Die Generalprobe  -  80 km Nachtlauf Karlsruhe

In großer Eile gebe ich meinen Laufrucksack zur Aufbewahrung - was ich eigentlich gar nicht wollte - und strebe ein bisschen hektisch dem Startbereich zu - was ich erst recht nicht wollte. 16:55 Uhr, noch fünf Minuten bis zum Start. Das hinter mir liegende Chaos sollte jeder Wettkämpfer einmal erleben, anschließend weiß man durchdachte und gut vorbereitete Laufveranstaltungen besser zu schätzen. Nach anfänglich erfolgloser Parkplatzsuche, stehe ich - unbeschadet der Voranmeldung - in einer ellenlangen Warteschlange zum Empfang von Startnummer und Transponder. Geschlagene 35 Minuten und in praller Sonne darf ich mir die Beine in den Bauch stehen. Und das vor einem Ultralauf! Dafür Worte zu finden, überlasse ich dem Temperament des Lesers … - Ein paar Vorstartfotos noch, diverse leutselige Sätze des Mannes am Mikro, dann ist es so weit. Vor mir liegen 80 Kilometer, ausreichend Zeit sich den Frust aus dem Kopf zu laufen. Aber bereits nach der Viertelrunde im Stadion und ein paar Minuten im sich anschließenden, angenehm kühlen Forst kommt Frieden über die Läuferseele. Mit mir gehen ungefähr 200 Einzelläufer auf die Strecke - 30 davon weiblichen Geschlechts. Hierunter mischen sich die Startläufer der 80 gemeldeten Staffeln. Ultras haben’s nicht eilig, weswegen es trotz schmaler Waldwege zu keinem Gedränge kommt. Lediglich ausgangs des Stadions meinte eine aggressive Staffel-Gazelle mir beim Vordrängeln ein bisschen auf den Fuß latschen zu müssen. Aber ein Gentleman genießt und schweigt … Tempo finden, bloß nicht zu schnell anlaufen. Mein „Schlachtplan“ für die 80 km gliedert sich in drei, vom Streckenprofil abgeleitete Phasen: Zunächst verläuft die Route auf 18 Kilometern ausschließlich flach. Diesen Abschnitt will ich mit knapp über 5 min/km packen. Dann folgen 40 Kilometer im nördlichen Schwarzwald, deren Profil gefährlich viele Zacken aufweist. Taktik auf diesem Abschnitt: Aufwärts Kraft sparen, abwärts Zeit gut machen. Die letzten 22 Kilometer locken mit fortwährendem Gefälle, also Gelegenheit noch ein wenig „Dampf“ zu machen, wenn die Beine den zu diesem späten Zeitpunkt noch hergeben …

Der flache Auftakt unter dichtem Laubdach entspricht zum Einlaufen exakt meinem Geschmack. Ein „Nachbar“ erkundigt sich nach meinen Absichten für heute. „Zielzeit hab ich keine, aber um 1 Uhr will ich fertig sein!“ antworte ich augenzwinkernd, relativiere den 8-Stunden-Vorsatz aber noch mit ein paar Sätzen. Tatsächlich setzen Lufttemperatur und starke Sonneneinstrahlung ein dickes Fragezeichen hinter dieses anspruchsvolle Bestreben. Ultra-Doppel-Vorsorge ist angesagt - Feuern und Kühlen: Von Beginn an Kohlenhydrate nachlegen und viel Flüssigkeit einfüllen. 25°C zeigte das Thermometer bei der Ankunft und bereits hier im Wald bildet sich ein dichter Schweißfilm auf meiner Haut. Ich schwitze mehr als andere, was ich durchaus nicht als Nachteil empfinde, da eher unempfindlich gegen Wundscheuern durch schweißnasse Bekleidung. Zudem verträgt mein Magen die kurzfristige Aufnahme großer Getränkeportionen.

Überraschend stoßen wir schon nach dreieinhalb Kilometern auf den ersten Verpflegungspunkt. Zwei leere Becher bleiben zurück, der Wald leider auch. Für Sekunden rauscht unter unseren Füßen der Verkehr auf dem Autobahnzubringer, dann orientiert sich der Radweg entlang des Karlsruher Rangierbahnhofs. Graue Kesselwagen in langer Kette lugen über die Böschung, warten auf ihre Lok. Meinem Begleiter fehlt es an Einsicht, weshalb jemand von solchem Nicht-Motiv in vollem Lauf ein Foto schießt: „Nachher kommen schönere Motive - viel schönere!“ - Mit der beabsichtigten Illustration des Laufberichts auf eigener Internetseite kann ich ihm mein eifriges Dokumentieren nachträglich plausibel machen.

Vom Rand des Bahngeländes wechseln wir in ein Gewerbegebiet. Kilometertafeln gibt es keine, darum bin ich froh mein Laufgefühl vom GPS-Entfernungsmesser bestätigt zu bekommen: Kilometer fünf passieren wir exakt nach 25 Minuten. Meinem Laufpartner ist das eigentlich zu schnell, weil er mit Sub9h eine etwas moderatere Endzeit anpeilt. - „Hast du keine Stirnlampe dabei?“ frage ich nach prüfendem Seitenblick. „Die bekomme ich später gereicht! Als „Lokalmatador“ genieße ich den Vorteil persönlicher Versorgung!“ Aus mehreren Bemerkungen spricht profunde Streckenkenntnis. „Wie oft bist du die Strecke schon gelaufen?“ will ich daher noch wissen. „Das ist heute das 22. Mal!“ bekomme ich zur Antwort. Wer will mir verdenken, dass ich das Auftauchen seiner „Strecken-Hostess“ - fotografierend vor geöffnetem Kofferraum - heftig bedauere? Einen solchen Pfadfinder könnte man auf unbekanntem 80 Km-Kurs gut gebrauchen. „Mach’s gut und viel Spaß! Vielleicht sieht man sich später noch!“ gibt er mir mit auf den Weg …

