Marathon-Doppelpack, zweiter Teil:

Dehnt Läufer! Dehnt!  -  Cuxhaven Marathon 2008

Samstagabend in Cuxhaven: Wie verbringen Marathonis den Vorabend ihrer Bewährungsprobe? - Richtig! Sie schaufeln Kohlenhydrate in sich hinein. Außerdem montieren sie liebevoll und mit vor Aufregung leicht zittrigen Fingern ihre Startnummer am Laufshirt. Und wie bereiten sich jene vor, die vor Stunden ihr letztes Finish erlebten und dieselbe Übung morgen früh ein zweites Mal planen? - Zunächst identisch: Ab zum „Italiener“ und einen gewaltigen Berg Tagliatelle in unersättliche Eingeweide füllen. Später stechen auch sie neue Löcher in ein frisches Trikot, nur zittern die Hände dabei nicht. Aufregung ist keine in mir. Aus selbstkritischer Distanz bilanziere ich Soll und Haben: Sechs Stunden nach dem Lauf in Lohne kann ich zwar wieder „flüssig“ gehen, spüre dennoch jeden einzelnen „Knochen“ südlich der Gürtellinie. Besonders „munter“ gebärdet sich der kleine „Teufel“ tief in der rechten Pobacke. Wahrscheinlich freut er sich auf morgen, will mich auf den nächsten 42195 Metern erneut „unterhalten“. Die Müdigkeit hält sich in Grenzen, entspricht dem gewohnten Maß nach langen Läufen. Summa summarum erwarte ich einen schweren Gang … Mich in dieser Verfassung obendrein mit Dehnübungen zu foltern, käme mir unter normalen Umständen nun wirklich nicht in den Sinn. Heute schon. Keine Chance soll vertan werden, das eklige Ziehen da hinten oben zu bekämpfen. Also spule ich mein komplettes Dehnprogramm ab, mit Extrafokus auf den Gesäßbereich.

Aufstöhnen begleitet den ersten Versuch die Zehen mit den Fingerspitzen zu erreichen. Sekunden, in denen ich mich durchs sonntägliche Cuxhaven hinken sehe, unfähig weiter zu joggen. Die Wiederholung gelingt schon deutlich besser und das nächste Marathon-Finish rückt wieder in den Bereich des Möglichen. Noch mal und noch mal, weil’s so schön war. Und weil der „Teufel“ sich davon einlullen lässt, am Ende sogar Ruhe gibt. Der fühlbare Dehnerfolg macht mir ein gutes „Läufergewissen“. Zweifel, dass mich die Malaise auch morgen wieder plagen wird, sät er keine. Es wird stören, vielleicht erträglich schmerzen, jedoch keinen Abbruch erzwingen und kein beglückendes Lauferlebnis zulassen. So und nicht anders wird es kommen. Ermattet lasse ich mich aufs Bett sinken und suche ein wenig Zerstreuung in der Glotze.

Sonntagmorgen: Morgentoilette erledigt, Frühstück auf dem Zimmer eingenommen (da hat mich der Zufall in eine tolle Pension verschlagen und preiswert ist sie auch noch!). Start ist um 11 Uhr, alle Vorbereitungen sind abgeschlossen und nun gilt es noch gut eine Stunde „tot zu schlagen“. Fünf Minuten investiere ich in die bekannte Dehnübung, ziehe das „Teufelchen“ wieder und wieder an seinen Hörnern. Dabei mache ich die dritte positive Entdeckung des Tages, denn der gereizte Nerv schweigt! Welches die ersten beiden waren? Also ich fühle mich ausgeruht, Energie geladen und keine Sehne, kein Muskel reklamiert „Gestern-Marathon-gelaufen!“. Und wenn ich nach draußen schaue, vollführt mein Gemüt einen Luftsprung: Strahlend blauer Himmel lacht mich an! Als „vorsichtigen Optimismus“ könnte man den Zustand beschreiben, in den mich diese Erfreulichkeiten versetzen.

