Alles robuste Wirklichkeit. Zum Beweis muss mich niemand zwicken. Harter Asphalt unter den Sohlen und nach fast fünfzehn Laufkilometern müde, hie und da zwickende Beine legen hinreichend Zeugnis ab. Fünfzehn Kilometer im Bundesstatt Utah, United States of America, auf der Straße 128, die Hälfte Richtung "East", dann zurück auf "128 West". Klingt
nüchtern und passt so gar nicht zur Traumkulisse um mich her. Ich bewege mich im Tal des Colorado River. Rotes Gestein, rote Erde, blauer Himmel, trüb und hellgrün der gemächlich strömende Fluss. Felsformationen wie aus einem Westernklassiker beherrschen die Landschaft, seit sich in Höhe der Ranch die enge Schlucht des Colorado zu einer weiten Senke öffnete. Welche Ranch? Ach so, ja, ich sollte meine Begeisterung zügeln und besser chronologisch erzählen ...
Freitag, 16. November 2012, ca. 10:30 Uhr. Vor ein paar Minuten ist Ines auf ein Pferd gestiegen und weggeritten. Inzwischen habe ich mich meiner warmen Überbekleidung entledigt und laufe los. Weder Route noch Dauer sind fix, erst einmal auf der Straße 128 und entlang des Colorado River. Kommt Strecke, kommt Rat. Ich will "zügig" laufen, aber maximal so schnell, dass es pures Vergnügen bleibt. Die ersten Laufschritte seit sechs Tagen, seit dem Marathon in Santa Barbara, fühlen sich "ungelenk" an. Das liegt am vielen Sitzen im Auto und der ausschließlichen Funktion als Tourist. Meine Beine klagen auf ihre Weise über Unterbeschäftigung. Nach fünf Minuten Einlaufen ist die Wiedererweckung des Läufers abgeschlossen und einstweilen verschwende ich keinen Gedanken mehr an laufspezifische Parameter. Die fantastische Umgebung nimmt
mich ganz und gar gefangen. Alle paar Minuten unterbreche ich den Jogg, um Perspektiven in Fotos festzuhalten. ... Habe ich ein paar Fragezeichen hinterlassen? Etwa wo genau wir sind, wie wir hierher kommen und wieso Ines sich meiner "Kontrolle" auf vier Hufen entzogen hat?
Für zwei Nächte haben wir in der Kleinstadt Moab im Bundesstaat Utah Station gemacht. Vorgestern stand der "Arches Nationalpark" auf dem Programm, gestern zunächst der "Deadhorse Point State Park" und anschließend der
"Canyonlands National Park". Natur, die einem erst den Mund offen stehen lässt, ihn anschließend verschließt, weil sich dieser Teil der Schöpfung jeglicher Beschreibung entzieht. Farben, Vielfalt von Fels- und Erdformationen, überraschende Aus-, Weit- und Tiefblicke, geologische Gigantomanie,
auch im engeren Wortsinne unbeschreiblich. Sprache kann es dir nicht vermitteln, Fotografien nur sehr begrenzt. Und in diesem Landstrich will sich Ines einen Lebenstraum erfüllen. Zu Beginn des Urlaubs wusste sie weder wo, noch wann, nur so viel mit aller Inbrunst: Wenigstens einmal im "Wilden Westen" reiten! Jetzt sitzt sie auf "Big Red", einem sogar für mein pferde-neutrales Auge bildhübschen Fuchs.