Der Weg durch die Außenbezirke der Stadt bietet wenig fürs Auge, dafür findet man vor Gebäuden oder unter Straßenbäumen häufig Schatten. Beifall gibt’s von Freunden der Läufer, alle paar Kilometer dieselben Gesichter, mit dem Auto vorausgeeilt. Schweiß schießt aus allen Poren, lässt das Laufshirt auf Brust und Rücken bereits kleben. Zwei gut gefüllte Becher Cola nach acht Kilometern sollen Wasser- und Energienachschub sichern. Brücken über Gleisanlagen und eine Bundesstraße bringen uns schließlich aus der Stadt und zwischen Felder. Viele parkende Autos, eine Reiterin im Gegenverkehr und ein verwirrender Schilderwald verweisen auf ein ebenfalls heute stattfindendes Reitturnier. Bin ich noch auf Kurs? Weiße Pfeile auf dem Asphalt und eine beruhigend große Schar Vorausläufer geben Sicherheit. Und wieder trinken, aus zwei Plastikbehältnissen mache ich Abfall. Zehn Kilometer vorbei, Tempo unverändert und das ist möglicherweise ein Fehler. Es ist mir nicht gelungen mich „frei“ zu laufen, eine nicht näher definierbare Mattigkeit begleitet alle Bewegungen. In vielen Wochen harten Ultra-Trainings habe ich gelernt dies nicht grundsätzlich mit meiner aktuellen Leistungsfähigkeit gleichzusetzen. Vielleicht liegt’s an der Wärme oder die brutalen Vorwochen wirken nach. Ich bin dennoch sicher diese 80 Km durchzustehen, selbst wenn ich das hohe Anfangstempo mit spätem Einbruch sühnen muss. Irgendwie werde ich laufend das Ziel erreichen!

Im Abstand von fünf Minuten setzen wir zweimal über die sechsspurige Autobahn A5, biegen anschließend auf stille, asphaltierte Feldwege ab. Einmal mehr verschwindet der Inhalt zweier Becher in meinem Bauch … - „Noch ein Augsburger, der am Samstagabend nichts Besseres zu tun hat, als zu laufen!“ holt mich eine Stimme von hinten ein. Sekunden darauf trabt der Rufer neben mir her. Ein weiteres Gespräch über sportliches Soll und Haben entspinnt sich, allerdings schon stockend und mit längeren Unterbrechungen. Meinerseits rühren die Pausen nicht nur von der Anstrengung, vom „In-mich-rein-Horchen“, oder vom Schauen, auch die Kamera will immer wieder bedient werden. Eine Pferdekoppel erregt gerade meine Aufmerksamkeit. Womit sich mein Begleiter in diesen Sekunden beschäftigt - wer weiß? Einträchtig traben wir nebeneinander her. Zunächst reagiert er ebenso wenig auf die Rufe wie ich: „Hallo! Halloooo!“ Nach dem dritten, vierten Versuch energisch: „Haaalt! Falsch!“ Synchron wenden wir uns um und kapieren sicher auch simultan von der Strecke abgekommen zu sein. Also 50, 60 Meter zurück und den korrekten Abzweig nehmen …

Sofort sitzt uns ein wahres Ungeheuer von einem Traktor im Nacken. Ungeduldig lässt der Bauer seine eine Million PS aufheulen, als wollte er die Gruppe hinter uns platt walzen. Ausweichen geht nicht, weil das Monstrum das schmale Asphaltband in voller Breite ausfüllt. Und durchs Feld zu traben, dazu verspürt wohl auch hinter uns keiner Lust. Muss er eben die paar hundert Meter hinter uns her röhren, ob’s ihm passt oder nicht … Zweihundert Meter weiter entschärft sich die Situation, als der „Killer-Bulldog“ auf eine gemähte Wiese ausschert, um den Schnitt zu wenden oder wozu auch immer. Ich entspanne mich und lasse andere Wahrnehmungen zu. Vor allem den intensiv würzigen Duft von Heu. Für mich gehört Heuduft zum Angenehmsten, was die Natur überhaupt an Gerüchen zu entwickeln vermag. Entströmt das Aroma der Wiese neben uns? Querab orgelt noch ein Landwirt durchs Gelände. Sein Trecker zieht eine Presse, die das Heu in Form von Rundballen „ausspuckt“. Einige Minuten dürfen wir diese ländliche Atmosphäre atmen …

Dorfstraßen („Grotzingen“) haben den schon lockeren Zug der Läufer aufgenommen. Damit sind wir den bewaldeten Abhängen des Schwarzwaldes ziemlich nah. Zwei Becher Trinkbares kippen, das beidseitige Spalier der wartenden Läufer am ersten Wechsel passieren, ein paar hundert Meter zum Ortsausgang traben, dann erwartet uns die erste Steigung (Km 18). Harmlos beginnt sie, lockt zwischen niedrige Bäume, neckt hier mit durchaus anspruchsvoller Rampe, „zieht“ uns in eine Art Hohlweg, dicht von Grün überwachsen, um endlich ihr wahres, brutal steiles Gesicht zu offenbaren. Dankbar registriere ich die Kühle unter dem undurchdringlichen Blätterdach, schmore dennoch im eigenen „Saft“, der aus allen Poren bricht. Minutenlang geht’s steil bergauf, etwa 120 Höhenmeter sind auf anderthalb Kilometer zu überwinden. Der Augsburger läuft vor mir her. Mann, wie ich den um seine Leichtfüßigkeit beneide. Scheinbar mühelos steppt er vor mir her. Steppt aber - oben angekommen - falsch, will geradeaus weiter. Mein energisches „Halt!“ (ein Wort aus fauchender Lunge muss genügen!) stoppt den Träumer augenblicklich und gemeinsam beginnen wir die erste längere Waldpassage.

