Auf dem Weg zum 50. Finish  -  Heilbronn Marathon 2008

Auf meiner Brust prangt Startnummer „50“, auf dem Rücken der Hinweis: „Auf dem Weg zum 50. Finish“. Diese Anzahl von Wettkämpfen über Marathondistanz oder weiter bedeutet mir „etwas“. Nur weiß ich bis zur Stunde nicht was oder wie viel. Ein besonderer Tag und ein besonderer Lauf. Meinem 50. Geburtstag schenkte ich damals kaum Aufmerksamkeit, feierte ihn wie jeden anderen. Gut, es war üblich im Kameradenkreis aus diesem Anlass „einen auszugeben“. Man muss ein wenig mit den Wölfen heulen, damit man als einer der ihren im Rudel akzeptiert wird. Aber sonst? Was soll Besonderes daran sein 50 Jahre alt zu werden? - Warum freue ich mich dann schon seit Wochen auf diesen 50. Marathon? Zumal er sicher nicht als Letzter, Schnellster, Schönster, Aufregendster oder Genussreichster in meinem Laufbuch vermerkt werden wird. Oft verstehe ich mich, manchmal bleibe ich mir selbst ein Rätsel …

50 mal Marathon und weiter. Das ist viel. Nur wenige aus riesiger Läuferschar - dazu zähle ich jeden, der auch nur gelegentlich Laufschuhe nutzt - wagen sich je an diese Distanz. Und wenn, dann bleibt es bei einmal 42.195 Meter oder wenigen Wiederholungen. 50 mal Marathon und weiter. Das ist wenig. Immer wieder treffe ich auf Menschen, die weit mehr läuferische Erfahrung in den Füßen haben. Zum Beispiel auf „Horst Preisler“, dessen über siebzigjährige „Knochen“ ihn bereits über mehr als 1.500 Marathonläufe trugen. Oder auf die Mitglieder des „100 Marathon Clubs“. 50 mal Marathon oder weiter. Für manche wenig, für mich ungemein viel. Sie sind die Essenz ungezählter Trainingskilometer, ausgeheilter Verletzungen, überwundener Tiefs, ausgekosteter Höhen und zahlloser, wunderschöner Erlebnisse. Die „50“ lässt mich Rückschau halten, resümieren, macht mir auch erworbene Lauferfahrung bewusst. Als eines empfinde ich sie ganz sicher nicht: Sie bedeutet keinen Lorbeer, um mich darauf auszuruhen. Ganz im Gegenteil: Sie markiert ein Zwischenziel und motiviert zum Weiterlaufen …

Gestern Abend gab’s den 49. in Mannheim, danach den kurzen „Ritt“ zur Unterkunft in Heilbronn. Nach Duschen, Essen und Trinken ist der neue Tag fast eine Stunde alt. Eine Dose Bier hab ich mir gegönnt, zur Feier des Tages, oder besser der Nacht, mehr noch zum „Runterkommen“. Den Wecker stelle ich auf 7 Uhr. Natürlich viel zu spät für einen morgendlichen Spätzünder wie mich. Aber für eine (Zusatz-) Mütze voll Schlaf bin ich bereit das wirkliche Aufwachen auf die ersten Marathonkilometer zu vertagen. Das mit dem „Runterkommen“ klappt nicht. Nach Lauf, Autobahn und belebendem Wasser von oben bin ich zu aufgekratzt. Endlich falle ich in unruhigen, von mehrmaligem Aufwachen unterbrochenen Schlummer. Zweimal drückt die Blase, ein paar Mal wecken mich die schmerzenden Beine und um 6:15 Uhr geht dann gar nix mehr.

