngleich die Hantiererei inzwischen deutlich mehr Willenseinsatz fordert.

Auf vor über drei Stunden schon einmal absolviertem Abschnitt geht’s neuerlich am Protzklotz „Monumento a Vittorio Emanuele II“ vorbei. Zum zweiten Mal erobere ich das untere Drittel des Kapitolshügels, auf diesmal leicht wachsweichen Stelzen. Denen gebe ich abwärts die Sporen, lasse rechts das „Teatro di Marcello“ liegen, fliege, unten angekommen, über die „Via Petroselli“, zuletzt durch ein luftpralles Tor mit zwei unübersehbaren, tollen Tafeln: „40 km“. Kurz vor dem Minianstieg zur Ebene des „Circo Massimo“ ist das Kopfsteinpflaster klatschnass. Geregnet hat’s nicht. Was hier trocknet sind die Reste aus etlichen tausend Trinkbechern.

Zirkus Maximus: Nun höre ich keine Kampfwagen mehr, noch ahne ich huldvolle Gesten aus kaiserlicher Loge. Im Finale des eigenen Kampfes spricht nur noch der hart arbeitende Körper - einfache, klare Sätze. Schön war’s, nein, schön ist’s, aber jetzt reicht es dann langsam. Sicher brauche ich länger für die fünfhundert Arena-Meter, als weiland sechs Rappen vor goldblitzendem Wagen. Doch auch nicht ewig. Reichlich zwei Minuten, dann wende ich mich nach links in die „Via di San Gregorio“. 41 Kilometer! Die Bekleidungs-Lkw sind verschwunden, freie Bahn. Weit vorne leuchtet der Triumphbogen des Konstantin zwischen den Pinien. Dann kurvt die Route nach rechts und fordert Läufers Beine ein letztes Mal mit Höhenmetern. Nimmt die wirklich jemand wahr? So kurz vor dem Ziel und mit Blick auf dieses kolossale Kolosseum?? Was für eine irre Kulisse für die letzten Meter eines Marathons. Im Dreiviertelbogen drum herum und hinab. Ins Ziel läuft es wie von selbst. Wunderbar, herrlich, nicht zu beschreiben. Ohne Endspurt (wozu?), fotografierend, genießend und einfach nur glücklich trabe ich über die Zielmatte. 3:28:47 hält die offizielle Zeitmessung fest. Ein Huster, ein Nieser, dann hab ich Muse meine Zielankunft zu feiern und in alle Richtungen zu fotografieren. - „Corro ergo sum“ lautet das Motto des diesjährigen Rom Marathons, „Ich laufe, also bin ich …“

Epilog: Sicher gibt es wenige Stadtmarathons, die einen Läufer mit einer solchen Fülle urbaner wie geschichtlicher Eindrücke beschenken. Und ich bin mir sicher: Wer hier einmal erfolgreich lief, kommt wieder, des alten und des neuen Roms Atmosphäre wegen. Aber auch um sich unter die enthusiastischen Italiener zu mischen, für die es am Palmsonntag im März nichts Wichtigeres gibt als Marathon laufen und erleben.


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