Wieder trainieren wir in New York. Wieder fiel die Wahl auf die Uferpromenade am Hudson River als Laufrevier. Nur ist heute - am Tag nach dem abgesagten Marathon - irgendwie alles anders. Damit meine ich nicht, dass wir nun nordwärts laufen, um die Gestade des Hudson flussaufwärts zu "erkunden" ... der Zauber ist verflogen. Was ist "Zauber" anderes als rein subjektives Empfinden, oft auch eine Erwartungshaltung, mit einem Ort oder Ereignis verknüpft. Das so sehr, von so vielen ersehnte Lauffest fiel aus. Und an die Stelle meiner von den Medien sowie Resten jugendlicher Naivität geprägten Vorstellung von New York setzte sich klammheimlich ein Mosaik aus Beobachtungen und Begebenheiten - man nennt das "Wirklichkeit".
Apropos Realität: Die Sonne steht schon tief in unserem Rücken, als wir nach ein paar Minuten den Fußweg am Hudson erreichen. Wie gehabt: Ines vorneweg, ich fotografierend hinterdrein. Eine flotte Dreiviertelstunde wollen wir absolvieren. Nach den 20 langsamen Kilometern gestern im Central Park kommt das eigentlich einen Tag zu früh. Doch uns bleibt keine Wahl: Morgen fliegen wir nach San Francisco weiter. Vor Donnerstag werden wir vermutlich nicht mehr an unserer Ausdauer arbeiten können.
Sunset: New York hüllt sich ins weiche Licht einer barmherzigen Sonne. Stehen, fotografieren, wieder anlaufen, zu Ines aufschließen. Roter, warmer Sonnenschein relativiert vieles, bricht die harten Kanten der Hochhäuser, macht Hässliches hübscher, gibt Not einen farbigen Touch.
Nun fehlt der Zauber: Ich fand vieles, was ich zu finden hoffte. War und bin umgeben von Superlativen, bestaune Berühmtes wie Kurioses, begegne Menschen aller Hautfarben. Überall in der City blenden mich Glanz und Reichtum, verstärkt durch grelle Leuchtreklamen und Sonnenreflexe von himmelhohen Glasfassaden. Doch dann trete ich in den Schatten der Wolkenkratzer und mein Blick klärt sich, fällt nicht selten auf Armut und Not. Nicht wenige New Yorker führen einen lebenslangen, beharrlichen Kampf um Lohn und Brot, an allen Straßenecken und auch dazwischen. Auf nur hundert Metern kannst du dir an mehreren mobilen, scheinbar selbst aus Schrott und Schrauben gebastelten Fressständen den Bauch vollschlagen. Hot Dogs, Hamburger, Mexikanisches, Breakfast, Donats, Pancake, da bleiben kaum Wünsche offen. "The fastest Food you've ever got!" Nicht selten stehen zwei, drei der klapprigen Küchenkarren dampfend in der Kälte nebeneinander. Kulinarische Überversorgung, weil viele vom Dollarkuchen abbeißen wollen - nein: Abbeißen müssen!
Rad- oder Fußweg? Heute schicke ich uns auf den Radweg und prompt war's die falsche Spur, weil sie uns unter die Fahrbahn eines Highways dirigiert, ohne Aussicht und mit Rumpeln und Donnern von oben. Bei nächster Gelegenheit entkommen wir Richtung Wasser. Rasch setzt die Dämmerung ein und mich beginnt zu frösteln. Mehr anziehen? Würde ich gerne, liegt jedoch alles zu Hause im Schrank. Trainingsläufe waren ebenso wenig vorgesehen wie die Marathonabsage und deshalb begnüge ich mich mit zwei übereinander
gestreiften Trikots. Eins davon, das Finishershirt des NYM 2012, übergäbe ich am liebsten dem Feuer. Was für ein Sakrileg! Nie zuvor kleidete mich ein Fetzen, den ich mir
nicht "erdient, erarbeitet, erlaufen" hätte. Aber das Ding sieht gut aus (orange!!), fühlt sich hochwertig an und ich bin nun mal kein Verschwender. Prinzipien sind fallweise auszusetzen, wenn ihre Befolgung zum Unfug verkäme.