Beim improvisierten Frühstück stiere ich übellaunig aus dem Fenster: Dicke Wolken hängen über Heilbronn und dann fängt es auch noch an zu regnen. Den 50. bei Regen laufen? Dass es eine Viertelstunde später wieder aufhört, gibt meinem Optimismus wenig Nahrung. Mittlerweile legte ich den Weg zwischen Bett und Bad mehrmals auf reichlich steifen Beinen zurück. Und müde fühlen sie sich auch an. Ein gestern Abend noch unterschwellig dumpfes Gefühl formiert sich in diesen Minuten zu klarem Gedanken: Einen Tag vor dem Jubiläum bereits einen Marathon zu laufen, war keine meiner guten Entscheidungen! - Um 7:40 Uhr mache ich mich auf den Weg zum Startbereich im Frankenstadion. Den strapazierten Bewegungsapparat gehend lockern, genau das brauche ich jetzt. Kaum aus dem Haus setzt der Regen wieder ein. Unter alten Platanen, entlang des Neckars, bleibe ich auf dem gut einen Kilometer langen Fußmarsch einigermaßen trocken. Als das Stadion in Sicht kommt haben sich meine Sorgenfalten vertieft. Die Beine lähmt eine bleierne Schwere, intensiver, einschneidender als erhofft. Ich kann nur mutmaßen, welche Faktoren da zusammen wirken: Nachwehen des Rennsteig-Hammers? Regenerationszeit mit gut acht Stunden viel zu kurz? Unerquicklicher Schlaf? Schlechte Tagesform? Was für eine törichte Idee die Blüten Nummer 49 und 50 an einem Wochenende pflücken zu wollen!

Der Schauer dauert an. Vor dem Stadion stelle ich mich unter einen alten, sicher zwanzig Meter weit ausladenden Essigbaum (So ein riesiges, dicht gewachsenes Exemplar hab ich noch nie gesehen!). Ich habe Zeit, hoffe, der Himmel dreht den Hahn bald zu. Ziemlich teilnahmslos verfolge ich die emsigen Aufbauarbeiten rund ums Stadion, während der Kopf meinen physischen Zustand einzuordnen versucht. Dazu rekapituliere ich zunächst die Erfahrungen anlässlich der beiden voran gegangenen Marathon-Duos. Das Resümee meiner Erinnerungen baut mich nicht gerade auf: Weder in Cuxhaven noch letztes Jahr in Staffelstein am Obermain spürte ich vorm Start Nachwirkungen des Marathons vom Vortag! Und auch diese Wahrheit erspare ich mir nicht: Wäre das ein x-beliebiger Trainingstag, ich verschöbe die Trainingseinheit oder ließe sie ausfallen.

Neben mir nutzen Mann, Frau und zwei weibliche Teenager gleichfalls den Essigbaumgiganten als Regenschirm. Ihre im Gespräch zur Schau gestellte gute Laune macht mir schmerzlich bewusst, dass ich bis zum Start noch gehörig an mir arbeiten muss. Ansonsten kann ich das heute „knicken“ mit dem Genießen … Eine weitere Laufaspirantin im mittleren Alter nähert sich ihnen, schmeißt ihre großvolumige Sporttasche auf die mit Rindenmulch gedeckte Erde und schwäbelt mit breitem Grinsen: „Also Leut’, heut’ müsset mer net schwitze!“ Nach meiner Überzeugung eine eklatante Fehleinschätzung der tatsächlichen Verhältnisse. Selbst wenn es beim Schauerwetter bleibt, wird uns die herrschende Schwüle das Wasser aus den Poren treiben. Zudem mache ich eine erste blau schimmernde Stelle am wolkenverhangenen Himmel aus.

Das Abebben des Schauers lockt mich aus meinem Versteck. Auf der überdachten Stadiontribüne sitzend halte ich nach Stefan, Jirka und Frett Ausschau. Wie findet man Nadeln im Heuhaufen? Sinnlos zu suchen, am Start werden wir uns sicher begegnen. Einstweilen hieve ich mich ein wenig aus dem „Stimmungsloch“. ‚Du hast einige lange Trainingsläufe mit von Beginn an müden Beinen überstanden! Heute wird es auch gelingen!’ Oder: ‚War’s nicht manchmal so, dass nach ein paar Kilometern das Blei von den Beinen fiel?’ Weniger diese vagen Möglichkeiten bauen mich dann auf, als das immer breiter klaffende, blaue Loch am Himmel.