Den Schwarzwald kenne ich als schier endlose Zone von Fichtenwäldern. Im nördlichen Teil besteht er aus Laubwald. Ein wenig geneigter, angenehm kühl temperierter Forstweg bietet auf gut drei Kilometern Gelegenheit die vom Anstieg gebeutelten Beine zu regenerieren. Hinter dem Waldrand erwartet uns eine mit Feldern bedeckte Hügelkuppe. Ein ausgetretener Wiesenpfad führt geradewegs auf den höchsten, von Kugelbäumen markierten Punkt zu. Je näher man den Bäumen rückt, umso freier schweift der Blick über angrenzende Täler und Höhen. Es mag beschwerlich sein auf heute schweren Beinen, dennoch erfasst mich Freude die herrliche Aussicht laufend genießen zu dürfen. Auf knochenharter Betonpiste geht’s bergab. Mehrfach schieße ich Aufnahmen. Einer der Fahrradbegleiter erbietet sich als Fotograf, worauf ich freudig eingehe und ihm die Kamera aushändige. Er radelt ein Stück voraus, postiert sich zum „Schuss“ am Wegrand. Ein gutes „Porträt“ kann allerdings nicht gelingen, weil die Sonne in meinem Rücken und nicht mehr allzu hoch über dem Horizont steht.

Über einen Kilometer halten wir nahezu geradeaus und in wechselndem Gefälle auf eine Ortschaft („Jöhlingen“) zu. Schon hier, nach nur 24 Kilometern, kann ich das Gefälle nicht zu beherztem „Freiflug“ nutzen. Zu sehr geht jeder Schritt durch Mark und Bein. Ich versuche, nicht daran zu denken, welche Distanz noch zu bewältigen ist, was natürlich nicht gelingt. Dafür meistere ich jede Form aufkeimender Schwarzmalerei mit einem trotzig überzeugten „Ich schaffe das!“ Natürlich funktioniert das nicht allein, weil ich „fest dran glaube“. Es gilt mir als Tatsache, trotz widriger Empfindungen, ausreichend Energie in den verbleibenden Stunden mobilisieren zu können. - Nur wenige Menschen nehmen in den Straßen des Ortes Notiz von den „rennenden Gestalten“. Doch wenn, dann spenden sie auch Beifall und geizen nicht mit Anfeuerung. Mancher kann nicht verhehlen, darin keine Übung zu besitzen. Jene Dame in bestem Erwachsenenalter etwa, deren artig verschämte „Jungmädchenstimme“ zwei an sich unvereinbare Absichten kombiniert: Zurückhaltend leise sprechen und beherzt anspornen. In der Ortschaft gefallen mir vor allem der Schatten, den die Häuser werfen, und die weitgehend ebene Route. Dann wenden wir uns einer Straße gegen den Hang zu und sofort wird die Sache wieder anstrengend. Kurzer Halt für zwei Becher und weiter …

Ende der Wohnstraße, aber kein Ende des Anstieges. Wir traben weiter gegen den zum Glück sanft ansteigenden Hang. Im Licht der tief stehenden Sonne bietet sich mir eine farbenfrohe Ansicht: Beidseits des asphaltierten Weges Grün von Wiesen, Feldern oder Bäumen, Goldgelb von beinahe reifen Ähren und über allem spannt sich ein hellblauer, von weißen, harmlosen Wölkchen dekorierter Himmel. Ich nehme das Bild in Besitz - im Kopf und mit der Kamera. - Die Kuppe ist noch nicht erreicht, als wir im spitzen Zickzack, zunächst nach links, ein paar hundert Meter später nach rechts, abbiegen, um sofort auf den nächsten Waldabschnitt zuzuhalten. Das „wir“ meint ein paar Läufer, die mal vor mir, dann wieder hinter mir, zeitweise auch neben mir unterwegs sind. Ab und an prescht ein Staffelläufer vorbei, ansonsten habe ich mehr oder weniger dieselben, seit über zweieinhalb Stunden „studierten“ Rücken im Blickfeld. Der Augsburger läuft seit der „Porträt-Aktion“ ein Stück voraus und diverse Male hatte ich den Eindruck, als zöge er unaufhaltsam davon. Sein lockerer Laufstil erweckt den Anschein stabiler Ausdauer. Ist er wirklich so stark?

Erst begrüße ich den Wald, erhoffe mir schweißsparendes Laufen. Daraus wird nichts, weil der Weg mit heftiger Steigung aufwartet. Im oberen Teil muss ich teilweise sogar auf den Vorderfuß ausweichen. Erste Kontrahenten fallen an diesem Berg in Gehschritte. Ich fixiere den Augsburger. Kein Problem für ihn, er nimmt die Passage scheinbar mühelos, während ich mein Tempo so weit reduziere, dass man gerade noch von „Laufen“ sprechen kann. - Oben! Nun wieder abwärts und … noch ’mal rauf, nicht mehr ganz so lange und weniger heftig. - Ganz oben! Sanft abwärts, dem Waldrand entgegen. Nicht nur dem, auch der Wärme und einer weiteren Tränke: Mund auf, zwei Becher rein, weiter. Kurz vor acht Uhr abends und doch treibt mir die Sonne gleich wieder Schweißperlen auf die Stirn.