Halb Cuxhaven scheint sich rund ums Starttor zu gruppieren. Genauerer Betrachtung hält dieser Eindruck allerdings nicht stand, denn überwiegend Aktive wimmeln umher. Um elf geht’s los und zehn Minuten vorher herrscht in der Startbox noch gähnende Leere. Eindeutig ein „Organisationsverschulden“, weil noch immer einzelne, „versprengte“ 10 km-Läufer ins Ziel „tröpfeln“ (10 km-Start war um 9:30 Uhr). Ich ziehe mich in den Schutz einer Gebäudewand zurück und wiederhole weitere dreimal meine Dehnübung. So kurz vor einem Lauf, wenn man an sich Muskelspannung aufbauen möchte, wirkt das auf die Leistungsbereitschaft eher kontraproduktiv. Doch ich will hier keine Meriten erwerben. Mein Ziel ist bescheidener, für meine Verhältnisse sogar minimalistisch: Unter vier Stunden ankommen und das mit möglichst wenig Beschwernis von innen! Dabei fühlen sich meine Laufwerkzeuge, sogar die „kritische“ Hinterbacke, nach wie vor gut an. Auf dem halben Kilometer Anmarschweg konnte ich keinerlei Überbleibsel des gestrigen Marathons ausmachen.

Abgeschirmt von Gebäude und zahlreichen Grüppchen wartender Läufer kann mich der Wind nicht erwischen und die Sonne brennt auf den beim Dehnen gebeugten Rücken. Wärme und blauer Himmel gelten „Sonnenmenschen“ wie mir beinahe als Garanten eines Tages ohne Verdruss. Herrlich! Und doch setze ich auf langärmliges Zeug und Mütze, hauptsächlich wegen des weiten Laufwegs entlang der Küste. Der Wind ist nicht ohne und auf mehr als 5°C hat sich die Luft bisher nicht erwärmt. Außerdem werde ich langsam traben, heize mich von innen folglich nur mäßig auf. Alles, nur nicht frieren!

Aufgeregtes Schnattern allerorten. Nur wenige stehen alleine mit undefinierbarem Gesichtsausdruck, oder gehen ein bisschen auf und ab, um ihre Nervosität zu dämpfen. Väter verabschieden sich vom Nachwuchs, Ehefrauen vom „Personal Trainer“, der ihnen ein letztes Mal die Trinkflasche reicht, junge Kerle umarmen die Freundin, als wäre es ein Abschied für immer. Mir steht ein Lauf ins Ungewisse bevor. Weder kann ich meine Energievorräte so recht taxieren, noch glaube ich an beschwerdefreies Laufen. Wieso bin ich unter diesen Umständen so gut gelaunt? Statt „bangen Hinwartens“ - wie noch gestern Abend - beherrscht mich eine kaum zu rechtfertigende „Vorfreude“. Als jemand, der seine mentalen und physischen Befindlichkeiten - zumindest im Kontext des Laufsportes - stets zu verstehen sucht, gebe ich mir mal wieder ein unergründliches Rätsel auf! Macht’s die Sonne, der blaue Himmel? Bewirkt’s die gute Stimmung um mich her oder vielleicht der Umstand, dass ich mich heute weit besser fühle, als zu erwarten war?

Es ist soweit: Ich schließe mich dem Strom roter und blauer Startnummern an, stelle mich mit ihnen ins dichte Starterfeld. Gleich mir scheinen die meisten den kalten Wind zu fürchten. Kaum jemand macht sich kurzärmlig auf den Weg, viele tragen sogar Jacken. Auf Kopfbedeckungen glaubt dann allerdings die Mehrheit verzichten zu können. Weitere Studien vereiteln einsetzender Countdown und Startschuss. Und los! Na ja, nach „Los“ trippeln wir mit Dezimeter-Schrittchen in Richtung Startlinie unter prall-blauem Portal. Gut eine halbe Minute vergeht und erst auf den letzten von etwa dreißig Metern erklärt sich die Verzögerung: Trichtereffekt! Die Masse Mensch quetscht sich durch drei enge „Türchen“ der Zeitmessung. Am Ausgang von Kaufhäusern fängt man mit derlei Einrichtungen Ladendiebe. Für Laufveranstaltungen dieser Größenordnung haben Menschen wahrlich Praktikableres ersonnen.

Überraschenderweise pfeift uns kein Kaufhausalarm beim Passieren der Induktionsschleifen zurück und so falle ich in verhaltenen Trab. Der „Trichter“ hat auch sein Gutes: Anders als gewohnt, kommt es in der verzögert „freigelassenen“ Läuferschar auch anfänglich zu keinerlei Behinderungen. Ein bisschen wackelig „stelze“ ich durch „Downtown“ Cuxhaven. Ein Stück weit liefern die Unebenheiten des Straßenpflasters eine wohlfeile Erklärung. Doch schon fünfzig Meter weiter, auf einwandfreiem Asphalt, erkenne ich meinen Trugschluss, spüre „dicke“, vom gestrigen Lauf reichlich verspannte Oberschenkel. Kein Grund zur Sorge; spontan kommt mir die Startphase des Windhagen Marathons vom letzten Jahr in den Sinn. Nach brutalem Vorprogramm sandten mir die Beine damals ebensolche Signale und zuletzt reichte es nach furiosem Lauf zu Platz zwei. Indes nehm’ ich die heutige „Meldung“ als Warnung jeglichen Tempo-Leichtsinn zu unterlassen.