„Sie dürfen auch weiter nach vorne in den roten Startblock!“ bietet mir der Ordner nach einem Blick auf die Startnummer an. „Das passt schon! Heute bin ich nicht so schnell!“ lehne ich seine Offerte zunächst dankend ab, orientiere mich dann aber doch ein paar Meter nach vorne. Dort gerate ich ins Radar des nächsten Postens, schlage auch dessen gleich lautendes Angebot aus. Ich spähe in alle Richtungen. Obwohl man nur locker beieinander steht, gelingt es mir nicht die Konterfeis von Stefan oder Jirka ins Visier zu nehmen. Verzichtet Stefan auf den Start? Gestern Abend deutete er das an, falls er sich heute Morgen nicht fit fühlt. - Diese Situation ist neu für mich: In zehn Minuten laufe ich einen Marathon und habe nicht den blassesten Schimmer WIE! Was geht, was geben die Beine noch her? In den letzten Tagen hatte ich zwei Ziele formuliert, die einander widersprechen. Erstens: Den 50. genießen! Zweitens: Zum Jubiläum eine der besseren Zeiten abliefern! Ich habe es versäumt die „Sache“ zu Ende zu denken und nun huschen nur unausgegorene, zusammenhanglose Sätze durchs Oberstübchen: ‚Mit den Beinen kannst du „Genießen“ sowieso abhaken, also versuch wenigstens alles zu geben!’ - ‚Lauf langsam und schon dich für das kommende Wochenende!’ - ‚Loslaufen und sehen was geht!’ - ‚Sei froh, wenn du überhaupt ankommst!’ - ‚Wie kann ich mich für was entscheiden, ohne meine Leistungsfähigkeit wenigstens ungefähr zu kennen? - Solcher Gehirnspagat überfordert mich, lässt die letzten Minuten entschlusslos verstreichen. Der Startschuss zum fünfzigsten Marathon bricht und erstmals überlasse Wohl und Wehe vollkommen der weiteren Entwicklung. Aber wenigstens schickt mir der Himmel ein Zeichen: Ein, zwei Minuten vor dem Start bricht die Sonne durch abziehende Wolken …

Die ersten Schritte fühlen sich grauenvoll an: Ich krieg die Beine nicht auseinander! Es fühlt sich an, als verkürzte ein Gummiband zwischen den Fußknöcheln die Schrittlänge. Trotzdem passe ich mich dem allgemeinen Tempo an, auch wenn es schwer fällt. Ich laufe am idyllisch gestalteten Neckarufer unter Platanen, passiere Bootsstege, könnte zwischen Trauerweiden und Büschen immer wieder reizvolle Blicke auf den Fluss erhaschen. Könnte, denn im Moment hab ich keinen Nerv nach irgendetwas, gleich was, Ausschau zu halten. Mein Blick richtet sich auf die noch nasse Straße ein paar Meter vor mir. Im Übrigen bringe ich mir gerade das Laufen bei. Wenn das so bleibt, renne ich geradewegs in eine Katastrophe! Mehrmals halte ich nach der ersten Kilometertafel Ausschau. Mit so trägen Beinen traue ich dem Laufgefühl nicht über den Weg, brauche unbedingt eine Zwischenzeit! Dann lese ich 4:50 Minuten in der Anzeige und bin bass erstaunt. So schnell? Wie kann das angehen, wenn die Beine dermaßen „blockieren“? Ich nehme erstmal ein wenig Tempo raus.