Hinterm Wald heißt auf dieser Strecke zugleich auch vor dem nächsten Wald. Und wieder drin. An einem Abzweig sehe ich die erste und einzige Entfernungstafel des ganzen Laufes: 30 Kilometer steht auf kleinem, unauffälligen Schild (zu meiner Freude stimmt das mit der GPS-Anzeige bis auf 200 m überein!). Sollte es weitere gegeben haben, dann sind sie einfach zu klein, um wahrgenommen zu werden. Da ich bei 40 km aufmerksam danach suchte und keines fand, unterstelle ich, dass nicht mal in 10 km-Intervallen markiert war. Mir mag kein Grund einleuchten, der die Markierung mit ausreichend großen Kilometertafeln, alle 5 km, als zu große Bürde erscheinen ließe. Frage an die Organisation: Warum fehlen die Tafeln?

30 km gelaufen und 2:41h verbraucht. Ich verbinde einstweilen keine Prognose mit der Zwischenzeit. Sie offenbart die gegenüber der flachen Anfangspassage deutlich gesunkene Geschwindigkeit, was niemanden wundert, der diese „Achterbahn“ durch den Schwarzwald kennt. - Das Waldstück ist zu Ende, übergangslos reicht der Blick weit Richtung Süden über die bewaldeten Höhen des Schwarzwaldes. Der Anblick ist mir nicht lange vergönnt, denn der asphaltierte Wirtschaftsweg senkt sich zwischen Feldern und Wiesen dem nächsten Ort entgegen. Diesmal empfängt man mich mit einer Ortstafel: „Singen, Gde. Remchingen, Enzkreis“. Auf stark abschüssigen Straßen gewinnen wir den Ortskern, passieren die Kirche und lassen uns von Zuschauern in Samstagabendlaune applaudieren. Fünf Mädchenarme strecken Linderung in Form nasser Schwämme entgegen. „Mamaaa, der hat uns grad’ fotografiert!“ tönt es hinter meinem Rücken und entlockt mir ein Lächeln.

Preisfrage: Was erwartet mich jenseits des Dorfes? - Richtig! Eine Steigung im Wald (Doch vorher: Zwei Becher Cola rein und ab …). Die kühle Luft des Halbdunkels wirkt schweißmindernd, die wiederum heftige Schräge schweißtreibend. Einen Kilometer stampfen die Beine bergwärts, wird der Körper mächtig gefordert. Grund genug sich wieder einmal Mut zu machen. Wechselnde Arithmetik bemühe ich dafür: ‚35 Kilometer hab ich schon hinter mir. Bald sind es 40, die Hälfte! Nach der Hälfte wird es im Kopf einfacher! Weißt du doch!’ Oder: ‚Nur noch 25 Kilometer, dann sind 60 um, dann geht’s nur noch runter! Dann wird’s leichter! 25 Km ist doch nicht mehr weit!’ - Über solchen Gleichungen brütend erklimme ich auch den Scheitel dieses Hügels unter dichtem Laubdach. Ohne Verzug schickt uns der Kurs in die nächste abschüssige Etappe. Ich versuche Tempo zu machen, was mir nur teilweise gelingt. Die von ausgreifenden, flüssigen Schritten ausgehenden Stöße decken schonungslos die fortgeschrittene Abnutzung meines Bewegungsapparates auf. Nicht die 35 Kilometer von heute konnten das herauf beschwören, es sind die vielen harten Wettkampf- und Trainingskilometer aus sechs (!) Monaten Vorbereitung. Seit März verging kein Wochenende ohne Marathon- oder Ultrawettkampf. Ich stehe „gut im Saft“, kein Zweifel, aber nun muss bald das Finale her, die 24 Stunden von Berlin. In zwei Wochen ist es soweit und danach brauche ich wettkampffreie Zeit und Regeneration bei drastisch reduziertem Wochenpensum … Schon paradox: Ein Ultraläufer, der sich auf lauffreie oder zumindest laufarme Zeiten freut.

Ende Wald, Anfang Dorf („Untermutschelbach“), übergangslos. Die Ortschaft liegt in engem Kessel, allseitig von bewaldeten Flanken umschlossen. Jenseits der Häuser erkenne ich die schon eine Weile erwartete Autobahn A8, meine mich sogar zu erinnern, welche Aus- und Einsichten man als Autofahrer von dort hat. Zwischen den Häusern stoße ich auf den zweiten Wechsel und einen Versorgungspunkt (Exakt: Zwei Becher müssen rein …). Hier warten nicht nur die Ablösungen für die Läufer mit dem „S“ vor der Startnummer, sondern auch etliche Zuschauer. Beifall begleitet mich für Sekunden, Zuspruch mindert für eine halbe Minute das Gewicht der Beine … Dann nehme ich auch schon wieder die letzten Meter des Ortes unter die Sohlen und halte auf die Autobahn zu. Im Dorf scheint man eine Bürgerinitiative in Sachen „Autobahn“ gegründet zu haben. Auf großem Anschlag lese ich die Abkürzung einer Vereinigung und dahinter den Satz: „Neubau A8 - wir bleiben dran!“ Man kann ihnen nur Erfolg wünschen, denn das unablässige Rauschen des Verkehrs wird mit jedem Schritt lauter. Schallschutzwände gibt es keine und so dürfte der Lärm einer der am stärksten befahrenen Verkehrsadern Deutschlands Tag und Nacht über die Dörfler hinweg branden.