Die Sonne ist bereits drüben hinter den Häusern von New Jersey abgetaucht. Möwen untermalen unser Training mit ihrer hinreißenden Flugshow, zeichnen klare Silhouetten vorm Abendhimmel. Fotografieren hilft gegen Kälte - indirekt natürlich nur, weil ich nach jedem Bild hinter Ines her spurte und dabei mehr Brennstoff verheize als es ein steter Jogg erforderte. Ines kämpft. Insgesamt etwa 45 Minuten zügiges Tempo verlangt der Trainer heute. Die gestrigen 20 Kilometer waren unerwartet hart für sie, nicht zuletzt der vielen Hügel im Central Park wegen. Und Gegenwind - kalter Nordwind - bremst jeden Schritt.
Ab und zu, im letzten Büchsenlicht gerade noch auszumachen, stoßen wir auf Spuren der nun bald eine Woche zurück liegenden Sturmflut. Der Hudson schwappte über die Ufermauer und
spülte etwa einen halben bis einen Meter die Böschungen hoch. Oft ist die maximale Wasserlinie als Strich im Gras klar erkennbar, wie mit einem Lineal gezogen. Warum fällt es mir hier auf, im Halbdunkel, und wieso nicht letzten Freitag, ein paar Meilen stromabwärts? Hatte ich da noch nicht die Augen, um zu sehen? War ich gehandicapt hinter rosaroter Brille?
Einen weiteren Kilometer wehrt sich Ines tapfer gegen Wind und müde Beine, dann gebe ich das Zeichen zur Umkehr. Fortan läuft es sich leichter und wärmer. Auf dem Highway nebenan lärmt dichter Verkehr. Weit voraus verschmelzen die Hochhäuser Manhattans mit jenen am Ufer von New Jersey zur gemeinsamen Skyline. Eine optische Täuschung, aber eine reizvolle, vor allem vor den Resten von Abendrot. Will mich New York erneut verhexen? Keine Stadt der Welt ruft so gegensätzliche Empfindungen in mir hervor wie New York. Verführt in der einen Minute mit Ansichten, Stimmungen, Möglichkeiten, zeigt sich alsbald wieder von einer abstoßenden oder feindseligen Seite. Keine Stadt ist mir so sehr beides: Gut und böse, schön und hässlich, Freude und Stirnrunzeln. Der "Big Apple" zeigt zwei Seiten, die hübsche, rotbackig leckere und eine
saure, stellenweise wurmstichig faule. Ein Synonym für die allgegenwärtige Dualität der Stadt bildet der Central Park: Eine wohltuende, herrliche Oase mitten im Getriebe der Millionenstadt. Wohl gemerkt bei Tag. Nachts riskiert Gesundheit und Leben, wer sich dort blicken lässt.
Den Steg hatte ich auf dem Herweg schon ausgeguckt und nun schicke ich Ines noch die etwa zweihundert Meter Richtung Flussmitte. Von dort genießt man einen atemberaubenden Blick auf spiegelnde Fronten flussnaher Wolkenkratzer. Udo zerfällt in viele Personen und zumindest der Fotograf kann sich dem suggestiven Einfluss dieses Bildes nicht entziehen ...
Das war's. Wieder stoppt Ines ein paar Meter vor dem Hotel. Diesmal, um die erleuchtete Skyline von Midtown Manhattan auf sich wirken zu lassen. In wechselnden Farben illuminierte Antennen und Aufbauten, dazu abertausend helle Fenster. Unbestreitbar reizvoll. Lass dich nicht einwickeln Udo! Sitzt wirklich hinter jedem der hellen Fenster ein Mensch oder wird dort unnütz Energie verschwendet? Ich bin gespalten. New York spaltet mich. Ein Teil in mir will sich verführen lassen, ein anderer verweigert sich ... - Morgen verlassen wir New York. Die Stadt hat mich berührt und ich bin gespannt, welche Gefühle sie in ein paar Monaten wachrufen wird - in ein paar Monaten, wenn das alles Erinnerung sein wird.