Über die Neckarbrücke und am anderen Ufer in entgegen gesetzte Richtung auf einen Rad- und Fußweg. Die Sonne freut sich, dass sie endlich scheinen darf, bringt das Grün der Flussaue zum Leuchten. Der Schweiß rinnt bereits, kein Wunder bei der hohen Luftfeuchtigkeit. Jubel und Beifall dringt vom Gegenufer herüber, wir haben die Höhe des Frankenstadions erreicht. Ganz allmählich löst sich die Blockade meines Bewegungsapparates, aber Müdigkeit und Schwere bleiben. Die nächsten Zwischenzeiten liegen immer noch knapp unter 5 min/km. Das sind Splits für eine Endzeit von 3:30h. ‚So wie ich mich fühle, ein völlig aussichtsloses Unterfangen. Oder etwa nicht? Platzt der Knoten irgendwann? Soll ich das Risiko eingehen und die Geschwindigkeit erst ’mal halten?’ Alle gefühlten Parameter sagen „Nein!“. Erfahrung und gesunder Menschenverstand sagen „Nein!“ Bruder Leichtfuß sagt: ‚Was soll schon passieren? Im schlimmsten Fall breche ich auf der zweiten Hälfte ein und quäle mich dann dem Ziel entgegen! Versuch’s!’

Weitere zwei, drei Kilometer genießen wir den Vorzug am grünen Neckarufer zu laufen. Ein ziemlicher Hüne schließt zu mir auf. „50 ist ein gutes Alter!“ bemerkt der Mann - selbst bereits im „Herbst des Lebens“ angekommen - frohgemut. Ich brauche ein, zwei Sekunden, um mich aus tiefem Sinnieren in den hellen Sonntag zu liften, dann kapiere ich. „Die „50“ steht nicht für mein Alter!“ entgegne ich ein bisschen hilflos. ‚Ist das Schild missverständlich???’ - „Ach so! Also ich hab nicht genau hingeschaut, ist das dein 50. Marathon heute?“ Mein halblaut bestätigendes „Ja“ nutzt er dann zur Imagepflege: „Ach, ich hab längst aufgehört zu zählen!“ Sprach’s und joggte locker davon. Upps! Was für ein netter Tritt in den Allerwertesten. Manche Menschen müssen sich verbal über andere erheben, um den eigenen Wert zu fühlen. Wetten, dass der Typ haargenau weiß, wie viele Marathons er schon auf dem Konto hat?’ Prompt meldet sich der getretene Hund in mir: ‚Es war vielleicht keine so gute Idee, dein Jubiläum auf dem Rücken zu plakatieren!’

Hinter Km 5: Abrupt wendet sich die Strecke vom Wasser ab, dafür den Straßen eines Heilbronner Stadtteils zu. Damit ist auch das Ende des brettflachen Streckenteils gekommen. Erste kurze, harmlose Steigungen fordern kaum. Jedenfalls dürften meine noch ausgeruhten Mitläufer das so empfinden. Meine lahme Muskulatur knabbert daran schon heftig. Rechts ab auf betonierten Feldweg, mitten hinein in die Natur, über einen von Bäumen gesäumten Bachlauf, in sanftem Auf und Ab zwischen Wiesen dahin. Auch wenn ich es nur halbherzig genießen kann, die Strecke gefällt mir ausnehmend gut. - Wieder hat sich einer von hinten angepirscht, nimmt Bezug auf die „50“. Selbst schon wackerer Marathon-Kämpe, mit gut dreißig überstandenen Läufen, verwickelt er mich in ein nettes Gespräch. Auch er läuft seine Serie dieses Jahr, alle drei Wochen einen Marathon, und sein Ziel sind … na klar! … die 100 Km von Biel. Jeder mit Ultra-Ambition will dort mal gelaufen sein, mir ging’s nicht anders. Im Gegensatz zu mir, strengt ihn dieses Tempo kaum an. Einen Teil meiner Konzentration muss ich bereits jetzt darauf verwenden nicht langsamer zu werden, weshalb mich das Gespräch ermüdet. Eine Wasserstelle in der Ortschaft „Flein“ trennt uns dann, was mir recht gelegen kommt. Ein wirklich netter Kerl, ich hoffe Biel schenkt ihm mehr, als es mir zu geben hatte …