Unter einer Brückenkonstruktion aus rotem Sandstein wechsele ich auf die Gegenseite. Bedauern wallt auf, dass diese warm und angenehm wirkenden Pfeiler aus Natursteinen in nicht mehr allzu langer Zeit einem nüchtern kalten Betonbau weichen sollen. - Aufwärts. Undramatisch, sanft, aber aufwärts, einen asphaltierten Radweg nutzend. Die Wipfel der Bäume lassen keine Sonne zum Talgrund durch. Seltener wische ich mir Schweiß aus Stirn und Nacken. Suchend wandert der Blick voraus. Wenn es sie gibt, dann müsste sie bald auftauchen, die 40 Km-Tafel, meine GPS-Anzeige verrät es mir. Vergeblich halte ich Ausschau, bestimme die Zwischenzeit letztlich in Bezug zur Sattelitenpeilung meines Forerunners: „Ca. 3:40h für 40 Kilometer“ sagt der. Also war ich seit der letzten Zwischenzeitnahme mit knapp 6 min/km unterwegs. Nicht schlecht, bedenkt man Profil der Strecke und Zustand meiner Beine.

Ein Damm mit Grasböschung begrenzt Sicht und Tal, liegt wie ein Riegel quer zum Laufweg. Ich vermute einen aufgestauten Weiher dahinter. Der Kurs knickt nach rechts, durch ein Wäldchen, martert für zwanzig Meter mit brutaler Steigung, um dann die Dammkrone zur Querung des Tälchens zu nutzen. Nichts befindet hinter dem Damm. Für Sekunden wähne ich mich auf stillgelegter Bahntrasse. Doch der Damm endet vor bewaldetem Abhang und so nehme ich seine mutmaßliche Bestimmung als ungelöstes Rätsel mit …

Durch seltene Waldschneisen fällt goldgelbes Licht, hüllt kurze Abschnitte des Weges in zauberhafte Abendstimmung, macht die Mühsal des Laufes immer wieder vergessen. Dazu wieder einmal der Duft von Heu, der außerhalb der Wälder beinahe ständig die Nase kitzelt. Ich leide und genieße zur selben Zeit. Mal mehr vom einen, dann stärker das andere. Ich erlebe auch Momente in denen ich am liebsten stehen bliebe. Augenblicke in denen sich Wahrnehmungen von Schwäche, Schmerz, Völlegefühl im Magen, laufender Nase, rinnendem Schweiß zu völliger Unlust addieren. Ein „blöder“ Stein auf den ich trete, leicht umknicke, kurz den Takt verliere, kann solche Phase auslösen. Aber ich fange mich rasch wieder, denke die „Sache“ entschlossen zu Ende: ‚Ich halte durch! Ich packe das! Nur noch 38 Kilometer! Nicht mal mehr eine Marathonlänge!’

Aufwärts, aufwärts, nur selten ein Stück eben, das bleibt auch innerhalb der nächsten Ortschaft so („Karlsbad“). „Nach links und dann die zweite Straße rechts!“ ruft mir jemand zu. Ein Offizieller? Eher nicht, wahrscheinlich ein hilfreicher Zuschauer. Jedenfalls stimmt seine Wegweisung und unter vielen Richtungswechseln arbeite ich mich aufwärts durch Wohnstraßen. „Naaaa? Beine auch schon etwas schwer?“ Begleitet von radelnder Gefährtin tänzelt der Blaue leichtfüßig vorbei. ‚Was bist denn du für ein gut gelaunter Depp? Natürlich sind die Beine schon schwer nach 45 Kilometern!’ Mein Mund öffnet sich nur zum Atmen, bleibt stumm. Frage mich stattdessen, welche Absicht einer mit solch dummem Spruch verfolgt. Das ist eine meiner Schwächen: Wenn sich jemand äußert, unterstelle ich immer einen Sinn, einen „guten Grund“ zu reden. Vielleicht wollte er einfach nur witzig sein, vielleicht nicht mal das. Anspornen sicher nicht. Wie kann man jemanden motivieren, dem man „müde Füße“ einredet? Wollte er durch laxe Rede seine überlegene, lockere Laufweise unterstreichen, um sich selbst damit anzustacheln? - Ein letztes Mal im Dorf nach links und in abrupt brutaler Steigung auf einen Waldrand zu. Davor, im letzten roten Schimmer der Abendsonne, stärke ich mich zum x-ten Mal mit dem dunkelbraunen, lauwarmen Inhalt zweier Becher. Boaaah! In dieser Steigung antraben, mit prall gewölbter Bauchdecke. Das ist „verdammt“ ekelhaft und anstrengend. Schlussendlich komme ich in Tritt, sehr langsamen Tritt. Aufstoßen, einmal, zweimal, aber vorsichtig, dass es mir nicht hochkommt. Kein guter Regieeinfall, eine Tränke vor oder an einer solchen Steigung einzurichten!

Oben, wieder einmal, und wieder abwärts, wenig abschüssig, gut zu laufen. An Fotografieren ist nur noch selten zu denken. Meist fehlen Motive, zudem ist die Dämmerung unter den Bäumen bereits weit fortgeschritten. Einmal scharf rechts und endlich auch ein ebener Abschnitt. Ein Stück voraus gewinnt eine Hütte Kontur, daneben Autos, Menschen, spielende Kinder. Zunächst vermute ich Läuferbegleitung, trabe wenig später aber an einem rauchenden Grillplatz vorbei. Eine Horde Halbwüchsiger hat sich an die Fersen meines Vordermannes geheftet, scheint begleiten und dabei anfeuern zu wollen. Hundert Meter umschwärmen sie ihn kreischend, lassen ab, fallen zurück. Dann bin ich heran und habe eine der Kletten für zehn Meter am Trikotzipfel hängen. Eigentlich ist ihr der Läufer von Herzen gleichgültig. Die gebrüllten, leeren Formeln sollen einfach eigenen Übermut abbauen helfen. Überschüssige Energie, die raus muss … Wie ein nasser Hund schüttele ich die Nachwehen der „Attacke“ ab und kehre in die Ruhe des Waldes zurück. Vogelgezwitscher - schon bisher auf allen Waldpassagen willkommene vielstimmige Begleitung - dringt wieder durch.

