Januar 2024
Die Liste meiner Vereinszugehörigkeiten wird immer länger. Das hat mit fortschreitendem Lebensalter zu tun, anhaltender Verschiebung der Gewichte in meinem Wertekanon, ist zum Teil auch der Umtriebigkeit meiner Frau geschuldet. Mir Ines zum Vorbild nehmend schlüpfte ich vor nicht allzu langer Zeit unters Dach der Rehkitzrettung Augsburg e.V. und zuletzt des Tierschutzvereins Franz von Assisi e.V. Worauf meine Frau allerdings keinerlei Einfluss ausübte, waren Mitgliedschaften in nunmehr vier der Leichtathletik - insbesondere dem Laufen - verpflichteten Sportvereinen.
2008, als Marathonläufer bereits etabliert, suchte ich erstmals einen Laufverein und schloss mich der TG Viktoria Augsburg (Abteilung Laufsport & Triathlon) an. Damit war ich zugleich DLV-Mitglied und erhielt einen Startpass für Meisterschaften. Als mir Marathon nicht mehr weit genug war, wandte ich mich dem Ultralauf zu und trat alsbald der Deutschen Ultramarathon-Vereinigung e.V. (DUV) bei.
Das ist lange her und während vieler Jahre und reichlich Wettkämpfen schienen diese Mitgliedschaften meine Interessen zu hundert Prozent abzudecken. Weder mir noch anderen schien ich eine weitere Vereinszugehörigkeit schuldig zu sein. Auch nicht dem 100 Marathon Club, obschon ich bereits 2012 zum hundert sten Mal Marathon oder weiter gelaufen war. Mit Ablauf des gerade vergangenen Jahres 2023 standen 362 solcher Laufteilnahmen in meinem Laufbuch. Und am 1. Januar 2024 lief ich nun doch in den Hafen der Marathonsammler ein. Wie kam es zu diesem Sinneswandel? wird fragen, wer mein in jüngeren Laufberichten da und dort niedergeschriebenes Erwägen nicht kennt.
Marathon- oder ultraweite Wettbewerbe in hoher Zahl anzuhäufen war anfangs (erster Marathon 2002) und für einige Jahre danach kein Motiv, das meinen Ehrgeiz hätte anstacheln können. Allein schon aus dem einfachen Grund, weil ich es als spezielle Disziplin, als Spielart des Laufsports, gar nicht wahrnahm. Mir ging es darum auf der Marathonstrecke von Mal zu Mal schneller zu werden und meine Grenzen auszuloten. Ja, vor allem das! Als mein Limit bei etwa drei Stunden ausgereizt war, lockten mich noch längere Strecken. Auch hier entwickelte ich mich zum Grenzgänger, schulte mich in Selbstüberwindung, heimste tolle Lauferlebnisse unter wechselnden Bedingungen ein. Ständig überbot ich mich selbst an gelaufener Strecke, fasste extrem fordernde Ziele ins Auge, von deren Vorhandensein als Wettkampfdisziplin oder -strecke ich ein paar Jahre zuvor keinen Schimmer hatte. 24 Stunden lang laufen, mehr als 200 Kilometer weit, war eine der Herausforderungen. Dafür fand ich ein für mich erfolgversprechendes Trainingskonzept: Serien von Marathons oder kürzeren Ultras mit stetig wachsenden
Anforderungen. Nicht selten zwei Läufe an einem Wochenende. Aus anderer Perspektive beleuchtet: Dass sich in relativ kurzer Zeit eine erkleckliche Zahl von „M’s“ und „U’s“ ansammelte, war kein Zufall, sondern „zwangs-läufig“; war sozusagen ein Abfallprodukt meines Ultraehrgeizes, der mich zunehmend zum Marathonsammler stempelte.
Zu jener Zeit begegnete ich häufig Läufern in gelben Trikots mit schwarz-rotem Aufdruck „100 Marathon Club“. Irgendwann machte ich mich schlau, was „das für Leute sind“. Aha, Marathonsammler! Mithin Läufer, die ihre Erfolge zählen. Die sie tabellarisch auflisten, sich vielleicht auch über die so entstehende Rangfolge vergleichen und gegenseitig würdigen. Selbstverständliche Frage: Wäre das was für mich? Ohne jede elitäre Anwandlung (zu der es mir allein schon an läuferischer Potenz mangelte) kam ich zu dem Schluss: Dem „Hunderter-Club“ beizutreten ergibt für mich keinen Sinn.
