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Donnerstag, 8. November 2012

Hängepartie

In der zivilisierten Welt hält sich der Zufall lange bedeckt, stapelt tief, macht seinen Einfluss eher im Kleinen, Unbedeutenden geltend; zeugte so die Legende - und sie hält sich wider alle Vernunft hartnäckig -, der Ausgang des großen Spiels unterläge vornehmlich menschlicher Willenskraft. Unsere Partie war bestens vorbereitet, Eröffnung, Entwicklung, Mittelspiel, alles glänzend vorgetragen. Wir setzten Zug um Zug, parierten gelegentliche Attacken eines scheinbar unterlegenen Gegners, wähnten uns kurz vor Endspiel und Sieg. Doch dann brachte das Schicksal (die Vorsehung? ES? Gott?) eine mächtige Figur ins Spiel und fauchte mit Ingrimm: "Schach!" Wir waren kurz geschockt, durchaus an- aber nicht geschlagen, vertagten die Runde, ersannen eine neue Variante, wollten einige Züge später und woanders zum Erfolg gelangen ... Hängepartie.

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Die Kleinstadt am Pazifik spielte beim "Travel Planning" keine Rolle. Tatsächlich wollten wir uns die komplette pazifische Küste "schenken", von dem "bisschen" Meer rund um San Francisco, dem Start unserer Rundfahrt, einmal abgesehen. Als USA-Mietwagen-Tourist hast du vieles zu lernen. Zunächst - noch daheim - eine schmerzliche Selbstbeschränkung bei der Auswahl der "Sightseeing Items". Was Ines und ich vor allem sehen wollen, ist grandiose Natur, mithin so viele Nationalparks wie möglich. In gerade mal zwei Wochen bleibt da keine Zeit für "durchschnittlich" und damit entbehrlich Schönes oder Aufregendes, eben auch nicht für Kaliforniens Küste, erst recht nicht für Monterey ... Doch nun "müssen" wir Samstag zum Marathon in Santa Barbara antreten und haben unsere Reiseroute notgedrungen angepasst. Hängepartie.

Monterey, Donnerstagmorgen ca. 8 Uhr: Wir haben in einem klassischen Motel - Auto vor der Zimmertür - am Ortsrand übernachtet und fahren die zwei Meilen bis zur Küste oder zum Strand oder der Uferpromenade. Was uns dort genau erwartet, wissen wir nicht, waren uns nur einig unser Training mit "Pazifikblick" zu verschönern. Training klingt hochtrabend, so richtig nach Leistung. Geplant sind aber nur 30 Minuten langsamer Dauerlauf, als Abschlusstraining vor dem Marathon am Samstag in Santa Barbara. Innerhalb einer Woche das zweite Marathonabschlusstraining. Der Gedanke erinnert mich noch einmal schmerzlich an den Verlust des New York Marathons ... Hängepartie.

Kurz nach dem Aufstehen laufen? Unter normalen Umständen eine Horrorvorstellung für Udo. Eine Häufung von Besonderheiten macht ihm die Unternehmung allerdings heute schmackhaft: Joggen in einer besonderen, nie zuvor gesehenen Gegend, mit Ines eine besondere Begleiterin an seiner Seite und besonders schönes Wetter - nicht wirklich warm, dafür scheint die Sonne aus überwiegend blauem, kalifornischem Himmel. Zudem werden wir ein recht zurückhaltendes Tempo einschlagen, für das sogar meine, kurz nach dem Erwachen nur schwach und begrenzt ausgeprägten "Vitalzeichen" reichen.

Auf Schleichfahrt entlang der Uferstraße wird mein Gesicht immer länger: Es gibt hier Nullkommanull gebührenfreie Parkplätze. Es ist nicht Geiz, der mich lähmt. Leider haben wir das (kinderleichte, auf Kreditkarte basierende) System der Parkuhren zu diesem Zeitpunkt noch nicht "intus". Udo - ganz und gar finanzkonservativer Europäer - geht automatisch davon aus, dass die Dinger mit Münzen gefüttert werden müssen. Ines widerspricht nicht (obschon ihr eine grundsätzliche Neigung dazu innewohnt, nur leider genau dann nicht, wenn Udo es brauchen könnte ;-) ). Und unser Wechselgeld, die silbernen "Quarters and Dimes", liegen - wie jeden Morgen - als Trinkgeld auf dem Nachttisch im Motel. Schließlich lenke ich unser Mietmobil auf den gähnend leeren Parkplatz am Yachthafen. Das geschieht in dreister Absicht mir "free parking" zu erschleichen. Zwei Tage später, in Santa Barbara, werde ich erfahren, welchen Ärger man sich auf kalifornischem Boden mit solcher Vermessenheit einhandeln kann, obschon sie dort gar nicht Anmaßung, sondern purer Unwissenheit entspringt ... Hier und jetzt nehme ich erleichtert zur Kenntnis, dass die Gebührenpflicht erst ab 9 Uhr auflebt; zu einem Zeitpunkt also, wo wir längst unter der verdienten Dusche stehen werden.