Eine Lichtung öffnet sich, eine Straße gilt es zu überqueren und wenig später eine ungesicherte, elektrifizierte, einspurige Bahnlinie. Außer meinen Schritten ist es still. Würde ich das Nahen eines Zuges hören? Und dann beschäftigt mich eine weitere Frage: ‚Wieso ist eine einspurige, offensichtlich minder wichtige Bahnlinie mitten im Schwarzwald elektrifiziert und andere, viel befahrene, auch doppelgleisige Strecken bundesweit nicht?’ Dieses Fragezeichen bleibt, dafür verschwindet das erste im typischen Rauschen eines herannahenden Zuges. Das Quietschen und Schleifen eiserner Räder in Geleisen erreicht mich auch durch hundert Meter Baumreihen. Der Bahnübergang scheint also ungefährlich - jedenfalls so lange keiner mit Ohrhörern und lauter Musik unterwegs ist.

Nach einem Versorgungspunkt (Stimmt: Zwei von Udo geleerte Becher bleiben zurück.) entlässt mich der Wald in eine fast flache Wiesenlandschaft. Buschgruppen und einzeln stehende Bäume zeichnen sich vor pastellfarbenem Abendhimmel ab. Tag und Nacht ringen um die Vorherrschaft, aber jeder weiß wie Abenddämmerung endet. Dennoch hoffe ich meine Stirnlampe noch einige Zeit nicht einschalten zu müssen. Einstweilen, zwischen Feldern, brauche ich mich darum nicht zu sorgen. Die nächste Zwischenzeit wird fällig, 50 Kilometer liegen hinter mir. 4:43h lese ich ab, war also auf den letzten Kilometern etwas langsamer als 6 min/km unterwegs. Wird diese Tendenz anhalten? Geht mir schleichend die Kraft aus? Der Wunsch unter acht Stunden zu finishen bröckelt. Hätte ich mir zu diesem Zeitpunkt das Profil der letzten 10 Kilometer ins Gedächtnis gerufen, wäre meine Prognose zuversichtlicher ausgefallen, ging es doch überwiegend bergauf.

In heftigem Gefälle strebe ich der Mitte eines Ortes zu, beschleunige meine Schritte auf ein gerade noch erträgliches Maß. „Wo sind wir hier?“ fragt ein Läufer hinter mir Passanten. „In Ittersbach!“ Drei Glockenschläge vom Kirchturm - 21:45 Uhr - begleiten mich durchs Dorf. Noch immer auf abschüssiger Bahn passiere ich zwei hässliche, „blitzgeladene Starenkästen“ und das Ortsschild. Scheinwerfer vorbei fahrender Autos zeichnen schon deutlich sichtbare Lichtkegel auf die Straße. Lange kann ich das nicht beobachten, weil sich der Weg freiem Feld zuwendet - selbstverständlich bergwärts. Wieder ein Stützpunkt, wieder fülle ich mir den Bauch. Verhalten rülpsend entferne ich mich, halte jedoch noch mal kurz für ein paar Fotos. Durch Wiesen, vorbei an Feldern, entlang einer Koppel mit friedlich in letztem Licht grasenden Pferden, sanft, aber unablässig aufwärts. Ein bisschen Fluchen ist dann auch mal angesagt, als mich kullernde Steine auf einem schlechten Wegstück zu einer Art Eiertanz zwingen.

Nächster Ort, von gelber Tafel benannt: „Langenalb“. Der Name ist Programm: Ziemlich lange wetze ich über Fahrbahnen, Bürgersteige, Plattenwege und finde mich plötzlich in einer Art Innenhof wieder. Dörfliche Abendstille weicht vielstimmigem Remmidemmi, denn ich stehe vor dem dritten und letzten Wechsel. „Stehen“, weil ich natürlich wieder trinke. Bevor ich mich prall gefüllt davon mache, bekomme ich noch mit, dass man meine Startnummer notiert. Die letzten Häuser liegen keine zweihundert Meter zurück, als mich der nächste Wald verschluckt. Ein wenig Streulicht erhellt den Weg noch, gerade so viel, um Hindernisse sicher zu erkennen. Also keine Stirnlampe! Ein paar hundert Meter weiter, hinter einer Wegbiegung höre ich Rufe, erkenne dann im letzten Büchsenlicht, wie eine Gruppe von Läufern den Forstweg nach rechts verlässt. Wie es scheint waren sie im Begriff sich zu verlaufen und wurden lauthals auf den rechten Weg geholt. Verlaufen scheint mir an dieser Stelle schlechterdings nicht möglich. Die Markierung zeigt eindeutig nach rechts, außerdem ist der Forstweg mit durchgehendem, weißem Querstrich „abgeriegelt“. Ein Pfad, steinig, von Wurzeln durchsetzt, holprig, führt in eine Senke. ‚Zu gefährlich ohne Licht!’ Im Stehen, mit fahrigen Bewegungen und glitschig feuchten Fingern nestele ich die Stirnlampe aus der Handgelenkstasche. Ein gar nicht mal einfacher Dressurakt. Mein ‚Bitte funktionier!’ fliegt als Stoßgebet gen Himmel. Und dann leuchtet sie, alles in Ordnung! Das übelste Wegstück fordert volle Aufmerksamkeit, zumal das fahle Licht aus vier Leuchtdioden kaum Konturen heraus arbeitet. Die Pfadspur wird flacher und feuchter, zuletzt sogar matschig, gibt mich aber endlich frei und auf einwandfreiem Waldweg weicht die Spannung.