Andererseits goutierte ich längst das rasante Anwachsen der Summe meiner Läufe, fand immer mehr Gefallen daran. Ganz selbstverständlich lehnte ich mich an die Zählordnung des 100 Marathon Clubs an. Dass ein Lauf „öffentlich ausgeschrieben“ sein muss empfand ich als völlig natürlich. Wiewohl ich es stets vermied
zu Trainingszwecken und solo, also nicht im Rahmen einer Veranstaltung, marathonweit zu laufen. Es hätte mir nichts „Zählbares“ eingebracht. Tatsächlich widerfuhr mir in nunmehr 21 Wettkampfjahren nur zweimal das „ärgerliche“ Schicksal Marathondistanz „als unbeobachteter Privatier“ zu übertreffen. Einmal ziemlich zu Anfang meiner „Läuferkarriere“, als ich eines herrlich sonnigen Tages ins Blaue rannte und noch keine GPS-basierte Uhr besaß, stattdessen meine Streckenlängen „post pensum“ in Google Earth ermittelte.
Lange, sehr lange, war eine Mitgliedschaft im 100 Marathon Club keine Option für mich. Einem Verein angehören, dessen Teilnehmer über ganz Deutschland verstreut sind? Dergleichen erlebte ich seit Jahr und Tag als „DUV-Jünger“. Als Parteigänger der DUV aufzutreten schien mir jedoch geboten. Immerhin nahm ich ein paarmal an deren Ultra-Meisterschaften teil, identifizierte mich überdies mit der von der DUV propagierten Förderung des Ultralaufspitzensports. Wen oder was fördert der 100 Marathon Club? Oder wenigstens: Was hätte er mir zu bieten? Die Antwort fiel mager aus. Im Grunde hätte ich lediglich die (meinem Naturell angenehme)
Anonymität des Vielläufers beendet, indem ich für alle (Lauf-) Welt sichtbar in einer Rangliste erschienen wäre. Brauche ich nicht - lautete stets meine Entscheidung, wenn mir die Idee „Beitritt“ mal wieder durch den Kopf spukte. Zumal mein lokaler Verein, die TG Viktoria Augsburg, mit reger Medienarbeit schon genug Aufhebens um meine Läuferperson verursachte. Zahllose Zeitungsartikel erschienen, ein Interview bei Radio Fantasy in Augsburg durfte ich geben und nach meinem Spartathlon-Erfolg zitierte mich Augsburg TV (a.tv) sogar vor die Kamera. Schmeichelhafter, wenngleich unterhaltsamer Medienrummel für einen, der doch nichts anderes tat als nach Gusto oft und weit zu laufen und diese Leidenschaft nie als etwas Außerordentliches oder gar Extremes empfand. Wozu dann noch in einer Rangliste geführt werden?
Lange, sehr lange bewahrte ich mir diese Auffassung. Bis eines unschönen Tages ein Virus seinen Siegeszug antrat und sich die Marathonkalender binnen weniger Tage leerten. Zu Beginn des Jahres 2020 rollte die bis zu diesem Zeitpunkt nimmermüde Roulettekugel aus: Rien ne va plus! „Rudelbildung“, egal zu welchem Zweck, war lange
untersagt. Um aktiv an der Überwindung der Covid-Misere mitzuarbeiten, war ich zudem fest entschlossen mich dem Hygienediktat unterzuordnen, seine Vorschriften eher noch überzuerfüllen. Endlich, Ende Mai, gings zaghaft wieder los, durfte ich an ein paar kleineren Veranstaltungen wieder partizipieren. Im Sommer 2020 erfasste uns wohl alle die Hoffnung auf baldige „Normalität“, auf die Wiederkehr des prallen Laufangebotes. Zuversicht, die sich mit Hereinbrechen der kalten Jahreszeit und dem Wiederanstieg der Covid-Infektionsrate rasch zerschlug. Neuerlich ging nichts mehr. Veranstalter, die noch an den Restschulden der in 2020 abgesagten Läufe zu knabbern hatten, zögerten Planungen für 2021 lange hinaus. Alsbald häuften sich Absagen und Verschiebungen.
Was nun? - Vor meinem Marathondebüt 2002 joggte ich ein paarmal die Woche, mal mehr, mal weniger, aus Spaß an der Freud, für mich und meinen Hund. Kein zielgerichtetes Training, keinerlei Vorgaben hinsichtlich Strecke und Zeiten. Solcherart läuferische Unverbindlichkeit und Susi-Sorglosigkeit infolge Pandemie wieder aufleben zu lassen hätte mein ehrgeiziges Alter Ego nicht sättigen können. Also begann ich das Internet nach Läufen zu durchforsten, die es nicht in
die üblichen Veranstaltungskalender geschafft hatten. Rasch stieß ich dabei auf die Terminliste des 100 Marathon Clubs. Zu meiner Freude fand ich darin Marathonläufe in relativer Nähe zu meinem Wohnort. Wie machen die das? Wo doch „Zusammenrottungen“ in Größenordnung auch kleinster Starterfelder zu dieser Zeit amtlicherseits noch immer untersagt waren.