Am Ortsausgang von „Flein“ öffnet sich erstmals ein weiter Blick auf die Weinberge der Gegend. Das kurze Ringen zwischen Berichterstatter - „Brauche Bilder!“ - und Wettkämpfer - „Will ’ne gute Zeit!“ - gewinnt die Kamera: Am Straßenrand stehend versuche ich Mitläufer vor Weinbergen einzufangen. Zurück auf den Asphalt, weiter in gemächlicher Steigung, wenig später in einen Wirtschaftsweg abzweigend. Vom Streckenprofil blieben mir nur zwei steil aufragende Zacken im Gedächtnis. Wie es aussieht steht die erste dieser Hürden unmittelbar bevor, der Weg gewinnt in der Flanke eines mit Reben kultivierten Hügels merklich an Steigung. Schwerer fallen die Schritte, verkürzen sich, geraten aber nicht zur Qual. Ich falle im Feld auch nicht zurück, lasse sogar zwei Amazonen hinter mir und finde Zeit für drei, vier Fotos. Widersprüchliche Informationen liefert die Beinsensorik, meldet einerseits „müde“, signalisiert zugleich ausreichend Kraft für diesen steilen Hang. Noch finde ich Muße den Charme der vom Weinbau geprägten Landschaft zu registrieren. Die Schräge zieht sich, steigt zuletzt steiler und direkt gegen die Hügelkuppe an. Paradoxerweise empfinde ich sie dennoch nicht als hart. Sie ist da, gehört dazu, will einfach überwunden werden … Die Füße steppen über Parolen auf Asphalt: „Lauf Geli!“, „Go Timmy Go!“, „Gabi Go!“ und jemand bekundet seinen Stolz auf „Sylvia“. Der sonore Bass eines Blasinstrumentes (Tuba?) schallt mir von weitem entgegen, wird lauter. Eine Läufergruppe verdeckt zunächst den Musikanten, gibt dann einen ganz und gar überraschenden Anblick frei: Mann in Lederhosentracht, prall geblähte Backen, vor seinem Mund der mehrere Meter lange Schalltrichter eines Alphorns. Diesmal bleibt der innere Ringkampf aus: Ab zur Seite, stehen, fokussieren, Erinnerung mitnehmen. Im Abgang danke ich dem Alphornisten mit optimistisch aufwärts gerecktem Daumen und er grüßt zurück.

Der Weg flacht zunehmend ab, eine Tafel bestätigt 10 gelaufene Kilometer. Von der Kuppe und über Weinstöcke greift der Blick weit voraus, erfasst die weichen Konturen einer hügeligen Landschaft und die vor uns liegende Senke. Auf einstweilen geringfügig geneigtem Geläuf nehme ich wieder Fahrt auf, passiere die ersten Häuser von „Talheim“. Dann steiler abwärts, mit beschleunigten Schritten und dem Gedanken an Zeitgewinn. Nach rasanten anderthalb Kilometern bleibt der Ortsrand zurück und ich finde mich in veränderter Landschaft wieder. Die Reben sind verschwunden, das frische Grün wächst jetzt auf Getreidefeldern und an Obstspalieren. So ist der Trollinger Marathon: Unten sein heißt gleich wieder aufwärts müssen. Auf mild ansteigendem Sträßchen gesellt sich ein Läufer zu mir, fragt nach dem „50.“, erfährt Hintergründe, lässt sich beeindrucken, schenkt mir ein Gefühl der Bestätigung, zieht Minuten später, schon in den Straßen der Stadt „Lauffen“, davon.

„Lauffen am Neckar“ hat Reizvolles zu bieten: Applaudierende Zuschauer, eine Combo, rhythmisch auf bunt bemalten Ölfässern trommelnd, malerische Meter entlang des Flusses und die mächtigen Mauern einer alten Kirche. „Lauffen am Neckar“ zeigt mir aber auch zwei Kilometer langweilige Ansichten zwischen Bahnlinie und Gewerbeansiedlungen. Schwache Bilder von außen, dafür starke, eindeutige innere Empfindungen: Dieses Tempo werde ich nicht mehr lange halten können, 17 Kilometer sind jetzt absolviert.