Zum Auftakt geht’s mehrere hundert Meter geradeaus, durch eine der charakteristischsten Straßen des Nordseestädtchens. Auf der linken Seite begrenzen Gebäudefronten mit Läden, Cafés und Gaststätten die „Deichstraße“. Rechts besorgt das ein mehrere Meter hohes Bollwerk, dem die Straße ihren Namen verdankt. Zufälliges Publikum, in der Mehrzahl sonntägliche Spaziergänger auf der Deichkrone, spendet ersten Beifall. Weit voraus die Spitze eines Leuchtturmes, aus dem Bereich des Hafens ragt der sich nach oben verjüngende Gittermast einer Funkeinrichtung. Diverse Läuferdialoge, untermalt vom Getrappel hunderter Füße, bilden die übliche Geräuschkulisse. Die vielen, bunten Eindrücke, der herrlich blaue Himmel und meine gute Laune lassen einstweilen alle Fragezeichen verblassen. Laufend vergesse ich alles, sogar mich selbst.

Durch straßenbreite Lücke, die stählernen Schienen eines tonnenschweren Fluttores über- und eine von Zuschauern besetzte Brücke unterquerend, erreichen wir die Außenseite des Deiches (oder war das Fluttor im Boden versenkt?). Der Leuchtturm rückt näher, mit ihm der Hafenbereich, wo kleinere Ausflugsschiffe auf Passagiere warten. Dann zwingen verblüffende Wahrnehmungen kurzfristig zur Selbstbesinnung: Ich schwitze und das nicht zu knapp. Einstweilen unternehme ich nichts, denn bisher schob der Wind. Wie erhofft hat sich die Spannung in der Beinmuskulatur gelöst und ich trabe erstaunlich unangestrengt dahin. Und dann die Sensation des Tages: Keinerlei Ziehen im Gesäßbereich! Seit Wochen Probleme damit, gestern fast vier Stunden davon genervt und heute nichts, absolut kein Muckser! Ich kann’s nicht fassen, muss aufkeimende Euphorie mit Macht unterdrücken: ‚Grad mal zwei Kilometer! Schnapp nicht über! Das meldet sich noch!’ - Unweit des alten Leuchtturmes und der „Alten Liebe“ biege ich nach links zum Bereich des Fährhafens ab. So recht will es mir nicht gelingen die aufkommende Hochstimmung zu bändigen. Toll, ich laufe völlig beschwerdefrei!!! Und eine nicht näher zu bestimmende Ahnung versichert, dass sich das nicht so schnell ändern soll.

Hinterm Becken des Fährhafens greift der Blick in die Weite, erfasst einen schmalen „Strich“ Nordsee, darüber den nur von schwachen Cirruswolken dekorierten Himmel - Blau über Grau. Eine Handvoll Küstenmotorschiffe fährt unter Land, strebt der Elbmündung zu. Linker Hand schützt der Deich Cuxhavener Wohnstraßen vor Sturmfluten. Ein Drittel der Zufahrt zum Fährhafen ist mit Gattern und Trassenbahn für die Läufer abgeteilt, viel Platz für unbehindertes Laufen. Vereinzelte Spaziergänger bilden auf diesem und folgenden Abschnitten die einzigen Zuschauer. Und doch findet sich immer wieder mal ein Händepaar zu spontanem Beifall. Inzwischen „schmore“ ich im eigenen Saft. Kurz entschlossen reiße ich mir die Mütze vom Kopf und klemme sie unter den Gürtel der Kameratasche, wo sie dann tatsächlich den Rest des Laufes verbringt. Außerdem gönne ich meinen Unterarmen Cuxhavener Sonne. Am Ende des Fährhafens, nicht mal drei Kilometer nach dem Start, greife ich mir einen ersten Becher Wasser, um allzu starker Austrocknung vorzubeugen.