Es ist stockdunkel hier, die Lampe bleibt an. In den nächsten Minuten ermittele ich nach der Methode „Versuch und Irrtum“ den bestmöglichen Winkel für den Lichtkegel. Dann ist nichts mehr zu tun und leider auch nichts mehr zu sehen … Stur renne ich hinter meinem Lichtkegel her. Den vorbei preschenden Staffelläufer betrachte ich als willkommene Abwechslung. Fünf Minuten, dann zehn … Etwa 58 Kilometer müssen hinter mir liegen und es geht samt und sonders bergab. ‚Hab ich den Punkt schon erreicht, ab dem es nur noch runter geht? Vielleicht. Egal. Bald 60 im Sack, dann geht’s ganz sicher nur noch runter!’

Schwacher Lichtschein voraus, wird intensiver, stellt sich als Straßenbeleuchtung heraus. Keine Markierung am Boden, also weiter gerade aus. Erste Zweifel auf dem richtigen Weg zu sein keimen, verstärken sich, als vor der Einmündung in eine übergeordnete Straße noch immer kein Pfeil zu sehen ist. Aber direkt am Scheitel der spitzen Kehre prangt er unübersehbar, weist nach links. Vorbei an einem Gasthof, deren Besucher es sich schmecken und munden lassen, dann wieder in einen Seitenweg und schon stehe ich vor der für mich zuständigen „Gaststätte“. Die üblichen zwei Becher und ab … Ein Stück Banane hab ich irgendwann probiert, das lag mir allerdings sehr lange im Magen, drum setze ich nur noch auf Flüssiges. Über das Flüsschen „Alb“ verlasse ich den Ort („Marxzell“) und schlüpfe in das schwarze Nichts der nächsten Waldung. Minute um Minute vergeht ohne gesicherte Wahrnehmung. Ich habe den Eindruck unweit des Waldrandes zu laufen, denn von rechts dringen Autogeräusche einer nahen Straße heran. Wieder wird mir deutlich, dass man Gefühle nicht erinnern kann. Man weiß, wie schön oder unangenehm etwas war, das Gefühl selbst lässt sich jedoch nicht wach rufen. Ich wusste, dass ich die Dunkelheit nicht mag, dass sie mir in Biel überaus hässliche Stunden bereitete. Jetzt ist dieses Gefühl wieder da! Ich kann es kaum beschreiben. Eine Mischung aus Unlust, Verlorenheit, Sinnlosigkeit, Einsamkeit - bedrückend, belastend, grässlich. Das durch fortgeschrittene Ermüdung ohnehin verschlechterte Tempoempfinden geht vollends den Berg runter. „Den Berg runter“ - laufe ich runter, eben oder gar sachte aufwärts? Nur selten kann ich das ohne Bezugspunkt sicher bestimmen.

Kilometer um Kilometer geht das so. Ich hangele mich von einem rot-weißen Markierungsband zum nächsten, achte voll konzentriert auf Abzweige und die sperrenden, weißen Striche. In der Schwärze verlaufen? Einen schlimmeren Läufer-Albtraum kann ich mir nicht vorstellen. Nach gefühlter Ewigkeit, die real um die 20 Minuten dauert, lasse ich mich wie eine Motte vom Lichtschein der nächsten Versorgungsstation anziehen. Trinken, für Sekunden auch was sehen können, das schwarze Nichts im Kopf ein wenig ausleuchten … Blick auf die Anzeige: 64 Kilometer geschafft. Und ab: ‚Nur noch 16, nur noch 16!’ Ein schmaler, von eisernen Geländern gesicherter Steg bringt uns über den Hades (kann auch ein Bachlauf gewesen sein). Dahinter wieder dasselbe Nicht-Bild: Stockdunkler Wald, Forstweg, rot-weiße Bandmarkierungen, abwärts … oder auch nicht. Bin ich schneller geworden, da jetzt Anstiege fehlen? Kann es nicht einschätzen. Irgendwie weiß ich gar nichts mehr, mit einer Ausnahme: Ich will ans Ziel, um diese Unlust nicht mehr ertragen zu müssen! Ich hatte gehofft, dass mich das Schlussstück dieses Laufes nicht anfechten würde, da doch höchstens zwei Stunden Dunkelheit vor mir liegen. Hatte geglaubt, ein Schimmer von Helligkeit und Sterne am Himmel würden genügen, um den Spaß an der Sache zu konservieren. Ich habe mich getäuscht.

Dankbar lasse ich mich überholen, genieße Staffelläufer als Bezugspunkte, die sich langsam entfernen und mir wieder ein Gefühl von vorhandenem Raum vermitteln. Wieder allein, wieder nur der fahle, unstete Lichtkegel vor mir, Autogeräusche von rechts, nicht weit weg, nichts sonst … Ich lenke mich mit Rechenaufgaben ab, kalkuliere die ungefähre Position, ermittele die restliche Distanz, multipliziere mit 5:30 min/km. Wieder ein Lichtschein voraus, wie vermutet ein Versorgungspunkt. Trinken und ab, will’s einfach hinter mich bringen. - Auch das noch: Mein Unterbauch meldet sich. Leichtes Drängen setzt ein, verstärkt sich etwas, vergeht wieder. DAS fehlte mir noch, mitten in der Nacht. 68, 69 Kilometer müssen um sein. Ich schalte jetzt ab und zu die Anzeigenbeleuchtung ein, will die 70 nicht verpassen. Schließlich lese ich 70 Kilometer und hierfür verbrauchte 6:37 Stunden. Bin also schneller geworden! Mit einiger Gewissheit werde ich dieses Tempo auch ins Ziel bringen. Ein Schuss Freude erhellt das Dunkel in meinem Kopf: Ich werde unter acht Stunden das Ziel erreichen - sogar deutlich!