Ob solche Gedanken die Beine beeinflussen? Auf dem Radweg durch dieses hübsche Tälchen - rechts am Hang wieder Weinanbau, links Felder und Büsche - überholen mich vereinzelt Läufer, zu jenen vor mir vergrößert sich der Abstand. Verdacht: Ich bin langsamer geworden. Beweis: Die nächsten Splits liegen deutlich über 5 min/km. ‚Vielleicht gelingt mir ja noch eine Zeit von 3:3x!?’ hofft der Ehrgeizige. ‚Ich halte jede Wette, dass du das heute nicht schaffst!’ hallt es aus defätistischem Gehirnwinkel wider. Ich lass sie reden und laufe. Wische mir zum hundertsten Mal den Schweiß von Stirn und Schläfen. Zwar ist die Luft noch angenehm kühl, doch die Sonne brennt heftig auf Schultern und Nacken. Durch ein Dorf, Name gleichgültig, sowieso vergessen. Hier gibt’s die Halbmarathonmarke. Hab’ schon gut drei Minuten eingebüßt. ‚Mal zwei ergibt das immer noch 3:3x!? - Wirst du nicht schaffen! Wetten?’

Nächster Ort „Brackenheim“, Geburtsort des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss, worauf man hier stolz hinweist. Aber auch der hübsche, von alten Fachwerkhäusern geprägte Ortskern und emsig klatschende Zuschauer schärfen die Erinnerung nachhaltig. 25 Kilometer gelaufen. - Wieder auf freier Strecke, wieder sanft aufwärts, vorbei an Rebstöcken, Sonne sticht, Schweiß rinnt, Beine sind müde. Pylone reservieren uns einen zwei Meter breiten Streifen am Straßenrand. Autos rollen langsam vorbei, an der nächsten Kreuzung höre ich wieso. Polizist durch das Seitenfenster zu Autofahrer: „… aber sie müssen auf die Läufer achten!“. An der Kreuzung nach rechts, Steigung anhaltend. Links tummelt sich eine Schafherde in großzügigem Pferch, findet Schatten unter ausladenden Bäumen und Nahrung in hüfthohem Gras. Wir verlassen hier die Straße, lassen uns von einem der vielen roten Pfeile auf einen asphaltierten Feldweg schicken. „Wir“ meint eine inzwischen recht „dürre“ Läuferkette, die sich kurz darauf, bei Kilometer 27, unvermittelt in heftiger Steigung wieder findet. Das muss die zweite, vom Streckenprofil angedrohte „Zacke“ sein. Zwischen Weinkulturen in steiler Hanglage arbeite ich mich aufwärts. Einige gehen hier, das hab’ ich zum Glück noch nicht nötig. Aber der Berg tut weh, lässt mich einige Sünden inständig bereuen, knechtet mich gar lange genug, um sie auch zu sühnen: ‚Wär’ ich doch langsamer angelaufen heut’ Morgen!’ - ‚Was für eine Schnapsidee das Jubiläum im Doppelpack zu laufen!’

Schwerfällig stampfen, Sonne im Kreuz, literweise Schweiß vergießen, heftig atmen, Kopf meist gesenkt, durchhalten, sich das eine oder andere Foto abringen, gleich geschafft ... Kleine Zuschauerkolonie spornt an: „Noch ein paar Meter, dann habt ihr’s gepackt, dann seid ihr oben!“ Der Weg wird flacher, der Herzschlag erholt sich, die Atmung auch und hinter besiegter Kuppe taucht meine Belohnung auf. Was für ein entzückender Anblick: Weinberge, hinter und nebeneinander gestaffelt, gekrönt von tiefgrünem Wald, als Blickfang erhebt sich darüber die malerische Burganlage „Neipperg“, in der Mulde davor ducken sich Häuser eines Dorfes. Egal wie weit, egal wie anstrengend, es hat sich gelohnt hierher zu laufen! Wir streifen die Ansiedlung nur kurz, wenden uns gleich wieder einem der autofreien Wirtschaftswege zu. Kilometer 28 in herrlicher Landschaft zieht vorbei. Rebkulturen so weit das Auge reicht, Hügelkuppen mit dichtem Wald bewachsen, darüber blauer Himmel. Gleichgültig wie viel ich schwitze und wie sehr sie mich auslaugen: Sonne und Wärme sind mein Laufwetter.