Fantastisch! Was für ein Blick! Eine schier endlose Kette bunter Punkte verliert sich in der Ferne, stadtwärts flankiert von der mäßig geneigten Deichschulter, hinter der sich die oberen Stockwerke strandnaher Gebäude auftürmen. Meerwärts fällt der Blick auf wässrigen, vom abfließenden Wasser freigegebenen Schlick. Steinerne Buhnen weisen, grauen Fingern gleich, aufs offene Meer hinaus, erreichen mit ihrer Spitze den momentanen Stand der Flut. Scheinbar unbeweglich schwimmen die Silhouetten kleiner Frachter auf der Trennlinie zwischen Luft und Wasser. Ich denke es nicht konkret, als Gefühl durchdringt es mich jedoch total: Läufer sind vom Schicksal begnadete Menschen! Sie erfahren die beglückende Einheit von Bewegung und Erleben. Vor zwei Wochen rannte ich halb im Rausch durch 2000 Jahre alte Geschichte zwischen „Kolosseum“ und „Fontana di Trevi“, heute atme ich raue Nordseeluft und schaue ins Cuxhavener Watt.

Ich wusste es! Mein orangefarbenes „Angeber-Shirt“ aus Biel würde mir selbst im hohen Norden Ansprache einbringen. Was soll er einleitend anderes sagen: „Wirst du dieses Jahr auch wieder in Biel laufen?“ Vor drei Wochen hörte ich die Frage zum letzten Mal. Damals fand sie mich in schlechter Verfassung und so speiste ich den Frager mit ein paar lapidaren Sätzen ab. Heute geschieht, was ich nie für möglich hielt. Nicht während eines Marathons und schon gar nicht von mir. Ich beginne einen anhaltenden Dialog mit meinem Nebenmann, erzähle was mir in Biel missfiel, dass ich die Dunkelheit nicht mag und einiges mehr. Nach Läuferstandardfragen - „Wo kommst du her, was hast du vor?“ - will man wissen womit der andere sein Geld verdient. Vielleicht wär’s dabei geblieben, hätte er in mir nicht den pensionierten Soldaten und ich in ihm einen Zivilangestellten der Bundeswehr gefunden. So gibt’s „dringenden“ Gesprächsbedarf und so was dauert … Mit dem Flensburger entdecke ich eine völlig neue Seite an mir - die „Quasselstrippe“! Oder haben die in Cuxhaven was ins Trinkwasser gemischt?

Zwischen gewechselten Sätzen forsche ich wiederholt nach unguten Zeichen von innen. Aber da herrscht weiter völlige Eintracht. Kaum fassen kann ich mein Glück und exakt dieser Grund lässt mich munter weiter „schnattern“. Feiner Sand knirscht nun mehrfach unter den Sohlen. Wir joggen entlang der Uferpromenade, oft nur einen großen Schritt vom feinsandigen Strand entfernt. Bunte Strandkörbe erinnern an Sommer und Badebetrieb. Aus dem Wintergarten eines vollbesetzten Strandcafés verfolgen uns diverse Augenpaare. Eine Tafel verkündet die erbrachte Distanz: „Km 5“. Dann unverhofft Läufer auf Gegenkurs und nur hundert Meter weiter eine Wendemarke. Ich laufe automatisiert, bekomme die Umgebung nur unbewusst mit, so fesselt mich unser Gespräch. Da erübrigt sich jeglicher Kontrollblick auf die Pulsanzeige. Wer unausgesetzt plaudert läuft sicher nicht zu schnell …

Kurz nach der Wende wechseln wir hinter den Deich. Zehn, fünfzehn Meter Steigung bringen uns für Augenblicke auf Niveau der Deichkrone und sofort geht’s etwa achtzig Metern weit abwärts. ‚Wo bleibt der Wind?’ Abgewehrt von Gebäuden und übermannshohem Bewuchs hat er auch auf diesem Abschnitt keine Chance. - Ein Marathoni ganz in Blau wendet sich in einer Gesprächspause an mich. Biel-Shirt und Kamera in meiner Hand scheinen mir in seinen Augen etwas „Offizielles“ zu verleihen. Er gibt mir den Tipp Fotos und Laufbericht doch einer allseits bekannten Laufseite anzubieten. Heute bin ich unerhört mitteilsam und setze ihm auseinander, dass ich über eine eigene Plattform zur Veröffentlichung meiner geistigen Ergüsse verfüge. Die Adresse will er wissen, bekommt sie und meint: „Das kann man leicht behalten!“ Ob er meinen skeptischen Blick bemerkt? Also ich könnte mir http://marathon.pitsch-aktiv.de nicht mal bis hinter die nächste Wegbiegung einprägen …