Die Straße 128 hat sich vom Colorado entfernt. Mangels Alternative bleibe ich dem Asphalt verbunden. Nur selten rauschen Autos oder Trucks auf der relativ unbedeutenden Nebenstraße vorbei. Trotz Flussnähe erstreckt sich beidseits der Straße karges Land. In rotem Sand wurzeln kleinwüchsige, graugrüne Büsche, sehr auf Abstand bedacht, um überleben zu können. Man ahnt die unerträgliche Sommerhitze sogar jetzt im November, da nach der von Monstersturm Sandy verursachten, kontinentalen Schlechtwetterperiode noch Schneereste auf Nordabstürzen liegen. Ja, für meinen Geschmack dürfte es gerne wärmer sein, wärmer als die 10°C, die ein bedeckter Himmel heute zulässt. Immerhin zeigen sich da und dort schon blaue Flecken am Himmel. Vielleicht hat die Sonne sich nicht den ganzen Tag frei genommen und bringt die Szenerie bald zum Leuchten. In dieser Gegend
könnte man Filme drehen, Indianer auf Mustangs gegen US-Kavallerie reiten oder mexikanische Desperados auf rechtschaffene Cowboys schießen lassen. Ob Ines diese Ausblicke auch genießt, auf ihrem "Big Red"?
Mit zwei anderen Reitgästen folgt sie dem "Wrangler" auf den Spuren von John Wayne. Offensichtlich hat die Emanzipation auch vorm harten Ranch-Alltag nicht haltgemacht, denn ihr Tourguide ist eine Frau. Vom Geschlecht abgesehen, entspricht sie vollkommen dem Cowboy-Klischee: Dunkelblaue Jeans, Weste, gefährlich spitze Lederstiefel mit Absätzen und Sporen, dazu der unverzichtbare creme-beige Stetson auf weiblich langem Haupthaar. "Big Red" macht Ines' jahrelange Reiterfahrung überflüssig. Nach Kurzeinweisung durch "die" Wrangler könnte sogar ich den Zossen durch die Halbwüste lenken. Perfekte Ausbildung und lammfrommes Wesen dieser Pferde geben jedem reiterischen "Newbie" Sicherheit und Reitfehler macht Big Red vermutlich mit seiner Pferdeintelligenz mehr als wett. "Big Red" und Wrangler gehören zur "Red Cliff Lodge", einer in mehrerlei Hinsicht bemerkenswerten Bilderbuch-Ranch.
Eine rote Sandpiste zweigt mit leichtem Gefälle Richtung Colorado ab. Das Schild am Straßenrand verweist auf Stromschnellen und eine Möglichkeit Boote zu Wasser zu lassen. Kurzentschlossen gönne ich mir den Abstecher und stehe Minuten später am Ufer. Vor meinen Füßen zieht der Colorado ruhig vorbei, sprudelt ein paar Meter flussabwärts munter über Untiefen, um sich dahinter wieder vornehm träge in seinem Bett zu wälzen. Ich will zurück zur Straße und entscheide mich für ein trockenes Flussbett. Irgendwann ist der Gedanke einfach da: Gehe ich ein Risiko ein? Was ist mit Klapperschlangen? Nicht lachen! In den Wüsten des Westens gibt es Klapperschlangen. Pferde scheuen vor ihnen zurück und werfen ihre Reiter ab. Cowboys schießen den rasselnden Biestern mit "Colt" oder "Rifle" den Kopf weg. Kennt man doch, hat es in einschlägigen Western häufiger gesehen. Zum Beißen ist es ihnen heute aber sicher zu kalt, falls es die Viecher tatsächlich hier geben sollte (was ich aber nicht glaube*).
*) Tatsächlich kommen Klapper- und andere Giftschlangen überall im Westen der USA vor, also auch in Utah. Wie alle anderen Schlangen ziehen sie es jedoch vor, sich bei Gefahr rechtzeitig zu verkriechen, weswegen Begegnungen ... insbesondere auf touristisch häufig begangenen Pfaden ... eher Seltenheitswert haben dürften.
Es ist noch nicht lange her, dass der "Wash" ... so bezeichnet man ein trockenes Flussbett ... Wasser führte. An verschiedenen Stellen ist die Erde noch dunkelrot feucht. Ich mag mir gar nicht vorstellen, welche Unmengen Wasser der Himmel ausschütten muss, damit es in dieser extrem trockenen Gegend in einem stellenweise metertiefen Bett zusammen läuft. Es wird tiefer, zugleich enger und endlich, an einer Brücke, kehre ich auf die "128" zurück.