Kilometer 29: Jede Tafel ziert neben der Zahl auch ein Durchhaltespruch. Auf dieser steht: „Glaub an dich“. Ich hab nur ein paar davon gelesen, brauche sie heut’ nicht. Zwar kämpfe ich heftig, muss alle Kraft mobilisieren, um Laufschritt an Laufschritt zu reihen, aber meine Motivation ist ungebrochen. Der Zettel auf dem Rücken war doch eine segensreiche Idee! Mehrere Läufer drückten mir ihre Anerkennung aus, wünschten alles Gute und dass noch viele Läufe dazu kommen mögen. Bald hab ich meinen „50.“ geschafft! Stehen bleiben, gehen, schlapp machen - davon fühle ich mich trotz Schwäche Lichtjahreentfernt. 30 Kilometer! ‚Nur noch zwölf! Eine gute Stunde zu laufen!’ Kaputt, erledigt, am Ende sein ist anders. Das sieht ungefähr so aus, wie dieser Läufer vor sich hin stolpert: Trippelschritt, runder Rücken, hängende Schultern, fahrige Armbewegungen, Kopf auf der Brust, Schweiß tropft von Haarsträhnen. Kann man ihm helfen? Niemand vermag dir auf der Marathonstrecke zu helfen. Das ist ein Pfad auf dem man sich manchmal verlassener vorkommt, als in menschenleerer Gegend. Der Müde überholt den Lahmen, er bleibt zurück.

Den Müden überholt ein noch frisches Läuferpaar. „Er“ unter braunem Schlapphut, „Sie“ mit langer, schwarzer Mähne. Munter plappernd und munter joggend vergrößern sie den Abstand. Noch 10 Kilometer. Meine Karre läuft schon auf Reserve. Oder - um es in korrektem Läuferdeutsch auszudrücken - die Kohlenhydrate gehen zu Neige, inzwischen bezieht meine Beinmuskulatur Energie fast ausschließlich vom Fettstoffwechsel. Entsprechend langsam schlurfe ich dahin. Alle Zielzeitträume sind ausgeträumt, mittlerweile frage ich mich, ob wenigstens noch die 3:50h von gestern zu halten sind. Aber es gibt Wichtigeres. Zum Beispiel, dass mir heute fast nichts weh tut. Wieder eines der positiven Paradoxa meines Körpers. Gestern knirschte es im Getriebe, dafür war reichlich Sprit im Tank. Heute zuckelt der Motor mit verminderter Drehzahl, läuft aber rund und ohne Mucken.

Das nächste Dorf, Kilometer 35, nur noch sieben! „Auf geht’s! Das ist der letzte Berg! Noch mal beißen!“ schreit eine Frauenstimme. Jetzt ist es wieder wie am Anfang, ich krieg die Beine nicht mehr auseinander. Früh waren sie eingerostet, jetzt fehlt einfach die Kraft. Ich gebe was ich noch habe, trabe langsam, sehr langsam aufwärts. Ich nähere mich der Stelle wo meine Kräfte versiegen, so viel ist gewiss. Doch dieser Ort liegt hinter dem Marathontor, dessen bin ich gleichermaßen sicher. Ich quäle mich vorwärts, mit Genuss hat das längst nichts mehr zu tun. Es geht nur noch um den Triumph des Willens über die eigene Schwäche, um den fünfzigsten Sieg über mich selbst. Nur dafür bewege ich jetzt noch die Beine. ‚Noch sechs, nur noch sechs … Sechs Kilometer sind weit, wenn ich so kaputt bin, aber ich schaffe es, ich halte durch!’