Am Parkplatz zum „Fort Kugelbake“, just vor den Buden wo man sich die leckeren Krabbenbrötchen schmecken lassen kann, erwartet uns der nächste Verpflegungsstand. Nö, keine Krabben, ich leere stattdessen zwei Becher Wasser. Wärme und kilometerlanges Reden haben den Mund ausgetrocknet. Durch die Ausläufer des Kurparks und nach mehrfachem Richtungswechsel erreichen wir wieder den Deichfuß. Na endlich! Das hätte mich auch arg enttäuscht, wäre er ausgeblieben. Gegenwind kühlt und bremst ein wenig. Wie egal mir das heute ist! „I’m so happy“! Sogar Orkan „Emma“ lachte ich heute frech ins Gesicht. Was für ein grandioser Tag, was für ein toller Lauf!

Der Kamerad an meiner Seite reklamiert zum zweiten Mal einen zu hohen Puls und will nun nicht länger über seine Verhältnisse laufen. Wir tauschen gute Wünsche aus und hoffen uns dereinst auf anderem Geläuf zu begegnen. Dann lässt er sich zurück fallen und ich vollführe das „Kunststückchen“ mich laufend nach hinten zu verdrehen, um sein Konterfei in den Speicher meiner Kamera zu laden.

Die Gegenwindetappe zieht sich etwa zwei Kilometer in die Länge, bis sich die Strecke vor der dritten Tränke abrupt in Richtung Stadt wendet. Gut zwei Kilometer geht’s nun durch die Straßen Cuxhavens. Wenige Menschen säumen den Weg, doch kaum einer geizt mit Beifall. Das eine oder andere „Nest der Begeisterung“ gibt’s auch zu vermelden. Einen großen, von der Sonne gefluteten Balkon etwa, dessen Besatzung uns heftigsten Ansporn zuteil werden lässt. Oder die Runde am Stehtisch vor einem Straßenlokal, die mit „Bravo!“ und viel Applaus belohnt. Besonders engagiert jubeln zwei Frauen aus den Fenstern ihrer Wohung im zweiten Stock. - Eigentlich bin ich schon vorbei, überlege es mir dann aber anders, bleibe stehen, wende mich um und schieße ein Foto. Ein wirklich außergewöhnlich hübscher Welpe mit Frauchen am Straßenrand und Ines’ Entzücken ist mir sicher, wenn ich ihr dieses Bild als Souvenir mit nach Hause bringe …

Der Streckenplaner meint es gut mit mir, schickt mich zwischen Wohnblocks durch ein recht idyllisches Stückchen Cuxhaven. Hundert Meter Fußweg sind entlang eines Kanälchens und unter Bäumen zu absolvieren. Nun eine von Polizeikräften gut gesicherte Straße überqueren und zum Ziel fehlen nur noch Sekunden. Nach gut 55 Minuten wird der „Ladendieb“ zum ersten Mal gescannt. Aus dem Lautsprecher höre ich meinen Namen und mit besonderer Betonung verkündet der Sprecher meine Herkunft. Offenkundig soll es die Zuhörer beeindrucken, dass einer die weite Anreise aus Süddeutschland nicht scheute, um ausgerechnet in „Cux“ ein Finish hinzulegen. 10,5 Kilometer sind gelaufen, folglich muss ich auch heute vier Runden absolvieren. Vorher war mir das schlicht gleichgültig. Jetzt, nach dem famosen ersten Durchgang, freue ich mich sogar darüber. Die herrliche „Waterkant“ möchte ich gerne häufiger genießen …

Das Feld zeigt sich auf Runde zwei schon deutlich in die Länge gezogen. Über die „Deichstraße“, neuerlich das Fluttor passierend, vorbei am Wasser- und Schifffahrtsamt, den Leuchtturm anpeilend, die noch immer vertäuten Ausflugsschiffe am „Alten Hafen“ rechts liegen lassend, strebe ich wieder dem Fährhafen entgegen. Läuferin und Begleiter erregen meine Aufmerksamkeit, als sie ihm von Mutterpflichten für drei Kinder, Studium und nebenbei Lauftraining berichtet. Schwer beeindruckt, überschüttet er sie mit Formeln heftigster Bewunderung. Ich frage mich, wie frau so was „auf die Reihe kriegt“ und bekomme ein paar Sätze später die Erklärung: „Ohne Unterstützung meines Mannes wäre das nicht möglich!“

Die Sonne strengt sich weiter an. Ich versuche mir noch ein wenig mehr Erleichterung zu verschaffen und ziehe die Ärmel bis zu den Oberarmen hoch. Zum Glück sind sie gerade mal so eng dort keinen Blutstau auszulösen und trotzdem nicht runter zu rutschen. Ich fühle mich großartig, locker und beflügelt. Hauptgrund: Das böse Zipperlein schweigt nach wie vor. Unglaublich, aber wahr. Dehnen hat’s gebracht. Dehnt Läufer! Dehnt! Längst habe ich den Vorbehalt des „Kommt-schon-noch“ aufgegeben. Nichts Dergleichen kündigt sich an und spätestens jetzt genieße ich die Lust zu laufen, laufen, laufen, laufen … in vollen Zügen.