Monterey, kurz nach acht Uhr, Uferpromenade: Keine Nase zeigt sich. Merkwürdige Sache, an einem stinknormalen Arbeitstag!? Wohin jetzt? Right or left? Ein "Recreation Trail" umfasst die Bucht von Monterey, so viel wissen wir von gestrigen Internet-Recherchen. Rechts bedeutet eher Natur pur, einen Jogg entlang des "Monterey State Beach"; "Links" bietet vielleicht ein paar Sightseeing-Impressionen, weil wir einen Teil des Ortskerns "mitnehmen" können. Ines überlässt mir die Entscheidung, die damit keine mehr ist. Vor eine solche Wahl gestellt steuert mich der Automatismus "Hier-komme-ich-nie-wieder-hin-also-sehen-was-es-zu-sehen-gibt!"

Den Pazifik, die Monterey Bay, gibt's erst mal zu sehen. Über einen kleinen, sehr gepflegt, sogar ein wenig steril wirkenden Park fliegt der Blick hinaus aufs wenig bewegte Wasser. Von ein paar Wasservögeln - fliegend, dümpelnd oder am Strand stolzierend - einmal abgesehen vermittelt die Szenerie den Eindruck totaler Verschlafenheit. Kein noch so winziger Kahn zeigt sich dort draußen. Der November gehört sicher nicht zur Wassersportsaison, doch was ist mit Fischerbooten? Gibt's hier keinen Fischfang? - Wir passieren die ersten Hotels, "Monterey Plaza Hotel & Spa", "Spindrift Inn" - alles wirkt wie ausgestorben. Räkeln sich die Hotelgäste noch in den Betten oder sitzen sie beim Frühstück?

Der kleine Ort hat sich "nett herausgeputzt". Ein paar auf "alt" gequälte kleinere Läden simulieren "Western Style". Angesichts dunkelbrauner Holzfassaden samt Veranda im ersten Stock erwartet man sekündlich das Knarren von Schwingtüren zu hören, begleitet vom Klimpern der Sporen, wenn ein misstrauisch in alle Richtungen sichernder "Outlaw", die Hand reaktionsbereit überm tiefsitzenden Colt schwebend, den Saloon verlässt. Alle Anstriche wirken frisch, vielerorts locken Blumenrabatten mit bunten Farbtupfern und eine sorgsam gestutzte Parade von purpurroten Bougainvillea-Büschen wertet grau-beige Hotelmauern auf. Scharen gut situierter Rentner und wohlhabender Mittelständler flanieren über die Trottoirs, betrachten Auslagen, ergehen sich in mild würziger Seeluft. Das Sehen und gesehen werden spielt sich allerdings nur in meiner Vorstellung ab. Tatsächlich verhallt das leise Tapp-Tapp unserer Schritte beinahe ungehört. Nur hie und da wird ein Zugang geschrubbt, ein- oder ausgeladen, Monterey für den Tag fit gemacht.

Welches Hotel wohl einst damit anfing zusammengehörige Gebäude dies- und jenseits der Straße mit überdachtem Quergang zu verbinden? In den letzten Minuten haben wir mehrere der Brückenkonstruktionen unterquert. Für mich schon jetzt eine Art Wahrzeichen von Monterey. Die Flaniermeile endet abrupt in einer Linkskurve, die sich bergwärts wendet, unmittelbar vor dem weithin gerühmten Aquarium der Stadt. Bis gestern wusste ich nicht einmal, dass es hier so etwas gibt. Da eröffnete mir Ines nach Studium des Reiseführers, dass sie - wenn wir nun schon mal "zufällig" hier sind - gerne "ein paar Fische angucken" würde. Natürlich hat sie das so nicht gesagt. Die abfällige Interpretation entsprang meiner Unlust Zeit beim Starren in Wasserbecken zu verschwenden. Ich unternehme einen Schlenker zur Pforte des Aquariums. Was ich dort will, weiß ich eigentlich selbst nicht so recht, werde ohne Brille Einlasszeiten oder ähnliche Daten kaum lesen können. Die Buchstaben sind dann aber doch groß genug, um schlagartig meinen Augeninnendruck auf 100 Bar zu pushen: Sagenhafte 35 Dollar pro Person soll der Eintritt kosten!?? Sind da U-Boot-Fahrt in der Bay mit anschließendem "Whale Watching" vor Hawaii im Preis eingeschlossen, oder erwerben wir gar Aktien des Monterey Aquariums? Am Ende des kurzen Anstieges hole ich Ines ein und hechele ihr kurzatmig meine Preisinfo ins Ohr. Atemlos vom Schock und atemlos vom Hügelchen, das mir wieder einmal aufzeigt, warum (früh-) morgendliches Jogging für mich zu den grässlichsten Beschäftigungen eines hoffentlich später angenehmeren Tages gehört ...