Von wegen letzter Berg! Ob sich die Dame je in ihrem Leben laufend verausgabt hat? Dann müsste sie doch wissen, dass schon minimale Steigungen wie diese müde Marathonis schlaucht. Weitere zwei-, dreihundert Meter sanfter Anstieg machen mir zu schaffen, aber sie schaffen mich nicht. Was für eine tolle Ortstafel! Drauf steht „Heilbronn“. ‚Nur noch fünf, fünf Kilometer sind nicht viel! Das packst du!’ In starkem Gefälle lasse ich die ersten Häuser Heilbronns hinter mir. ‚Komm! Noch mal schneller! Versuch’s!’ Ich treibe mich vorwärts, fliege noch einmal ein bisschen, jedenfalls vermitteln meine abwärts heftig schmerzenden Beine diesen Eindruck. Dann bin ich unten, biege um eine Kurve, werde langsamer und laufe gegen eine Wand, eine Wand aus Leibern. Von einer Sekunde auf die andere springt mich die Unlust an, das Ende jedweden Spaßes am Laufen. Nicht DAS, nicht nach 38 mühsam erkämpften Kilometern. Fast falle ich vor Schwäche über meine eigenen Füße und soll mich jetzt auch noch durch hunderte Halbmarathonis schlängeln …

Die schnaufen, stolpern, keuchen, schlappen noch langsamer als ich. Ich bin regelrecht sauer. Aber es hilft nix. Schritt zur Seite, links vorbei, wieder zurück nach rechts, an den Straßenrand, Schultern verdrehen, rechts vorbei, diese beiden in der Mitte passieren … und so weiter und so weiter. Vorher war’s hart, jetzt hasse ich meinen Sport. Im dichten Strom schwitzender Halbmarathonis hab ich nur noch einen Wunsch: Fertig werden! Aber das dauert. Kilometer 39: ‚Noch drei, nur noch drei!’ - Langsam kriege ich mich wieder ein: ‚Das ist mein Lauf! Den lasse ich mir nicht vermiesen! - Noch zwei! Zwei lächerliche Kilometer!’ Ich hab keine volle Kontrolle über meine Beine mehr. Wer oder was steuert die jetzt? Das Stadion kann nicht mehr weit sein. ‚Nicht mehr weit! Nicht mehr weit!’. Kilometer 41: Ich denke tatsächlich noch exakt mit Komma: ‚Jetzt nur noch einskommazwei Kilometer! Gleich geschafft!’ Noch ein paar Läufer umkurven, dann sehe ich die Brücke über den Neckar und weiß: ‚Dahinter liegt das Stadion!’ Kurze vermehrte Anstrengung, hoch zum Brückenscheitel, alles an mir trieft vor Schweiß, ich bin fertig. Die letzten Meter vorm Stadion: Heftiger Applaus hinter Absperrgittern, von Soldaten bewacht. Links ab, durchs Tor, auf die Tartanbahn, letzte Kräfte mobilisieren. Freude? Kaum, ein Anflug vielleicht, ich bin einfach zu kaputt dafür. Aber für ein, zwei Fotos der Zielankunft kann ich den Arm noch heben. Dann sauge ich Atmosphäre und Beifall von dicht besetzten Rängen auf. Zuletzt heben sich meine Arme von selbst in den Heilbronner Himmel und im Zieltor beende ich meinen Weg zum 50. Finish …

Was für ein Unterschied zu gestern Abend! Frauen und Männer in geschichtsträchtigen Kostümen ehren die ankommenden Läufer, legen ihnen die Medaille um den Hals. Ein Lächeln gibt’s als Zugabe. Kein Gedrängel im Versorgungsbereich, kein Schubsen und Stolpern.

Durch unkluge Regie bescherte ich mir einen überaus harten 50. Marathon. Meiner Freude tut das keinen Abbruch, auch wenn es mit dem Genießen nicht in vollen Zügen klappte. Und wäre die Freude ganz ausgeblieben, der Fünfzigste hätte trotzdem große Bedeutung. Ohne 50. werde ich niemals den 75. feiern können, oder gar den ...


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