Die Nordsee möchte sehen, was hier vor sich geht, hat den vorhin noch freien Streifen Watt wieder zurück erobert. Für süddeutsche Augen ein gleichermaßen ungewohnter wie attraktiver Anblick. Rastlos schweift der Blick, sammelt die Digicam Bild um Bild. Immer nur Läufer von hinten? Kurz entschlossen trete ich auf die aus dunklen Steinen betonierte, zur See schräg abfallende Uferbefestigung und „schieße“ meinen Mitläufern entgegen. Mühelos falle ich wieder in meinen Trab, registriere einmal mehr das Wunder „Biomaschine“ am eigenen Leib. Als hätte ich den Samstag in einem Wellness-Bad verbracht und nicht auf einer windig kalten Laufstrecke …

Kurzzeitig geht die Aussicht zum Horizont verloren, weil die Route eine Nehrung, eine schmale, sandige Landzunge, abschneidet. Nach dreihundert Metern knickt der betonierte Fußweg vorm Badestrand nach links. Jetzt hole ich nach, was mir vorhin, in eifrigen Meinungsaustausch vertieft, entging, lasse den seltenen Anblick auf mich wirken. Auf einem großen Haufen Sand spielende Kinder, Paare, die knapp oberhalb der Wasserlinie eine Doppelspur hinterlassen, sonntägliche Spaziergänger auf Uferpromenade oder Deichkrone flanierend … Kleine grellbunte Flecken brannten sich mir vorhin ins Gedächtnis: Strandkörbe, das Markenzeichen deutscher Seestrände. Auf jeden Fall brauche ich ein Bild von Läufern mit Strandkörben im Hintergrund!

Auf dem kurzen Stück gemeinsamen Weges zur Wende, forsche ich in Läufergesichtern, mache auch ein paar Fotos. Von entspannt bis angestrengt kämpfend ist alles vertreten. Frauen verfügen über mehr Routine, wenn sich ein Objektiv auf sie richtet! Während männliche „Modelle“ mich eher ignorieren, formt sich auf weiblichen Gesichtern spontanes Lächeln.

Mit ein paar angestrengten Schritten gewinne ich die Deichkrone, an den Fersen des zweiten Gesprächspartners aus Runde Eins klebend. Aus der Kölner Gegend fand er den Weg nach Cuxhaven. Auf der abschüssigen „Rampe“, die uns hinter den Deich bringt, beobachte ich seinen Laufstil. An Gemeinsamkeiten fallen mir vor allem sein gedrungener Körperbau und die für einen Läufer recht stämmig muskulösen Beine auf. So ähnlich muss es aussehen, wenn man mich joggen sieht. Jedenfalls hoffe ich auf einen ähnlich leichtfüßig gewandten Eindruck wie diesen … Hohe Büsche und Schilf hinter einem Wassergraben am Deichfuß offerieren Erleichterung. Während ich meiner Not abhelfe, entfernt sich der „Blaue“, verschmilzt mit der Läuferkette.

Fast bin ich geneigt den jetzt heftigen Gegenwind willkommen zu heißen, weil er die Kühlung beschleunigt und die Dehydrierung bremst. Aber leider bremst er auch meine Vorwärtsbewegung und das mit mehr Druck als vorhin. Meinen hemmungslosen Spaß am Laufen kann er dennoch nicht gefährden. Heute stimmt einfach alles! - Zum zweiten Mal durch die Stadt, Beifall vom Balkon, Applaus aus dem zweiten Stock, links rum, rechts rum, grünes Idyll in Stadtmitte, Zieldurchlauf Nummer Zwei (1:52:45), der „Läufer aus Augsburg“ …