Ines trabt munter lächelnd vor sich hin, lässt sich von der bevorstehenden 70-Dollar-Abzocke den Spaß nicht verderben. Recht hat sie! Denn "right now" entledigt sich der Himmel letzter Wolkenfetzen, verwandelt die Sonne pazifische Weiten in tintenblaue Verlockung, macht mich vergessen, wie ungern ich morgens laufe. Einerseits. Andererseits wird sich - was wir in diesem glücklichen Moment allenfalls ahnen können - das vermeintliche "Fische-Gucken" als einer der sensationellsten Museumsbesuche "ever" in mein Gedächtnis brennen. Weniger der gewaltigen Meerwasserbecken mit ebensolchen Fischen wegen. Nicht meterlange Haie oder zentnerschwere Barsche, keine saugnapfbewehrte Krake noch Schwärme silbrig glänzender, in geheimer Verabredung gleichgerichteter Flossenwesen hauen uns vom Hocker. Uns fasziniert die Präsentation von Quallen - "Jellyfish", wie der Amerikaner sagt. Die kannte ich bisher höchstens von panikerfüllten Schilderungen im Freundeskreis, aus Medienberichten, wenn ein rätselhaftes Massenauftreten Strände unbenutzbar machte oder auch als verendete Kreatur, als glibberig formlose, vom Meer aufs Land gespülte Gallertsubstanz. Das Monterey Aquarium belehrt mich eines völlig anderen!! In zig Becken inszeniert* man das geheimnisvolle Leben feenhafter Wesen, unendlich zart, anmutig schwebend, so berauschend schön, dass man sie endlich als verletzliche, schützenswerte Geschöpfe und nicht mehr als Belästigung für Badegäste begreift.

*) Unter normalen Farb- und Lichtverhältnissen wäre Jellyfish nahezu körperlos durchsichtig. In speziellen Becken, vor blauem Hintergrund, werden die Quallen mit rotem Licht angestrahlt, wodurch ihre Struktur in blassem Rosa erkennbar wird.

Vom Meer trennt uns nur noch ein schmaler, mitunter felsiger, dann wieder üppig bewachsener Streifen. Hier auf dem Uferweg gibt es mehr Leben zu vermelden als vorher in der Stadt. Früher Spaziergänger mit Hund, eine Joggerin, auch mal Radfahrer kommen uns entgegen. Die Sonne macht Laune. Plötzlich hätte ich Lust zu laufen, weiter und immer weiter der Küstenlinie folgend. Laufen und entdecken. Aber leider sind Ines und ich einstweilen nur Figuren in besagter Hängepartie, Dame und Läufer. Über mehr als ein Feld zu ziehen wäre ein Risiko. Wir werden die Kraft noch brauchen - übermorgen früh in Santa Barbara. Also zurück ...

Ich gebärde mich wie ein Paparazzo, umkreise Ines und versuche sie ein ums andere Mal mit der Kamera fotogen zu "erlegen". Um ein Haar wäre mir dabei die eigentliche, lediglich in dieser Laufrichtung sichtbare Sensation des Morgens entgangen. In einer kleinen, sandigen Bucht liegen etwa 80 Seelöwen faul und träge am Strand. Ihre entspannte Sorglosigkeit beeindruckt umso mehr, bedenkt man die unmittelbare Nachbarschaft menschlicher Ansiedlungen. Fast eine Minute Fotografieren, Schauen, Staunen gönne ich mir, um dann Ines hinterher zu spurten und sie in Höhe der ehemaligen Fischfabrik, in der jetzt das Aquarium logiert, wieder einzuholen.

Die letzten Minuten vorm immer noch leeren Parkplatz verlaufen ereignislos und grüblerisch. Wie viel von Ines Marathonausdauer blieb erhalten? Wie wird es ihr übermorgen ergehen? Wie wird es mir ergehen? In den letzten Wochen zu Hause ließ ich das Training ziemlich schleifen. Der überstandene Umzug mit seinen Wirren kam mir als Ausrede gerade recht, um öfter mal Fünfe gerade sein zu lassen. Sonst verlässlich knechtender Ehrgeiz ließ sich allzu gerne vom Gedanken an die geplante, üppige Zielzeit für New York (~ 4:15 h) korrumpieren. Nun zuckele ich hier morgens durch Kalifornien, mehr Tourist als Läufer und vermag mir auf meine Form keinen Reim zu machen. Bin sicher kein Springer mehr, der mit weiten Sätzen übers Brett fegt und Haken schlägt. Doch hoffentlich noch Läufer, wenngleich mit eingeschränkter Reichweite. Ich fürchte nicht den harten "Schlagabtausch", nicht mal ein gelegentliches "Schach!" im Endkampf der Partie, übermorgen in Santa Barbara. Nur bitte, bitte kein "Matt!", ausgerechnet beim hundersten Marathon.

 

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