Die Antwort ist zweiteilig: Zunächst muss man wissen, dass an Läufen, die von Mitgliedern des 100 Marathon Clubs ausgerichtet werden, in der Regel nur wenige Läufer teilnehmen. „Wettkämpfe“ also, die eher den Charakter eines privaten Lauftreffs besitzen, bei denen man auf Selbstversorgung angewiesen ist. Darüber hinaus ersannen findige Köpfe Regeln, die Risiken ausschließen. Einerseits das Risiko sich tatsächlich anzustecken, zum anderen gegen geltende Verordnungen zu verstoßen. Wichtigstes Merkmal: Individuelle Starts, lediglich ein großzügiges Zeitfenster war fixiert, innerhalb dessen der Lauf abgeschlossen werden musste. Die Strecke wurde per
Markierung oder gpx-Track für die Laufuhr vorgegeben. Zur Anerkennung der Teilnahme war die Übermittlung der personenbezogenen GPS-Aufzeichnung des Laufes an den Ausrichter zu übersenden. Wow! Plötzlich sah ich mich einer wahren Flut von Marathons und Ultras gegenüber. Nicht zuletzt, weil viele der Läufe als Serie mehrmals im Jahr veranstaltet werden. Damit konnte ich einerseits meinen Laufdurst stillen, zudem mein Umweltgewissen mit etlichen heimatnahen Terminen erleichtern.
Ich hätte es mir nun leicht machen können und alles beim Alten lassen. Wozu dem 100 Marathon Club beitreten? Schließlich dürfen auch Nichtmitglieder überall mitlaufen. Aber Marathon- oder Ultraläufer sind nicht dazu
ausersehen es sich leicht zu machen. Würden sie sonst Strecken unter die Sohlen nehmen, die die meisten anderen Zeitgenossen allenfalls mit dem Fahrrad oder motorisiert zurücklegen? Ich sehe das so: Man kann nicht immer nur mit völliger Selbstverständlichkeit nehmen. Nach meinem Empfinden sollte, wer kann, zumindest hie und da auch etwas zurückgeben. Außerdem: Keiner tat während der Pandemie mehr dafür das Marathonkarussell in Bewegung zu halten als die Frauen und Männer des 100 Marathon Clubs! Ihnen verdanke ich Förderung und Konservierung meiner Ausdauer in dieser durchgedrehten Zeit. That’s it! Hauptsächlich aus diesem Grund bat ich schlussendlich doch um Aufnahme in die Gemeinschaft der
Marathonsammler. Und damit darf ich mich weiterhin bedenkenlos zu allen Läufen schicken, die im Kalender des 100 Marathon Clubs verzeichnet stehen. Untreu
werde ich dadurch niemandem. Nicht meinem Heimatverein, für den ich auch künftig an den Start gehen werde und nicht mal mir selbst. Die Laufwelt - und nicht nur die - ist nicht mehr dieselbe wie vor 2020.
„Zu einem geglückten Reifungsprozess gehört der freundliche Abschied von Illusionen, und es ist eine große und vornehme Kunst, Hoffnungen zur rechten Zeit aufzugeben und Träume früh genug der Realität anzupassen.*“ - In diesem Sinne verabschiedete ich mich im letzten Jahr von exorbitanten Ultrastrecken. Mindestens mal von allen Zielbändern, die jenseits der 100-Kilometer-Marke aufgespannt werden. Auch in dieser Hinsicht bewerte ich meinen Beitritt als
folgerichtig. Was über viele Jahre „Abfallprodukt“ war, das Sammeln von Marathons, oder: bewusst die Zahl zu Buche stehender Läufe zu mehren, mich davon motivieren zu lassen, wurde mit zunehmendem Alter mehr und mehr zum „Läuferlebensinhalt“. Wo könnte ein „M70er“ sonst noch reüssieren? Okay, da und dort vielleicht auf dem Treppchen der Altersklasse. Das war jedoch nie wirklich treibendes Motiv und nun erst recht nicht mehr, da schon anzukommen
mir nicht selten Platz eins garantiert … Jetzt also eher Quantität statt Qualität. Auch als Sammler werde ich nicht in die Phalanx der wirklichen Giganten vorstoßen können. 800, 900 oder gar mehr als tausend Läufe, dazu wird es nicht mehr annähernd reichen. Wie denn auch für einen, der seinen ersten Marathon im Alter von 48 Jahren lief? Aber mir vielleicht im nächsten oder übernächsten Jahr die Vierhundert erkämpfen, danach eventuell die Schnapszahl 444 ins Auge fassen - das ist doch auch schon was. Genug jedenfalls, um meinem Ehrgeiz für den Rest des Läuferlebens genügend Ziele bereitzustellen …
*) Das Zitat stammt aus einem Artikel, den die Schriftstellerin Ildikó von Kürthy verfasste. Er wurde in der Süddeutschen Zeitung vom 30. Dezember 2023, unter der Überschrift „Glück, eine Pose“, publiziert.