Die „Einsamkeit des Langstreckenläufers“. Im Training begleitet sie mich täglich und in Runde Drei scheint sie mich einzuholen. Halbmarathonis fehlen nun und nur noch wenige bunte Punkte schmücken die weite Bucht hinter dem Fährhafen. Mein Vergnügen schmälert das nicht. Auch das äußerst schwach einsetzende „Ziepen“ in der Hinterbacke kommt dafür zu spät. Himmel, Wasser, Sand und satte Farben. Aus Schauen und Laufen wird Leben in Harmonie. So kann es nicht immer sein, nicht einmal oft! Aber heute nimmt es mich gefangen, trägt mich, schiebt mich dem Horizont entgegen …

Grelles Signalhorn von hinten links. Kommt wohl übern Deich. Wird lauter. Motorgeräusch mischt sich darunter. Ist auf dem Strandweg hinter mir, muss eilig vorbei. Weiche aus, hab den Krankenwagen vor mir, der beschleunigt und verschwindet. Minuten später sehe ich ihn neben der Strecke stehen, Blaulicht an, Türen bereits wieder geschlossen. ‚Wen hat es da erwischt? Läufer oder Ausflügler?’ - Um die Wende und zurück. Zur Deichrückseite und hinunter - weiter, immer weiter. Noch einen Schluck trinken und vorbei an den Imbissbuden. Durch den Rand des Kurparks und wieder „ran an’ Deich“. Hab dich erwartet, du kannst mich ’mal! Steife Brise von vorn. Zwei Kilometer dann dreh ich dir ’ne Nase.

‚Hier fahren Autos?’ Bisher wähnte ich mich auf einem Fuß- und Radweg!? Dann isser vorbei und die tickende Uhr auf seinem Dach weckt meine Spannung: Wie wird er aussehen der führende Marathoni? Natürlich schlank und drahtig! „Super! Zieh durch!“ schicke ich ihm hinterher. Erstaunlich unangestrengt kommt es zurück: „Geht nicht! Eine Muskelfaser in der Wade ist gerissen!“ - ‚Mit einem Faserriss kann man noch so laufen?’ wundere ich mich insgeheim und brüte ein reichliches Stück über der Frage, wieso er sich überhaupt die Mühe machte, diese Info einem x-beliebigen „Hinterherläufer“ zu überlassen …

Gefährliche Begegnung an einer Hausecke: Irgendwie ahne ich den „Gegenverkehr“ und ziehe einen weiten Bogen abseits der Ideallinie. Dennoch gelingt es mir nur mit Mühe eine Kollision zu verhindern. In Dreierformation nebeneinander biegen sie um die Ecke und ich halte jede Wette, dass die eifrig auf ihre Begleiter einredende Frau meinen haarscharf an ihr vorbei wischenden Ellbogen nicht mal registriert hat. Gegen Gedankenlosigkeit kommen eben auch rot-weißes Trassenband und Absperrgitter nicht an.

Zum dritten Mal im Ziel begrüßt und mit Herkunft etikettiert. „Augsburg, eine wunderschöne Stadt, doch leider ohne Marathon!“ meint der Herr Moderator der Versammlung ergänzend mitteilen zu müssen. Keiner bedauert das mehr als ich, zumal mir spontan die herrlichsten Augsburger Streckenverläufe in den Sinn kommen, aus denen sich mit Leichtigkeit 42 tolle Laufkilometer zusammen setzen ließen. Nur muss sich eben ein Veranstalter finden. Ein Verein hat dazu nicht die Mittel, noch weniger die nötigen Kräfte. Ein Projekt dieser Größenordnung gibt’s nur für viel Geld. Und mal ehrlich: Braucht Deutschland noch einen Marathon, wo doch die Teilnehmerzahlen allgemein rückläufig sind? Einer mehr, der den Nachbarn die Teilnehmer wegnimmt? Und was ist mit Cuxhaven? Hier schmückt man sich mit dem Prädikat „Marathon“ und übersieht geflissentlich die vergleichsweise mickrige Zahl 179 Finishern 2008 ... Für's ausgeglichene Budget sorgen Halbmarathonis und 10 km-Läufer (Nein, die Sponsoren vergesse ich nicht).

Ganz und gar alleine auf der „Deichstraße“! Um ein paar auf verkehrsfreier Straße umher tollende Kinder muss ich kurven. Einige Passanten verfolgen meinen Lauf, ein Ordner wartet vor, Autofahrer mit laufenden Motoren hinter Absperrgittern, doch weit und breit keine Läufer. Erst entlang der Uferpassage kommen wieder einige ins Blickfeld. Ob sich die Spaziergänger wundern, woher der joggende Kerl mit der Startnummer kommt? - Abschied muss ich noch nicht nehmen, am Spätnachmittag soll ein Spaziergang hier draußen den Abschluss bilden. Fotos entstehen einstweilen keine mehr, hab alles „im Kasten“ was ich brauche.