Die Gegend ist nicht flach. Mehrmals überwindet die Straße Hügel. Hinter dem nächsten wird eine weitere Ranch sichtbar. Pferde fressen sich über eine weitläufige Graskoppel. Gras? In der Halbwüste? Bewässerung heißt das Zauberwort und Wassermangel scheint man hier, am Oberlauf des Colorado, ganzjährig nicht zu kennen. Ich schaue auf
die Uhr. Noch etwa zehn Minuten bleiben mir zum Entdecken, dann sollte ich umkehren. Die Straße hebt sich ein weiteres Mal, schneidet zuletzt durch einen rotbraunen Riegel. Dahinter wird der Blick freier. Das Tal weitet sich immer mehr. Plötzlich zweigt eine schnurgerade Piste nach Südosten in Richtung der hohen, schneebedeckten "La Sal Mountains" ab. "Onion Creek 2" steht auf dem kleinen grünen Wegweiser. Ich werfe einen sehnsüchtigen Blick in die lockende Ferne und ... bringe mich mit einem Satz vor einem wild heran röhrenden Truck in Sicherheit. Der weicht dann zwar großräumig aus, doch das weiß man schließlich nicht vorher.
Ich kehre um. Wenn Ines von ihrem Ritt zurück kommt, möchte ich sie frisch geduscht und fotografierend empfangen. Fragen kostet nichts dachte ich mir: Im Saunabereich der luxuriösen Red Cliffs Lodge (Zimmerpreis in der Hauptsaison bis zu 300 Dollar pro Nacht) darf ich duschen. Sogar ein Duschlaken stellt mir die zuvorkommende Rezeptionistin zur Verfügung. Der Himmel hat sich endgültig entschieden auf überwiegend Blau umzuschalten. Häufig lässt die Sonne die Tafelberge in sattem rot erglühen. Bisher
gesammelte Bilder sind mir nun nicht mehr gut genug. Häufiger als auf dem Herweg unterbreche ich den Lauf, um malerische Ausblicke plastischer und bunter neuerlich abzulichten. Dazwischen versuche ich auf mein anfänglich zügiges Tempo zu beschleunigen, was mir zunehmend schwerer fällt. Obwohl er auf der zweiten Hälfte nicht mit der erhofften Leichtigkeit gelingt, genieße ich meinen Lauf. Jede Sekunde. Was für ein Traum in dieser Umgebung unterwegs sein zu dürfen!
Nach einer (durchaus gern) gefühlten Ewigkeit taucht voraus mein Ziel auf, die Red Cliffs Lodge. Dahinter, Richtung Moab, verengt sich das Tal des Colorado extrem. Mehr als hundert Meter hohe, senkrechte Wände aus rotem Sandstein zwingen Fluss (und Straße) in einen engen Canyon. Genau der richtige Ort, um Ines' Traum vom Ritt im Wilden Westen wahr werden zu lassen. Ein Ort ... das erfahren wir später im Museum der Ranch ... an dem schon etliche Größen des Filmgeschäfts zu Gast waren, weil ringsum die denkbar schönsten Filmkulissen "einfach so in der Gegend herum stehen". Unvergessene Streifen wurden hier in Szene gesetzt, zum Beispiel das Roadmovie "Thelma und Louise" oder der
Western "Rio Grande" mit John Wayne. Sogar die Red Cliffs Ranch selbst wirkte als
"Fort" schon in einem Western mit. Der legendäre Filmregisseur John Ford entdeckte die wilde Schönheit der Landschaft rund um Moab in den späten 1940iger Jahren. Mit und nach ihm gaben sich etliche Schauspielstars in der Red Cliffs Ranch die Klinke in die Hand. John Wayne, Maureen O'Hara, Ben Johnson, Rock Hudson, Henry Fonda, Anthony Quinn, Lee Marvin, Richard Widmark, James Stewart ... alle waren sie hier. Und nun auch wir. Ines für ein mehr als zweistündiges "Horseback Riding", um sich auf dem Rücken des ebenso wunderschönen wie braven "Big Red" ihren Traum vom Wildwest-Ritt zu erfüllen. Und ich für fünfzehn der landschaftlich spektakulärsten Kilometer meines Lebens.