Der Wald tritt zurück, die Straßen eines Ortes („Ettlingen“) nehmen uns auf. Ich habe nicht die mindeste Vorstellung davon, wo ich mich befinde. Weder horizontal, noch vertikal. Ist das schon Karlsruhe, ein Vorort, Stadtteil? Müssen wir noch weiter runter? Zunächst laufe ich parallel zu einer Bahnlinie, biege dann ins Innere des Ortes ab und trinke noch einmal. „Welcher Kilometer?“ fragt ein Läufer. „72!“ antwortet der Mann hinterm „Tresen“ und fügt ein „Nur noch acht Kilometer!“ an. Ich bin schon wieder unterwegs. ‚Wenn das stimmt, dann werde ich wenig länger als 7:35 Stunden brauchen!’ Diese Nachricht und natürlich auch die ausgeleuchteten Straßen des Ortes haben meine Stimmung stabilisiert. - Eine Horde Jugendlicher beiderlei Geschlechts, keine (-r) älter als 16, bricht grölend aus einer Seitenstraße. Eindeutig besoffen. Was machen junge Menschen um Mitternacht in den Straßen einer Stadt, dazu betrunken? Ich denke an die Eltern. Viele von ihnen werden bereits nichts ahnend und friedlich in ihren Betten schlummern … Eine der Dumpfbacken meint mir noch ein wenig ins Ohr brüllen zu müssen, rennt ein Stück mit: „Schnälla, schnällaa, schnällaaaa …“ bleibt dann stehen und lacht sich halbtot in seinem Delirium. ‚War ich in dem Alter auch so blöd? Na vielleicht nicht auf diese Weise, dafür anders …’

Der Ortsteil - wovon auch immer - liegt hinter uns. Immer heftiger gebärdet sich das Rühren im Unterbauch. Zwei, drei Becher zu viel getrunken, so viel ist klar. Der Darm konnte das viele Wasser nicht vollends absorbieren. Das ist jetzt kein Witz: Ich rede mit meinem Bauch, versuche ihm noch eine halbe Stunde Geduld abzuschwatzen. Schmeichle, lobe ihn für sein Durchhalten, bedanke mich für die Mitarbeit, bitte um Aufschub ... - Selbstverständlich unterliegen solche Körpervorgänge nur bedingt bis gar nicht willkürlicher Steuerung. Aber vielleicht kann ich über die Gedanken, die Psyche, ein Einlenken erreichen. Tatsächlich scheint Ruhe da unten einzukehren - noch sechs Kilometer. Die Strecke nutzt jetzt einen Radweg neben einer Straße. Wieder nur Dunkelheit, aber wenigstens einwandfrei zu laufen. Und hinter den Bäumen in - na ja, vermutlich westlicher Richtung, wenn meine Orientierung stimmt - präsentiert sich der Himmel heller, vermutlich vom Streulicht der Großstadt. Links ab. ‚Achte auf die Pfeile! Bloß nicht verlaufen! Da ist einer!’ Der asphaltierte Weg beschreibt eine Kurve - keine weitere Markierung - ich schwenke die Lampe hin und her - nichts. Neben mir ein Damm. Ist das ein Damm? Weiter voraus, scheinbar auf dem Damm schwacher Lichtschein. ‚Muss ich da vielleicht rauf?’ Bevor mich Zweifel zu einer Kurzschlusshandlung verleiten können, finde ich den nächsten Pfeil und der zeigt in Richtung einer Rampe, die mich auf den Damm (?) bringt.

Da vorne geht’s nach links, ein Läufer biegt ab. Ich kontrolliere den Pfeil, wende mich gleichfalls nach links, achte nicht auf den Weg, trete auf den Rand des Asphalts und komme ins Straucheln. Ich fange mich ab, wobei ein gewaltiger Ruck durch den ganzen Körper geht. Und der hat die Faxen jetzt endgültig dicke, kündigt schlagartig den vorhin geschlossenen Vertrag und entwickelt Druck. Entsetzlichen Druck! Ich schaffe es gerade noch am Lichtschein des letzten Verpflegungspunktes vorbei zu kommen (hier hätte ich sowieso nichts mehr getrunken). Noch ein paar Schritte in die Dunkelheit, dann nach links ausscheren, ein paar Meter durch Gras und ich stehe sinnigerweise vor einem Mist- oder Komposthaufen …

Drei, vier Minuten sind perdu - na wenn schon. Wie weit noch? Vielleicht drei Kilometer? Vier? Außer ein paar Läufern, die ich kurz vorher überholte, passierte niemand den Ort meiner Zwangspause. Die hole ich nach und nach wieder ein. Schlussoffensive? Quatsch! Da kommt niemand mehr, der mir meine (ohnehin unbekannte) Platzierung streitig machen könnte. Ich trabe weiter, entwickele nicht mehr Ehrgeiz als zu stetem Vorwärtskommen erforderlich ist. Wozu auch? Ich werde mit einer 7:3x- Zeit finishen - was will ich mehr? Die Generalprobe ist geglückt! Ich bin erschöpft, die Beine schmerzen, doch alles in allem keine dramatischen Wahrnehmungen. Noch zwei Kilometer vielleicht. Jetzt hat die Dunkelheit keine Macht mehr über mich. Zufriedenheit setzt ein. Im Finstern erkenne ich Wege, die wir am Nachmittag in Gegenrichtung nutzten. Nicht mehr weit! Höchstens noch anderthalb Kilometer. Alles Schwere fällt von mir ab, mental und körperlich. Obwohl die Strapaze anhält dringen Empfindungen von Schmerz und Müdigkeit nicht mehr richtig durch. Freude und Zufriedenheit lassen ihnen keinen Raum. Bin auf der Straße vor dem Sportplatz, biege auf den hell erleuchteten Rasen ein und verbrauche die letzten dreißig Schritte bis ins Ziel …


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