Nach über dreißig Kilometern noch immer keine tief greifende Ermüdung und keine Schmerzen in den Beinen. Und der Nerv meckert nur sehr, sehr leise. Was ist Ursache, was Wirkung? Bin ich dermaßen froh gestimmt, weil es so fantastisch läuft? Oder trabe ich unbeschwert und lustvoll, weil ich glücklich bin? Dankbar nehme ich die letzten Kilometer unter die Füße und entdecke noch eine neue Seite an mir. Beinahe jedem klatschenden Händepaar schenke ich ein Lächeln oder grüße mit deutlich erhobener Hand. Mit „Danke!“ öffnet sich jedes Mal der Mund, bevor er sich zum Schlucken des Wassers am Verpflegungsstand wieder schließt. Ich möchte ewig so weiter laufen, werd’ es aber nicht können. Auf der letzten Gegenwindpassage hinterm Deich und beim finalen Zickzack durch die Stadt, lässt mich mein Körper dann doch die vollbrachte Leistung fühlen. Mag sein, diese Signale suchten mich schon in Runde zwei und drei zu erreichen, sind jedoch im reißenden Strom endorphiner Stimulation ersoffen … Mit dem Ziel in Reichweite akzeptiert der Kopf dann doch die Zeichen wachsender Erschöpfung.

So viel Zeit muss sein! Unter den Fenstern der seit Stunden begeistert anfeuernden Frauen bleibe ich stehen, richte die Kamera auf den zweiten Stock und „nehme sie mit nach Hause“. „Super wart ihr! Toll!“ ruft es herunter. Ich winke ihnen heftig zu und mit „Vielen Dank für die tolle Unterstützung!“ und „Tschüüüs!“ kehre ich in den Lauf zurück. Den Beifallbalkon finde ich zu meinem Bedauern leer vor, hätte mich auch dort gerne bedankt.

Ein Blick zur Uhr, eine kurze Hochrechnung, „3:43:xx“ sind drin, wenn ich einen „Zahn zu lege“. Das geht, höchstens noch ein Kilometer zu laufen und ich bin nicht am Limit. Mit beschleunigten Schritten nehme ich Cuxhavener Asphalt, Pflaster und Plattenwege unter die Füße. „Fetze“ übers Holzbrücklein vor dem innerstädtischen Bachidyll, erfreue mich letztmals - ein wenig atemlos jetzt - an Wasser und Grün. Straßenübergang, Autos warten, nun gilt die Tafel! „42 Km“! Uhr? 3:43:0x! ‚Das schaffst du unter 3:44h! Los! Lauf!’ Ich biege nach links ab, haarscharf um einen Poller und auf’s Kopfseinpflaster des Zieleinlaufs. Noch fünfzig Meter, wunderbare fünfzig Meter, die letzten ausgreifenden Schritte und dann ist es zu Ende - Gott sei Dank und leider zu Ende.

Heute kein Niesen, kein Husten, keine totale Erschöpfung. Glücklich lasse ich mir die Finisher-Medaille um den Hals legen. Heute lächle ich dabei. Ganz sicher! Und nun zum wohlverdienten Bier. Heute gibt’s alkoholfreies Finisher-Weizen! Nichts schmeckt im Ziel besser. Mit dem Bierbecher in der Hand schlendere ich zum Massagezelt und treffe dort den „blauen Kölner“. Für ein paar Sätze nehme ich auf der Wartebank neben ihm Platz. Beginnendes Frösteln lässt mich allerdings nach zwei, drei Minuten aufbrechen. Immer wieder am Becher nippend, schlendere ich in Richtung Parkplatz. Sieht man mir an, wie unverschämt gut ich mich fühle?

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Bei 3:43:58 stoppte ich meine Uhr hinter der Zeitnahme. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahne: Aus unerfindlichen Gründen sehen sich Veranstalter und sein „Dienstleister“ außerstande eine Nettozeit anzubieten. Ein eher „anekdotischer" Mangel für mich, auch wenn mich die Aussicht auf ein „optisch hübscheres“ Resultat zur Schlussoffensive herausforderte. Ärgern wird es manchen ehrgeizigen Läufer, der in Cuxhaven eine neue persönliche Bestleistung erzielen wollte und sich am Ende um jene Minute „betrogen“ sieht, die einem als Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg gelten kann.


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